Grundlagen der phoenikisch-kana'anaeischen Religion. El und Ba'al

[137] Die Religion der Phoeniker ist inhaltlich identisch mit der der übrigen kana'anaeischen Stämme einschließlich der Amoriter und eine Weiterentwicklung der religiösen Anschauungen der Semiten überhaupt, die sich in einfacherer Form auch bei den Nomaden und Halbnomaden der Wüstengebiete dauernd erhalten haben284. Im nördlichen und mittleren Syrien dagegen, bis nach Damaskus hin, saß in älterer Zeit eine den Kleinasiaten verwandte Bevölkerung mit ganz andersartigen religiösen Ideen und Kulten, zu deren Bereich ursprünglich wahrscheinlich auch die phoenikische Küste – so sicher Byblos – und vielleicht auch das Kulturland Palaestinas gehört hatte. Seit der Mitte des 2. Jahrtausends hat sich dann über diese ständig fortschreitend eine neue Welle semitischer Wüstenstämme, die Aramaeer, ausgebreitet, während sich gleichzeitig die diesen nahe verwandten Israeliten in Palaestina festsetzten und hier mit den Kana'anaeern verschmolzen. Auf die religiöse Gestaltung der syrischen Lande haben alle diese Volkstümer eingewirkt, und bei ihrer Darstellung müssen sie daher zusammenfassend behandelt und zugleich versucht werden, die einzelnen Elemente voneinander zu scheiden.

Allen semitischen Völkern gemeinsam ist das Wort »Gott«, 'il, babylonisch und assyrisch mit Nominativendung ilu, [137] kana'anaeisch und aramaeisch sowie bei den Arabern 'el gesprochen285. Die Zahl dieser in den Lauf der Welt und die Geschicke der Menschen eingreifenden göttlichen Mächte, durchweg mit beschränktem Wirkungskreis, ist unbegrenzt; immer aber ist jede in sich durch die festen und unverbrüchlichen Ordnungen des Stammes zusammengeschlossene Menschengruppe mit einem solchen Gotte untrennbar verbunden. Auf diesem Stammgott beruht die Existenz und der Fortbestand des Stammes; aber auch umgekehrt lebt die Gottheit eben dadurch, daß der Stamm sie als Grundlage und Schöpferin seines Daseins anerkennt und sie durch Opfergaben und vor allem durch den ihr bei jedem Mahl gewährten Anteil ernährt und ausstattet. Es ist, wie in aller Religion, die durch die Denknotwendigkeit der Kausalität geschaffene Umkehrung der Wirklichkeit: das Dasein der Menschengruppe erfordert die übernatürliche, wirkende Macht als Ursache, und diese gilt daher als das prius; der Mensch schafft die Gottheit nach der Analogie seiner inneren Erfahrung, aber er betrachtet sich selbst als geschaffen durch diese Gottheit nach ihrem Bilde.

Sehr anschaulich tritt dies Verhältnis darin hervor, daß nicht wenige nomadisierende Stämme und Geschlechter der Grenzgebiete Palaestinas sich nach den Wirkungen dieser Gottheit benennen: Jišma'-el »Gott hört«, Jisra-el »Gott streitet«, [138] Jerachm-el »Gott erbarmt sich«286, und ebenso die zahlreichen Personennamen mit el gebildet werden, auch überall in Arabien. Nur selten hat sie daneben noch einen besonderen Eigennamen; für die Gruppe, in der der Gott lebt und wirkt, ist er der El schlechthin. Aber es war ein Mißgriff, wenn man lange geglaubt hat, die Semiten hätten seit Urzeiten einen universellen Obergott El verehrt, der sich dann später in zahlreiche Einzelgötter differenziert habe; der El des Stammeskultus ist vielmehr nur die mit dem Stamm verwachsene Sondergestalt aus der unbestimmten Masse der göttlichen Wesen, der Elîm287. Kultisch greifbar wird er in mancherlei Objekten, in denen er seinen Sitz nimmt, vor allem Steinen und Holzstücken, nicht selten wohl auch schon früh in Idolen aus Stein, Holz, Knochen, Ton; aber daneben hat er immer eine übersinnliche, geisterhafte Existenz, in der er wohl auch einmal unmittelbar erscheinen kann, wenn er es nicht vorzieht, die Gestalt eines anderen Wesens anzunehmen.

Bei nomadischen und halbnomadischen Stämmen hat auch der Gott keine feste Wohnstätte, sondern wandert mit ihnen und ihren Herden, und die Kultobjekte begleiten sie auf ihren Kriegszügen, wie bei den Israeliten die in einem Kasten verwahrten Steine, in denen Jahwe haust. Wenn aber der Stamm ein bestimmtes Gebiet besiedelt und zu landwirtschaftlichem Betriebe übergeht, wird auch der Gott seßhaft; er verwächst mit der Stätte, an der sein Altar steht und seine Kultobjekte aufgerichtet, werden, und haust hier in einer Anhöhe (kan. bâmat) oder einem Berggipfel und vor allem in einem isoliert stehenden, sich mächtig entfaltenden »Gottesbaum« (hebr. elôn oder elat,[139] wobei das Femininum das Einzelwesen der Gattung bezeichnet), in dem sich seine Lebenskraft sinnlich offenbart und heilkräftig wirkt288. Daher wird er in der Regel einfach nach dieser Kultstätte als ihr »Inhaber« ba'al benannt. Man pflegt dies Wort durch »Herr« zu übersetzen und auf das Verhältnis des Gottes zu den Menschen zu beziehen. Damit wird jedoch ein ihm durchaus fremder Begriff in das Wort hineingetragen289; das allen semitischen Dialekten gemeinsame Wort ba'al bezeichnet vielmehr ganz allgemein den Inhaber oder Eigentümer von etwas, so den Besitzer von Silber, Gold, Rossen usw., aber auch den Ehegatten und weiter im Hebraeischen und Phoenikischen den Bürger einer Gemeinde290. Nur ein Spezialfall dieser allgemeinen Bedeutung ist die Verwendung von ba'al zur Bezeichnung einer Gottheit; sie erfordert dabei immer den Hinzutritt eines ergänzenden Genitivs, der das Objekt (in der Regel die Örtlichkeit) bezeichnet, dessen Inhaber der Gott ist291.

Diese Anschauung beherrscht die Götterwelt der Kana'anaeer und Phoeniker. Allerorten verehrt man an erster Stelle [140] den lokalen Ba'al, so den von Sidon, den von Tyros292 – für den dann sein Beiname »Stadtkönig« Melqart zum Eigennamen geworden ist –, den vom Libanon (auch auf Cypern, o. S. 126). Weiter gehören die zahlreichen mit Ba'al gebildeten Namen von Ortschaften und Bergen hierher, wie Ba'al Ma'on, Ba'al Pe'ôr, Ba'al Chaṣôr usw. Nach der euhemeristisch gestalteten Kosmogonie Sanchunjatons haben die Elementargötter »Söhne gezeugt, die sie an Macht überragten, deren Namen den Bergen beigelegt wurden, deren Ba'alîm sie waren (ὧν ἐκράτησαν), so Kasion, Libanon, Antilibanon und Brathy293«. Manchmal sind sie auch nach ihrer Wirkung in Leben und Kultus benannt, so ein »Tanzgott« Ba'almarqod κοίρανος κώμων, der auf einem Berge oberhalb Beiruts einen Tempel hat294, und in Sichem der »Vertragsgott« El brît oder Ba'al brît, auf dem die religiöse und sittliche Ordnung der Gemeinde beruht.

Im offiziellen Sprachgebrauch darf dieser Genitiv, der den Sondergott bezeichnet, niemals fehlen; es gibt keine einzige Inschrift, in der ein Gott Ba'al ohne solchen Zusatz vorkäme. Im gewöhnlichen Leben dagegen redet man, genau wie bei El, immer einfach von »dem Ba'al« (hab-ba'al mit Artikel); so nennen auch die Israeliten den aus Tyros nach Samaria übernommenen Gott, den die Propheten seit dem 9. Jahrhundert als Konkurrenten Jahwes bekämpfen, während man bis dahin, wie zahlreiche Eigennamen beweisen, auch diesen, den Gott Israels, unbedenklich als Ba'al bezeichnet hatte. In den zahllosen Eigennamen, durch die ein Kind unter den Schutz des Stammesgottes gestellt wird, heißt dieser immer einfach El oder Ba'al.

[141] So ist es begreiflich, daß die Ausländer Ba'al als Eigennamen des höchsten Gottes der Kana'anaeer und Phoeniker betrachten; wie früher die Ägypter, die ihn daher dem Seth gleichsetzen, so dann die Griechen295. In der Tat sind ja auch alle diese Einzelgötter, mögen sie nun El oder Ba'al genannt werden, völlig wesensgleich und nur durch die Kultstätte und die Gemeinde, in der sie wirken, voneinander verschieden296. Sie werden daher zusammengefaßt in dem Gesamtbegriff »die Götter«, phoenikisch elîm oder alonîm – ein Ausdruck, der in Personennamen vielfach neben dem Singular el oder ba'al verwendet wird297 –, im Hebraeischen ha-elohîm und von den kana'anaeischen Göttern durchweg hab-ba'alîm. Diese kollektiven Plurale werden dann in beiden Sprachen einfach zum Appellativum für »Gott« und [142] schließlich auch grammatisch geradezu als Singular behandelt298. Wenn dann noch die Aufgabe hinzukam, die Götterwelt systematisch und genetisch darzustellen, in ihr die griechischen Götter wiederzufinden, und weiter sie in geschichtliche Persönlichkeiten umzusetzen, wie bei Sanchunjaton und seinem Übersetzer Philon von Byblos, so wurden die Gesamtbegriffe vollends maßgebend und als primär betrachtet, in derselben Weise wie in so vielen modernen Bearbeitungen. Wie die Griechen in der Astarte ihre Aphrodite, in El und Ba'al den Kronos oder Zeus wiederfinden, so erzählt auch Sanchunjaton von einem Elos, Sohn des Uranos und der Ge und Gemahl seiner Schwester Astarte, den er mit Kronos, und seinem Sohn Belos, den er mit Zeus gleichsetzt299. Aber daneben steht die Angabe, daß Elos an der Spitze einer Schar von Gehilfen stand, die Elohîm genannt werden – in älterer Zeit hat man dafür gewiß Elîm oder Alonim gesagt –: dadurch zeigt sich deutlich, wie aus der unbestimmten Masse der homogenen Einzelwesen der sie zusammenfassende Gott El im Volksbewußtsein hervorgewachsen ist300. Bei den Arabern ist auf diesem Wege schon[143] früh neben und über die Einzelgötter der die ganze Welt beherrschende Universalgott Allâh, »der Gott« schlechthin, getreten, den dann der Islam unter jüdischer und christlicher Einwirkung zum einzigen, ganz persönlich gedachten Gott erhoben hat, während bei den Israeliten das Kollektivum ha-elohîm synonym mit dem Stammgott Jahwe geworden ist. Bei den Phoenikern dagegen hat der Kultus diese Entwicklung nicht mitgemacht, sondern kennt, wie schon bemerkt, durchweg nur die einzelnen Sondergötter. Auch der Kronos, dem nach den griechischen Berichten und nach Sanchunjaton in Phoenikien, Karthago, Sardinien die Menschenopfer dargebracht wurden, ist ein solcher Einzelgott so gut wie der Kronos, in dessen Tempelbezirk Hanno den Bericht über seine afrikanische Küstenfahrt aufgestellt hat. Es ist wohl sicher der Ba'al chammân, der Hauptgott des punischen Nordafrika, der in den lateinischen Inschriften dieses Gebiets immer als Saturnus angerufen wird301. In der Kaiserzeit haben dann die Araber der Sinaihalbinsel, von denen die dortigen aramaeischen Pilgerinschriften stammen, den kana'anaeischen Gott als »den Ba'al« ולעבלא, mit arabischem Artikel und Kasusendung, übernommen302 – der einzige Fall, wo »der Ba'al« wirklich Eigenname eines Gottes geworden ist.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 137-144.
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