Das Werk des Jahwisten.

Weitere Bearbeitungen der Sagengeschichte

[297] Alle diese Erzählungen sind zusammengefaßt und weitergebildet in dem etwa zu Anfang des 9. Jahrhunderts651entstandenen Literaturwerk, das die Sagengeschichte erzählt und das wir, nach dem darin ständig gebrauchten Gottesnamen Jahwe, das des Jahwisten nennen; in die deuteronomistische [297] Kompilation des Pentateuchs sind die meisten Erzählungen daraus wörtlich aufgenommen, so daß wir es größtenteils rekonstruieren können. Der Verfasser, deutlich ein Angehöriger des Reichs Juda652, beherrscht die in den großen Geschichtswerken der Königszeit entwickelte Erzählungskunst; in knapper, realistischer Darstellung versteht er mit ein paar Worten den Hergang anschaulich vorzuführen und die Persönlichkeiten lebenswahr zu charakterisieren. Er hat die im Volk lebendigen Traditionen gesammelt und aneinandergereiht, die offenbar vielfach, wie überall in der Sagenüberlieferung, schon in feste Form gebracht, zum Teil, wie z.B. das Märchen vom Paradies, auch schon aufgezeichnet waren; mehrfach sind die in der Sage verkörperten Anschauungen auch in kurzen rhythmisch gebundenen Sprüchen zusammengefaßt, so in denen über Lamekh, über Jakob und Esau, über 'Amaleq oder in den Fluchformeln der Paradiesesgeschichte. Der Jahwist hat solche Erzählungen nicht selten auch da aufgenommen, wo die in ihnen herrschenden religiösen und sittlichen Anschauungen innerlich zu seiner fortgeschrittenen Auffassung bereits in Widerspruch stehn653. Aber der Idee nach ist das Werk durchaus einheitlich gedacht: der [298] Verfasser will erzählen, wie durch Jahwes Wirken das Volk der zwölf Stämme entstanden ist und Jahwe ihm das Land Kana'an als Wohnsitz zugewiesen hat. Vorausgeschickt ist ein Versuch, einen Abriß der menschlichen Entwicklung überhaupt zu geben, von der Bildung des Menschen und seines Weibes durch Jahwe im Gottesgarten und seiner Verjagung daraus bis zur Zerstreuung seiner Nachkommen über die ganze Erde durch die Sprachverwirrung in Babel. In diesen Erzählungen, bei denen allerhand, zum Teil wohl aus kana'anaeischen Traditionen übernommene Sagentrümmer aufgenommen sind, sind die Menschen seßhafte Ackerbauern; von den einzelnen Volksstämmen dagegen ist nirgends die Rede654. Indessen daneben stehn auch hier schon Erzählungen, die vielmehr die Anschauungen der Südstämme wiedergeben. In der Geschichte von Qain und Abel ist Abel der friedliche Hirte, der von dem wilden Beduinen Qain (dem Eponymos des 'amaleqitischen Clans dieses Namens, der sich zur Zeit Sauls an Juda angeschlossen hat) überfallen und erschlagen wird655; die Existenz Qains ist durch das Stammzeichen und die Blutrache geschützt. Dieselbe Auffassung kehrt in dem Liede Lamekhs (Gen. 4) wieder, wo zugleich die Gliederung des viehzüchtenden Stammes gegeben wird: von seinem ersten Weibe stammt Jabal (Variante von Abel), der Ahne der Herdenbesitzer, die in Zelten wohnen, und Jubal, der Ahne der Musikanten, die wie in der homerischen Welt den vollberechtigten Stammesgliedern zunächst stehn; von einem anderen Weibe stammen die Schmiede, die ältesten Handwerker, und die [299] Hetären656, also die dienenden Elemente, die nicht zur Gemeinde der Freien gehören.

Völlig von diesen Anschauungen beherrscht ist nun die jahwistische Geschichte der Ahnen des Volks. Die Folge Abraham, Isaak, Jakob wird schon vor ihm bestanden haben, aber zu voller Anerkennung ist sie offenbar erst durch ihn gekommen, ja vielleicht hat erst er die Gestalt Abrahams in diese Reihe eingeführt657. Die Verbindung der Israeliten mit den Aramaeern als ihren nächsten Verwandten, im Gegensatz zu den Kana'anaeern, wird festgehalten, Abraham ist daher aus der mesopotamischen Steppe eingewandert658. Aber ganz kurz wird sein Zug durch Kana'an abgemacht; erst im äußersten Süden, im Negeb, ist das Ziel erreicht; hier allein, wo sie heimisch sind, in Hebron und Be'eršeba', werden wirkliche Sagen von Abraham und Isaak erzählt, hier leben sie als wohlhabende Viehzüchter mit zahlreichen Herden und Knechten in friedlichem Verkehr mit der ortsansässigen Bevölkerung, auch den Philistern.

Diese Schilderung entspricht den tatsächlich hier bestehenden Verhältnissen, wie wir sie in den Erzählungen aus der Zeit Davids kennenlernen. Daß aber der Verfasser sie mit Absicht festgehalten und ausgemalt hat, ergibt sich daraus, daß auch Jakob nach demselben Schema behandelt wird. Er ist nicht [300] ein kriegerischer Heros, wie es sich für den Ahnen Israels gehören würde und wie er in anderen Darstellungen (Gen. 48, 22, s.o. S. 200 Anm. 1) geschildert war und vom Segen Jakobs gefordert wird, und auch kein Ackersmann, sondern wie seine Vorfahren ein friedlich im Lande umherziehender Herdenbesitzer; auch sein Konflikt mit Esau und ebenso der mit Laban werden durch einen friedlichen Vergleich beseitigt. Benutzt sind dabei Schwänke, wie sie sich die Bauern erzählen mochten; in die Gestalt des Jakob kommt jedoch dadurch ein häßlicher, abstoßender Zug: er ist feige und unmännlich, aber ein raffinierter Betrüger, und trotzdem begünstigt ihn Jahwe bei seinen schlauen Kniffen durchweg mit unverhehlter Parteilichkeit659. Das erklärt sich aus der Tendenz, die der Verfasser verfolgt: das friedliche, von Gott gesegnete Leben des Viehzüchters ist das Ideal, das er dem Volke vorhält. Aber schwerlich hat irgend ein anderes Volk von seinen Ahnen ein so jedes tiefere Empfinden verletzendes Bild entworfen – das hat schon Hosea empfunden; der Geist, der später das Judentum beherrscht, kündet sich hier bereits an.

In diesen Sagen erscheint Jahwe den Ahnen an den Hauptheiligtümern Kana'ans, die dadurch als seine Sitze offenbart werden, und verheißt ihren Nachkommen den Besitz des Landes. Während sie aber nach anderen Erzählungen, wie der von Juda und seinen Söhnen (Gen. 38), hier wohnen bleiben und sich aus breiten, wie das ja auch allein der diesen Erzählungen zugrunde liegenden volkstümlichen Anschauung entspricht, müssen sie nach der Darstellung des Jahwisten zunächst auswandern nach Ägypten. Für die Verbindung hat er die novellistisch breit ausgemalte Erzählung von Joseph benutzt, für die er einen weitverbreiteten Märchenstoff – die Versuchung des Jünglings durch die Frau seines Dienstherrn – benutzt hat, den wir weit früher schon aus einer ägyptischen Erzählung kennen. So hat er künstlich [301] die Brücke geschlagen von den Patriarchensagen, die nur Einzelpersönlichkeiten kennen, zu der Überlieferung von der Eroberung Kana'ans durch das in zwölf Stämme zerfallende Volk Israel; erst durch ihn sind die Sagen von dem Aufenthalt in Ägypten und in der Wüste der Sinaihalbinsel, von der Katastrophe der Ägypter am Schilfmeer und von Moses Bestandteile der Gesamtüberlieferung geworden und haben in dieser ihren festen Platz erhalten. Den Auszug aus Ägypten leitet Jahwe in eigener Person durch unmittelbares Eingreifen; als Mittelsmann benutzt er dabei den Moses. Dieser führt das Volk dann in die Wüste zum Quell von Qadeš und gibt hier die religiösen Gebote und die Rechtsordnung660. Moses selbst verschwindet in der Wüste. Die Eroberung des Landes hat er dann ganz kurz erzählt, im wesentlichen sich beschränkend auf eine Schilderung des Ergebnisses, wie es sich zu Beginn der Königszeit gestaltet hatte (unvollständig erhalten in Jud. 1). Ausführlichere Sagen darüber gab es so wenig wie etwa über die Eroberung des Peloponnes durch die Dorier; was die späteren darüber erzählen, ist fast alles sekundäre oder tertiäre Mache. Daß er auch die weitere Geschichte des Volks noch erzählt hat, machen manche Spuren sehr wahrscheinlich; doch ist Sicherheit darüber kaum zu erreichen, da hier die ältern, wenigstens in einzelnen Bruchstücken erhaltenen Geschichtswerke bereits vor ihm liegen.

Der Gestaltung der Vätersagen nach dem Bilde des nomadischen Ideals entspricht die Stellung des Verfassers zu Religion und Kultus. In allem, was er berichtet, offenbart sich das Wirken Jahwes; die Menschen, so verschieden ihre Individualität ist, sind nur Werkzeuge in seiner Hand. Er hat das Leben auf der Erde geschaffen und den Ahnen der gesamten Menschheit gebildet und innerhalb dieser den Abraham erlesen, um aus seinem Samen das Volk hervorgehn zu lassen, das Kana'an als Erbbesitz erhalten und ihn hier in der richtigen, von ihm gewiesenen Gotteserkenntnis verehren soll. Von dem Götterkreis,[302] der ihm in den übernommenen Erzählungen vom Paradies, vom babylonischen Turmbau sowie Gen. 6, 1 zur Seite steht, ist beim Jahwisten selbst nie die Rede; Jahwe ist in der Tat der alleinige Gott. Gedacht wird er natürlich, wie in allen Religionen, nach dem Bilde des Menschen, nur gewaltig gesteigert; aber eine bildliche Darstellung ist für ihn völlig ausgeschlossen, selbst Maṣseben, die dagegen bei dem den israelitischen Kultformen weit näher stehenden Elohisten eine große Rolle spielen, kommen beim Jahwisten nie vor, und auch von den Formen des Kultus und den Opfern redet er kaum661. Umso mehr treten die Erscheinungen und Offenbarungen der Gottheit hervor, bei denen er die Verheißungen für die Zukunft des Volks gibt. Bei der Befreiung aus Ägypten und dem Zug durch die Wüste greift er ganz persönlich ein; aber krasse Wunder, wie sie die Späteren immer wüster erfinden, verwendet er nicht, sondern Jahwe benutzt für seine Zwecke überall natürliche Vorgänge, so auch bei den Plagen, die den König Ägyptens zur Nachgiebigkeit zwingen662, und bei der Katastrophe im Schilfmeer – zugleich ein Beweis, daß diese Erzählungen keineswegs volkstümliche Sagen, sondern freie Erfindungen des Schriftstellers sind.

[303] Das Werk des Jahwisten hat eine gewaltige Wirkung geübt, in Israel so gut wie in Juda; die Zusammenfassung der einzelnen Traditionen und ihre Einfügung in ein durch die Folge der Generationen im Stammbaum festgelegtes Schema ist maßgebend geworden für die Gesamtauffassung des Volks von seiner Vergangenheit. Die Autorität, die einem Literaturwerk dadurch zufließt, daß es schriftlich existiert und sich, im Gegensatz zu den mündlichen Erzählungen, dauernd erhält, tritt uns hier in derselben Weise entgegen, wie bei den Griechen in der Zusammenfassung der Epen zum Kyklos und in der schematischen Neubearbeitung des Stoffs durch Hesiod und die genealogischen Dichtungen663. Alle folgenden Darstellungen sind dadurch gebunden. An abweichenden Traditionen hat es allerdings nicht gefehlt664, und manche von ihnen sind auch literarisch festgelegt worden (vgl. Gen. 48, 22); aber durchgesetzt haben sie sich nicht, und erhalten von ihnen sind nur wenige Stücke, die sich notdürftig in die dominierende Darstellung einfügen ließen, wie die Geschichte von Juda und seinen Söhnen (Gen. 38), von der Ausmordung Sichems durch Simeon und Lewi (Gen. 34), von der [304] Knechtung der Gibe'oniten (Jos. 9); gleichartig sind auch manche der im Richterbuch erhaltenen Erzählungen, wie die von Ehud und Gide'on und die Schwänke von Simson. Diese Bruchstücke665 zeigen aber, wie rege und vielseitig das literarische Leben der älteren Königszeit gewesen ist und wie verkehrt es ist, seine Literatur einseitig nach den in den Pentateuch aufgenommenen Werken zu. beurteilen.

Literarisch unterscheiden sich diese Schriften von den griechischen Darstellungen der Sagengeschichte dadurch, daß die Poesie, die auch in ihnen gestaltend wirkt, nicht in eine dichterische Form gekleidet ist, sondern die Vorgänge, so lebensvoll sie gestaltet sind, in schlichter Prosa vorgetragen werden, wie in der Regel auch sonst bei den Völkern des Orients666; metrisch gebundene Stücke finden sich nur vereinzelt in kurzen Sprüchen, wie ähnlich, nur in viel reicherem Umfang, in der indischen Überlieferung. In der Tradition ist es dem Werk des Jahwisten dann ergangen wie allen gleichartigen Erzeugnissen einer Epoche, die von einem literarischen Eigentum und einem Verfasser noch nichts weiß: es wird weiter überliefert und abgeschrieben als authentische Darstellung der Überlieferung, erfährt, aber eben darum immer wieder Erweiterungen und Zusätze und auch Korrekturen. Sie finden sich so ziemlich bei jedem Abschnitt667; am bedeutsamsten ist die tiefgreifende Umgestaltung des Aufenthalts in der Wüste durch den Zug zum [305] Sinai und die dortige Gesetzgebung, während der ältere Verfasser den Sinai überhaupt nicht erwähnt, sondern Jahwe in dem Erdfeuer am Dornbusch668 bei Qadeš hausen läßt.

Etwa ein Jahrhundert später, wohl bald nach 800, ist dann eine parallele Darstellung (in der Folgezeit gleichfalls durch Zusätze erweitert und mehrfach überarbeitet) daneben getreten, das in Israel entstandene Werk des Elohisten. Auf seine weiter fortgeschrittenen religiösen Anschauungen werden wir später zurückkommen; an dieser Stelle ist nur zu erwähnen, daß er durchweg nicht nur das Schema des Jahwisten übernimmt, sondern auch die meisten seiner Erzählungen (einschließlich der bis dahin vorliegenden Zusätze), natürlich mit zahlreichen Variationen und Zusätzen. Dabei tritt der israelitische Standpunkt stark hervor; an Jakob und an den israelitischen Heiligtümern hat er ein weit lebendigeres Interesse. So erklärt es sich auch, daß er bei den Kultsagen mehrfach ältere Anschauungen wiedergibt als der Jahwist; dem entspricht es, daß er sich auf die Geschichte Israels von Abraham an beschränkt und die Vorgeschichte der gesamten Menschheit weggelassen, dagegen die Geschichte der Eroberung Kana'ans (mit dem Heros Josua) weit ausführlicher erzählt hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 297-306.
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