Staatsgestaltung. Geschichte von Tyros

[122] Über die inneren Zustände der phoenikischen Städte besitzen wir nur dürftige Kunde. Bezeichnend ist, daß sich hier, ganz wie in der griechischen Welt, wirkliche Stadtstaaten gebildet haben. Das Landgebiet und seine Ortschaften sind, wie schon in der Amarnazeit und wie nachher im karthagischen Reich, Untertanen der Stadtgemeinde, diese selbst ist, wie überall in der semitischen Welt, durchaus aristokratisch gestaltet; daher das entscheidende Gewicht, das auf die Abstammung gelegt wird und in den langen Stammbäumen der Inschriften zum Ausdruck kommt. Aus den Geschlechtern geht der Rat der Ältesten hervor, der dem König zur Seite steht und seine Macht [122] offenbar wenn nicht rechtlich so doch tatsächlich stark beschränkt hat. Eine sehr selbständige Stellung werden auch die Richter eingenommen haben. Ob sie vom König oder vom Rat eingesetzt wurden, wissen wir freilich nicht; aber wie in den Kolomen erwählte Richter (šofet, lat. suffeta) regelmäßig als Jahrbeamte an der Spitze der Gemeinde stehn (so in Gaulos, Sardinien, Gades, Karthago und im übrigen Nordafrika), so sind auch in Tyros im 6. Jahrhundert zeitweilig solche Richter mit kurzer Amtsdauer an Stelle der Könige getreten. Auch den Bearbeitern des israelitischen Geschichtswerks ist, wie die Umwandlung der Sagengestalten der vorköniglichen Zeit in »Richter« beweist, die Vorstellung von derartigen Regenten mit königlicher Macht aber ohne Erblichkeit geläufig gewesen. Großes Ansehen genoß auch die Priesterschaft; in Tyros war der Priester des Melqart der nächste nach dem König258. Ob sich daraus eine volle Erblichkeit des Standes entwickelt hat wie in Ägypten und bei den Juden, wissen wir nicht; jedenfalls ist aber der unmittelbare Verkehr des Königs mit den Göttern dadurch nicht beschränkt worden.

Von den geschichtlichen Ereignissen haben wir, abgesehn von dem, was wir über Tiglatpilesers I. Zug nach Arados und seinen Nachbargebieten (um 1100) erfahren und was sich über die Geschichte von Byblos im 10. Jahrhundert ermitteln läßt259, bis auf die Assyrerzeit hinab nur für Tyros einige Nachrichten. Wir verdanken sie dem Umstand, daß die Israeliten mehrfach mit Tyros in politische Beziehungen gekommen sind und daß daher Josephus Auszüge aus der griechischen Bearbeitung der tyrischen Annalen durch Menander von Ephesos erhalten hat260. Sie beginnen mit König Chiram I.261, dem Sohn Abiba'als (969 [123] bis 936 v. Chr.). Von ihm erfahren wir, daß er das Stadtgebiet von Tyros durch Aufschüttungen erweiterte, dem Melqart und der Astarte neue Tempel an Stelle der alten erbaute, dem Ba'alšamêm (Zeus Olympios) eine goldene Stele in seinem Tempel aufstellte und das Frühjahrsfest der »Erweckung des Melqart« eingeführt hat. Die Kolonie Utika, die ihren Tribut nicht zahlte, hat er wieder unterworfen. Mit dem neuentstandenen israelitischen Reich hat er gute Beziehungen gepflegt und den Königen David und Salomo für ihre Palast- und Tempelbauten Zedern und Zypressen vom Libanon sowie Gold geliefert und dafür von Salomo alljährlich eine feste Abgabe von Weizen und Öl bezogen und sich außerdem den Grenzbezirk Kabûl in Galilaea mit 20 Ortschaften abtreten lassen. Die Einverleibung Edoms ins israelitische Reich gab die Möglichkeit zur Schaffung eines Seeverkehrs auf dem Roten Meer, um in derselben Weise wie früher die Ägypter bei ihren Fahrten nach Punt die Produkte der fernen afrikanischen Küsten – genannt werden außer großen Mengen Goldes Silber, Elfenbein, Affen und Pfauen (?) – direkt zu beziehen. So haben Chiram und Salomo im Hafen Eṣjongaber bei Ailat eine Flotte von Ozeanschiffen (»Taršîšschiffen«, s.S. 102) gebaut und eine Zeitlang aus dem Handel mit dem Lande Ophir reichen Gewinn gezogen, bis dann mit dem Zerfall des israelitischen Reichs die Edomiter die volle Unabhängigkeit wieder gewannen und damit diese Verbindung zusammenbrach.262

[124] Von Chirams Nachfolgern hat Josephus lediglich die Namen und Zahlen aufgezeichnet; die Liste zeigt, daß es an Thronstreitigkeiten und Usurpationen nicht gefehlt hat. Sein Enkel 'Abd'aštart wird von den vier Söhnen seiner Amme ermordet, die, wie es scheint – die Überlieferung ist hier gestört und mit Sicherheit nicht feststellbar –, der Reihe nach Könige werden sollten. Aber der zweite der Brüder wurde vom dritten ermordet, und dieser wieder nach 8 Monaten von dem Priester der Astarte Itoba'al umgebracht. Dieser Itoba'al ist uns aus dem Königsbuch als Schwiegervater des Achab von Israel bekannt; seine Regierung ist wahrscheinlich auf 887-856 anzusetzen263. Über ihn sind aus Menander wieder ein paar Notizen bewahrt: er hat in Afrika einen Ort Auza besiedelt (o. S. 108) und ebenso an der phoenikischen Küste die schon in den Amarnabriefen vorkommende Ortschaft Botrys (Batrun) nördlich von Byblos; die dreijährige Dürre der Eliasage war unter ihm als einjährig verzeichnet. Unter seinen Urenkel Pygmalion (820-774) fällt dann die Gründung Karthagos im Jahre 814. Damit bricht der erhaltene Teil der Königsliste ab264.

[125] Chiram I. heißt in den israelitischen Nachrichten durchweg »König von Tyros«, Itoba'al dagegen »König der Sidonier«265. Denselben Titel trägt ein König Chiram auf den Bruchstücken einer ehernen Opferschale aus Cypern, die »der Statthalter (ןכס) von Qartchadašt (d.i. Kition), Knecht des Chiram, Königs der Sidonier, seinem Herrn dem Ba'al-Libanôn als Erstlingsgabe (ἀπαρχή) von Kupfer« geweiht hat266. Dieser König ist ohne Zweifel Chiram II. von Tyros, der im Jahre 738 dem Tiglatpileser III. Tribut gezahlt hat. Gefunden ist das Weihgeschenk, zusammen mit ein paar Rindern von Bronze, auf dem Berge Muti Šinoas nördlich von Amathus; dies Gebiet, in dem sich die alteinheimische Bevölkerung dauernd erhalten hat, gehörte also damals zum Machtbereich des tyrischen Statthalters von Kition, und dem Berg haben die Phoeniker (ebenso wie einer Höhe bei Karthago, s.u. S. 146, 4) offenbar den Namen Libanon (»weißer Berg«) gegeben und dem auf ihm hausenden Ba'al hier ein Heiligtum gestiftet.

Die Titulatur zeigt, daß in der Zeit zwischen Chiram I. und Itoba'al die Könige von Tyros ihre Macht so erweitert haben, daß sie die Herrschaft über ganz Phoenikien in Anspruch nehmen und sich »Könige der Sidonier«, d.i. der Phoeniker nennen konnten. Vor allem muß ihnen damals Sidon untertan geworden sein; die Besetzung von Botrys unter Itoba'al zeigt dann das weitere Vordringen nach Norden, offenbar mit der Absicht, auch über Byblos die Herrschaft zu gewinnen, die freilich nicht erreicht worden ist. Einige weitere Aufklärungen geben die Angaben [126] der Assyrer. Assurnaṣirpal II. erwähnt allerdings nur kurz, daß er im Jahre 876 den Tribut von Tyros, Sidon, Byblos, von Arados im Meere, von Amurru und von einigen anderen Orten empfangen habe, und ähnlich Salmanassar III. Zur Zeit Tiglatpilesers III. und Sargons sind die Küstenstädte des Eleutherosgebiets im Besitz von Ḥamat und dann von den Assyrern zur Provinz gemacht, und es gibt damals nur noch drei phoenikische Staaten: Arados, Byblos und Tyros. Genauere Angaben erhalten wir dann für König Elulaeos von Tyros (ca. 725-690). Von ihm berichtet Menander, daß er das abgefallene, in Wirklichkeit von Sargon besetzte Kition wieder unterwarf. Als dann aber der Assyrerkönig (bei Menander ist sein Name in Selampsas entstellt) gegen ihn zog, »fielen Sidon, Akko267, Palaetyros (Usu) und viele andere Städte von den Tyriern ab und ergaben sich dem Assyrer«, während sein Versuch, auch Tyros zu erobern, nach fünfjähriger Belagerung scheiterte. Dazu stimmt aufs beste der Bericht Sanheribs über seinen Feldzug im Jahre 701. Seinen Gegner nennt er Lulî, König von Sidon, mit absichtlicher Entstellung aus »König der Sidonier«, da er den Mißerfolg gegen Tyros vollständig verschweigt und daher den Namen dieser Stadt überhaupt nicht erwähnt; aber er sagt, daß die starken Festungen Groß- und Kleinsidon, Betzitti, Sarepta, Machalliba, Usu, Akzib, Akko von Lulî (der nach Cypern geflüchtet sei) abfielen und sich den Assyrern ergaben268. Dadurch wird bestätigt, daß bis dahin in der Tat das ganze Küstengebiet von Akko im Süden bis in die Nähe von Berytos hinauf (das sowohl im AT. wie bei den Assyrern nie erwähnt wird, also wohl in irgend einer Katastrophe zugrunde gegangen sein muß), und vor allem Sidon selbst zum Reich von Tyros gehört hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 122-127.
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