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Zur geschichtlichen Beurteilung der Politeia

[118] Die Ansicht über Wert und Bedeutung des platonischen Werkes hängt vor allem von der Entscheidung der Vorfrage ab, ob die Zeichnung eines Idealstaates, wie sie hier versucht wird, überhaupt als eine in der Wissenschaft berechtigte Literaturform anzuerkennen ist oder nicht. Wer die Frage verneint, wer die »Utopie« als eine Verirrung, als das müßige Spiel einer ausschweifenden Phantasie grundsätzlich verwirft, für den ist auch das Urteil über Plato gesprochen. Er wird mit einem modernen Beurteiler der »Staatsromane« in den platonischen Theorien nichts anderes erblicken können als Luftschlösser, welche lustig ins Ätherblau hineingebaut sind und ihren Urheber auf eine Linie etwa mit Jules Verne stellen.493[118]

Daß dieses Urteil nicht das letzte Wort einer wahrhaft geschichtlichen Auffassung der Dinge sein kann,494 wird dem Unbefangenen kaum zweifelhaft erscheinen in einer Zeit, in der gerade die Aufstellung solcher ideeller Gebilde eine noch vor kurzem völlig ungeahnte Bedeutung gewonnen hat, und selbst von anerkannten Vertretern der Wissenschaft – man denke nur an Hertzkas »Freiland« – nicht verschmäht wird, um als Rüstzeug in dem großen Kampf der Geister zu dienen, der um die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft entbrannt ist.

Angesichts der frappanten Analogie, die auch hier das 19. Jahrhundert mit dem 4. v. Chr. darbietet, drängt sich ja ganz von selbst die Erkenntnis auf, daß wir es in dem Utopismus mit einer Erscheinung zu tun haben, die unter analogen geschichtlichen Voraussetzungen mit psychologischer Notwendigkeit sich immer wieder von neuem einstellt, auch wo man sie längst als »überwunden« ansah.

Wie John Stuart Mill mit Recht bemerkt hat, ist der Utopismus das naturgemäße Ergebnis aller Epochen, in denen, wie eben in der Gegenwart und im Zeitalter Platos, eine allgemeine neue Prüfung der Grundprinzipien des Staates und der Gesellschaft als unvermeidlich erkannt ist.495 Je tiefer und schmerzlicher bei solcher Prüfung die Unvereinbarkeit des Bestehenden mit berechtigten Interessen und Wünschen der Menschheit empfunden wird, je hartnäckiger anderseits der gedankenlose Alltagsmensch an die Ewigkeit der Zustände glaubt, in denen er die Befriedigung seiner kleinen persönlichen Interessen findet, um so zwingender macht sich anderseits das Bedürfnis geltend, den Kontrast zwischen der Wirklichkeit und den Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit eben dadurch mit möglichster Klarheit vor Augen zu stellen, daß dem Bestehenden[119] das Idealbild einer »besseren« Staats- und Gesellschaftsordnung entgegengesetzt wird, ein Ideal menschlicher Zustände, wie sie sein sollten und unter Umständen vielleicht auch sein könnten. Durch die Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit schafft sich der menschliche Geist ein mächtiges Hilfsmittel, die Lücken und Mängel des Bestehenden sich und anderen möglichst klar zum Bewußtsein zu bringen.

Gegenüber der quietistischen Beschränktheit, welche die jeweilig bestehende Ordnung der Dinge als die allein richtige oder allein mögliche ansieht, ist daher das Auftauchen solcher Spekulationen über die Möglichkeit anderer und besserer Zustände stets ein Symptom des Fortschrittes, und sie werden darum auch nie ganz verschwinden, solange der menschliche Geist selbst im Fortschreiten begriffen ist. In ihnen stellt sich gegenüber der gedankenlosen Vergötterung des Bestehenden die Erkenntnis dar, daß dasselbe doch wesentlich mit das Werk wandelbarer menschlicher Anordnung ist; und so erscheinen sie, soweit sie Begründetes enthalten, als die Vorkämpfer für das höhere Recht der Zukunft gegenüber dem, was ohne innere Berechtigung durch das Schwergewicht äußerer Momente noch fortbesteht. In den Idealen, die sich so ein Volk durch seine Denker schafft, reflektiert sich jene höhere Stufe des politischen Bewußtseins, auf der mit der Erkenntnis des Gegenwärtigen sich das lebendige Gefühl für die Zukunft verbindet.

Darauf beruht der Wert und die Bedeutung dieser idealen Konstruktionen, daß sie – soweit sie nicht hohle Phantasien, sondern das Ergebnis ernster Gedankenarbeit und der Erkenntnis wahrer Bedürfnisse sind – der Arbeit der Zukunft die Probleme stellen, der geschichtlichen Entwicklung und der organischen Reformarbeit Ziel und Richtung weisen.

Daher hat selbst ein so nüchtern denkender und durchaus konservativ gesinnter Mann, wie Robert von Mohl, sich entschieden gegen diejenigen ausgesprochen, welche aus den dem Utopismus anhaftenden Irrtümern schließen zu dürfen glauben, daß derselbe überhaupt für Leben und Theorie keine Bedeutung haben könne. Er erkennt vollkommen an, daß »diese Irrtümer durchaus nicht in wesentlicher Beziehung zu der Aufgabe stehen, und daß ein Schriftsteller von Geist und Talent, der das Problem von der rechten Seite fassen würde, die Wissenschaft zu zwingen vermöchte, sein Werk ihren Schätzen beizuzählen«.496

[120] Eine andere Frage ist nun aber freilich die, ob es zur Aufgabe dieser Literaturform gehört, Projekte zu entwerfen, welche auf unmittelbare praktische Verwirklichung berechnet sind. Bei aller Achtung für die moralische und wissenschaftliche Energie, mit welcher der gelehrte Verfasser der bedeutendsten modernen Utopie die praktische Verwirklichung seiner Pläne in die Hand genommen hat, muß doch diese Frage entschieden verneint werden. Es hat sich bisher wenigstens noch immer unmöglich erwiesen, irgendeine neue Form des Staates und der Gesellschaft zu erfinden, von der man wie von einer auf dem Papier konstruierten Maschine die Wirkungsweise im voraus bestimmen könnte.

Ein Kritiker von Freiland, der zugleich Historiker ist, hat sehr treffend bemerkt, daß sich der Idealstaat zur praktischen Volkswirtschaftslehre verhalte, wie etwa die physikalischen Beobachtungen im luftleeren Raum zur Mechanik.497 Sämtliche Fallgesetze, die für den luftleeren Raum aufgestellt sind, sind richtig, aber sie gelten für eine Voraussetzung, die im wirklichen Leben niemals zutrifft. »Der Mechaniker kann diese Gesetze nicht entbehren; er muß sie kennen und muß sie benützen. Aber er muß jedesmal den Widerstand des Mediums als störenden Faktor mit einsetzen. Der Physiker, der verlangen würde, daß die Gesetze, die er durch Experimente und Berechnung im luftleeren Raum gefunden hat, von den Mechanikern entweder widerlegt oder angewendet werden sollen, würde sich dem Schicksal ausgesetzt sehen, daß weder das eine noch das andere geschieht, daß seine Ergebnisse gelobt, aber zu einem ganz anderen Zwecke verwertet werden, als er gewünscht hat. Und in derselben Lage befindet sich der Volkswirt, der seine Beobachtungen in einer Gemeinschaft macht, welche von Torheit und Leidenschaft so frei ist, wie der Raum unter der Luftpumpe von Luft frei ist. Soweit seine Ergebnisse richtig sind, können sie praktisch erst angewendet werden, wenn man alle Störungen und Reibungen des wirklichen Lebens mit ihren wahren Koeffizienten einzusetzen vermag.«

Erst unter dieser Voraussetzung und mit dieser Einschränkung ist der Gedanke an die Realisierung eines Staatsideals diskutierbar. Und es ist ja in der Tat im Verlaufe der Geschichte wiederholt versucht worden, in kleinen Kreisen, in denen durch die Ausschließung aller fremden und[121] störenden Einwirkungen die Reibungswiderstände möglichst reduziert waren, Ideen zu verwirklichen, zu denen man als den äußersten Konsequenzen eines folgerichtigen Denkens über den Zusammenhang der menschlichen Handlungen gekommen war. So ist vielleicht der Gedanke, Staat und Gesellschaft als Kunstwerk zu gestalten, als einheitlichen Mechanismus zu konstruieren, von niemandem so folgerichtig durchgeführt worden, als von dem kühnen Dominikaner, der – in Platos Fußtapfen wandelnd – ein Staatsideal rein nach den Grundsätzen der natürlichen Vernunft entwarf. Und doch ist Campanellas Sonnenstaat innerhalb eines halben Jahrhunderts in seinen wesentlichen Zügen in den Urwäldern Südamerikas verwirklicht worden!498 Und im 19. Jahrhundert hat die von John Humphrey Noyes gegründete Sekte der Perfektionisten zu Oneida im Staate Neuyork ein Gemeinwesen begründet und ein Menschenalter hindurch zu erhalten gewußt, das ganz ähnlich wie Plato durch die »Stammzucht« (stirpiculture), d.h. durch obrigkeitlich vermittelte Zeit- und Kinderehen u. dgl. m. die »sündhafte Selbstsucht« in ihrem Bereich zu verbannen und ein vollkommeneres Geschlecht heranzuziehen hoffte. Doch zeigen freilich gerade diese und andere Beispiele, wie weit doch immer der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen dem Anspruch, etwas Vollkommenes zu schaffen und dem tatsächlich Erreichten bleiben wird.


Prüfen wir die Politeia des Plato von diesen Gesichtspunkten aus, so kommt zunächst die Frage nach ihren theoretischen Ergebnissen in Betracht. Welches ist ihr Gehalt an bleibenden Errungenschaften politischer und sozialökonomischer Erkenntnis? Hat sie Ideen gezeitigt, welche in der Tat der Zukunft als Leitstern dienen konnten und, soweit sie nicht verwirklicht sind, auch heute noch dienen können?

Im allgemeinen ist die Frage bereits bejaht durch die politische Ökonomie der Gegenwart. Wenigstens hat einer ihrer hervorragendsten Vertreter es von jedem politischen Standpunkt aus für unvermeidlich erklärt, wieder an gewisse antike Grundanschauungen anzuknüpfen, wie sie – neben der Aristotelischen Politik – in Platos Staat niedergelegt sind.499

[122] Gemeint sind hier vor allem jene Sätze, welche im Gegensatz zur atomistisch-individualistischen Staatsauffassung und ihrer Voranstellung des Individuums in erster Linie die Notwendigkeit der Unterordnung des einzelnen unter den Staat und seiner Einordnung in den Staat betonen. Von ihnen hat Adolf Wagner anerkannt, daß sie – richtig verstanden – nicht nur berechtigt sind für altgriechische Verhältnisse, sondern unbedingt wahr, nicht Sätze von historischer Relativität, sondern von logischer Absolutheit.500

Aus der Voranstellung des Gemeinschaftsprinzips ergibt sich zunächst das von der Gegenwart in seiner Berechtigung immer tiefer empfundene Verlangen nach einer starken, über der Gesellschaft stehenden Regierungsgewalt, welche die Kraft und den Willen hat, das Interesse der Individuen unter die Interessen und Zwecke der Gemeinschaft zu beugen, das Verlangen nach einer wahren, d.h. nicht bloß als Mandat einer Mehrheit oder Minderheit der Gesellschaft aufgefaßten und ausgeübten Amtsgewalt, wie sie nur durch ein selbständiges, von der Gesellschaft und deren sozialökonomischen Sonderinteressen unabhängiges Beamtentum verwirklicht werden kann.

Erscheint diese Forderung nicht geradezu wie ein prophetischer Hinweis auf das Prinzip der wahrhaft staatlichen Monarchie, wie es vor allem die deutsche Staatswissenschaft aufgestellt hat? Wie ein moderner Sozialpolitiker mit Recht bemerkt, beruht die Gesundheit des modernen Staates und der modernen Gesellschaft im Gegensatz zum antiken und teilweise auch zum mittelalterlichen Staate darauf, daß neben die Besitzenden, die so leicht der Abhängigkeit von ihren Sonderinteressen erliegen, eine breite einflußreiche Gesellschaftsschicht trat, die eine durchschnittlich idealere Gesinnung hat und nicht in dem Grade von egoistischen Klasseninteressen beherrscht wird: unsere heutigen Staats- und Kommunalbeamten, Geistliche, Lehrer, Offiziere usw., in der Mehrzahl Leute, denen ohne oder doch ohne großen Besitz die höchste Bildung zugänglich ist, die auf eine mäßige, aber ihren Verdiensten wenigstens ungefähr entsprechende Einnahme angewiesen, ihre soziale Stellung von Generation zu Generation nicht durch ihr Vermögen, sondern nur durch die Erziehung ihrer Kinder behaupten, die nicht so direkt in das Getriebe des Erwerbslebens verflochten, bei ihrem Einfluß auf das Staatsleben leichter von höheren Motiven, als der bloßen Erwerbslust ausgehen.501 Eben dies, die Schaffung einer so gestellten und so gesinnten Gesellschaftsschicht,[123] wie sie der moderne Staat, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, besitzt und der damalige entbehrte, ist von Plato mit genialem Scharfblick als eine Haupt- und Grundfrage aller Politik erkannt worden. Eine Erkenntnis, die ihrerseits von seiner tiefen Einsicht in die Mißstände zeugt, zu welchen die Souveränität der Gesellschaft zuletzt notwendig führen muß, mag nun der einseitig individualistische Wille einer besitzenden Minderheit oder der großen Mehrheit den Staatswillen bestimmen.

Wahrhaft vorbildlich für die Gegenwart ist die Schilderung der unwiderstehlichen Gewalt, mit der hier die egoistischen Interessen überall in die Poren des Staatskörpers einzudringen suchen. Die Hoffnungen auf die segensreichen Wirkungen eines durchgeführten Demokratismus,502 wie sie der politische Doktrinarismus des letzten Jahrhunderts großgezogen hat, werden bereits von Plato auf Grund einer wahrhaft sozialpolitischen Auffassung der Dinge als Illusionen erwiesen. Grote, dessen griechische Geschichte durchaus von diesen Illusionen erfüllt ist, bemerkt in seiner Kritik des bekannten Staatsmannes Dion, daß derselbe nur deshalb den Wert des reinen Volksstaates in Frage gestellt habe, weil seine Anschauungen nicht durch die Erfahrungen des praktischen Lebens und der besten praktischen Staatsmänner, sondern durch die Lehren der Akademie und Platos bestimmt worden seien.503 Kann es einen größeren Triumph für die Auffassung Platos geben, als das Urteil, zu welchem derselbe Grote gerade durch die politische Erfahrung seiner späteren Jahre in bezug auf die Bedeutung der englischen Wahlen gekommen ist? »Nimm einen Bruchteil der Gesellschaft,« lautet ein Wort von ihm aus dieser späteren Zeit, »mache einen Durchschnitt davon von oben bis unten und prüfe dann die Zusammensetzung der aufeinander folgenden Schichten. Sie sind von Anfang bis zu Ende einander sehr ähnlich. Die Anschauungen gründen sich sämtlich auf die gleichen sozialen Instinkte, niemals auf eine klare und erleuchtete Erkenntnis der Interessen des Ganzen. Jede besondere Klasse verfolgt ihre eigenen, und das Resultat ist ein allgemeiner Kampf um die Vorteile, welche aus der Herrschaft einer Partei erwachsen.«504

[124] Das hätte Plato genau ebenso sagen können, wie er es ja dem Sinn nach tatsächlich gesagt hat.

Mit strengster Folgerichtigkeit sehen wir in der klassischen Schilderung der Politeia vor unserem geistigen Auge jenen verhängnisvollen Prozeß sich vollziehen, wie durch die absolute Selbstregierung der Gesellschaft der Staat unvermeidlich Mittel und Werkzeug für die Bereicherung der zu politischem Einfluß gelangten Volkselemente wird und so zu einer Klassenherrschaft der Besitzenden entartet, wie dann in naturgemäßem Rückschlag bei fortschreitender Radikalisierung der öffentlichen Institutionen die große Masse die Möglichkeit zu gleichem Mißbrauch erhält, bis am Ende die »freieste« Verfassung in ihr diametrales Gegenteil, in den cäsarischen Despotismus umschlägt.

Das wertvollste und für die Gegenwart wichtigste Ergebnis dieser geschichtlichen Erörterung ist die wissenschaftliche Überwindung des abstrakten Freiheitsprinzipes der radikalen Demokratie, die alle Freiheit einseitig als individuelles Recht ansieht und die mit diesem Rechte verbundenen sozialen und politischen Pflichten mehr oder minder ignoriert. Unwiderleglich ist der Nachweis, daß da, wo die atomistisch-individualistische Freiheits- und Gleichheitsidee der »reinen« Demokratie vollständig verwirklicht und der Massenmehrheitswille das entscheidende Moment für Regierung, Gesetzgebung und Verwaltung geworden ist, der Staat einer zur Erfüllung dieser Pflichten ebensowenig fähigen, wie gewillten Massenherrschaft anheimfällt, und daß diese Mehrheit die politische Macht für die Sonderinteressen derjenigen, welche die Mehrheit bilden, stets ebenso rücksichtslos ausbeuten wird, wie sie die plutokratische Minderheit nur jemals für sich ausgebeutet hat. Die unerbittliche Logik dieser Schlußfolgerungen läßt nirgends mehr Raum für den optimistischen Trost derjenigen, die da wähnen, das gleiche Stimmrecht trage die Heilung solcher Übelstände in sich selbst.

Dem Glauben an die absolute Vortrefflichkeit des gleichen Stimmrechts, der ohne weiteres den jeweiligen Mehrheitswillen mit dem »Volkswillen« identifiziert und – als ob niemals auf ein perikleisches Zeitalter eine Kleonepoche gefolgt wäre – die Erkorenen dieser Massenmehrheit für die geeignetsten Träger staatlicher Funktionen hält, – diesem naiven Glauben des politischen Radikalismus wird von Plato die klare Erkenntnis der geschichtlichen Tatsache entgegengesetzt, daß das absolute Majoritätsprinzip stets auf die Vergewaltigung eines mehr oder minder großen Teiles der bürgerlichen Gesellschaft hinausläuft und so gerade[125] das, was es verspricht, die »gleiche Freiheit aller« am wenigsten zu erreichen vermag. Der Kampf, den die deutsche Staatswissenschaft mit ihrer grundsätzlichen Forderung einer machtvollen Darstellung des Staatsgedankens gegen die Wahnidee der sogenannten Volkssouveränität führt, ist im Grunde bereits durch die platonische Staatslehre entschieden.

Es ist ja begreiflich, daß der politische Doktrinarismus des neunzehnten Jahrhunderts für Erörterungen, wie die im achten Buche der Politeia, kein Verständnis hatte, solange die besitzende Bourgeoisie mit ihrem Interesse an individueller Freiheit und die besitzlose Masse mit ihrer Forderung politischer Gleichheit noch einig Hand in Hand gingen. Jetzt, wo die Scheidung eingetreten ist, die Plato längst als eine notwendige Entwicklungsphase der Demokratie erkannt hat, ist uns die Richtigkeit seiner Darstellung des Entwicklungsprozesses der rein individualistischen Freiheits- und Gleichheitsidee mit erschreckender Deutlichkeit aufgegangen. Wir wissen jetzt, wie er, daß das Freiheitsprinzip der wirtschaftlich starken und besitzenden Klassen, welches den Staat von allem weg haben will, was ihren Gewinntrieb einengt, stets sein unvermeidliches Korrelat findet in der gleich extrem individualistischen Freiheits- und Gleichheitsidee der Masse, daß dieselbe aus ihrem politischen Individualismus ebenso rein wirtschaftliche Konsequenzen zieht, wie das besitzende Bürgertum, und daß so dieses selbst in der politischen Demokratie den Feind seiner Freiheit und seines Eigentums heranzieht, den die Gegenwart als Sozialdemokratismus bezeichnet.

Mit diesem aus einer unvergleichlichen geschichtlichen Erfahrung geschöpften Nachweis hat Plato für alle Zeiten das Wahnideal des schrankenlosen Individualismus zerstört, der das Volk nur als Summe von einzelnen, den Staatswillen nur als Massenmehrheitswillen aufzufassen vermag und an Stelle des gegliederten Volkes eine Individuenmasse setzt. Siegreich bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß der Staat nicht der Kopfzahlmehrheit, sondern dem ganzen Volke in seiner lebendigen Gliederung gehört, und daß daher diese Gliederung auch im Organismus der Verfassung zum Ausdruck kommen muß, wenn nicht die Existenzbedingungen des Ganzen geschädigt werden sollen.

Denn diese, die Lebensbedingungen des Ganzen, nicht ein atomistischer Freiheits- und Gleichheitsbegriff werden als das maßgebende Moment für die Verteilung der öffentlichen Rechte und Pflichten erkannt. Mit sicherem Blick für die wahren Bedürfnisse staatlichen Lebens wird[126] an die Stelle des absoluten Gleichheitsprinzipes der Demokratie, das »Ungleichen Gleiches« zuspricht, der Begriff der »wahren« Gleichheit gesetzt, d.h. der Verhältnismäßigkeit zwischen politischem Machtanteil und persönlicher Leistung. Es wird endlich nicht minder treffend jener Gleichheitsforderung der Demokratie das von Plato als eine Lebensfrage für den staatlichen Organismus anerkannte Postulat der Einheit des Staates entgegengestellt, in der richtigen Erkenntnis, daß ein Prinzip, durch welches die Vielheit als solche (οἱ πολλοί!) zur Herrin des staatlichen Willens wird, die unentbehrliche Einheit dieses Willens unmöglich macht und so den staatlichen Organismus selbst mit dem Zerfalle bedroht.

Hatte der Volksstaat das Recht des einzelnen und zwar jedes einzelnen anerkannt, zu regieren und Gesetze zu geben, zu verwalten und richten oder Richter, Verwaltungs- und Regierungsorgane gleichberechtigt zu wählen, so schöpfte dagegen Plato aus der lebendigen Einsicht in die Konsequenzen dieses Systems die Erkenntnis, daß die staatliche Tätigkeit in Regierung, Verwaltung und Gesetzgebung eines besonderen ausgebildeten Organismus bedarf, der nicht heute durch den momentanen Willensakt eines Wählerhaufens in das Dasein gerufen ist, um binnen kurzem in diesem Moloch wieder zu verschwinden. Dem einseitig politischen Doktrinarismus, der in einem solchen Zustand seine Befriedigung findet, wird die gesunde realpolitische Erwägung entgegengesetzt, daß es für die Entscheidung der Frage, ob eine Verfassung als Beeinträchtigung wahrer Freiheit und Gleichheit empfunden wird, vor allem darauf ankommt, ob das Volk seine Angelegenheiten in den Händen einer gerechten und weisen Regierung wisse oder nicht. Plato spricht damit nur einen Gedanken aus, der gerade von der öffentlichen Meinung der Gegenwart mehr und mehr geteilt wird, daß nämlich die Verwaltung des Staates für das Wohl und Wehe der großen Mehrzahl der Bevölkerung noch mehr bedeutet als die Verfassung.505

Die hohen Anforderungen, welche Plato von diesem Standpunkte aus an die Tätigkeit des Staates und damit an die Leistungen seiner Organe stellt, schließen aber noch weitere Postulate in sich, welche recht eigentlich auf den modernen Staat hinweisen. Plato ist nämlich zu der Erkenntnis gelangt, daß die technisch möglichst vollkommene Verwirklichung der Staatszwecke – des Kultur – und Wohlfahrtszweckes ebenso wie des[127] Machtzweckes – gleich dem Produktionsprozeß der Volkswirtschaft nur durch die qualifizierte (berufsmäßige) Arbeit erreichbar ist, daß also von vorneherein ein Teil der Bevölkerung nach dem Prinzipe der Arbeitsteilung sich ausschließlich dem Staatsdienste zu widmen und sich für denselben eigens auszubilden hat, um den hohen Anforderungen an die Qualität der Staatsleistungen wirklich entsprechen zu können. In dieser Beziehung ist der platonische Staat ein moderner Staat, indem er wie dieser mit fest angestellten, berufsmäßig gebildeten und besoldeten Beamten arbeitet. »Was Plato« – sagt ein moderner Sozialpolitiker – »so tiefsinnig durch die sorgfältige Erziehung der »Wächter« in seinem Staate erreichen wollte, ist heute ein größeres praktisches Bedürfnis als jemals. In diesem Punkte sind seine Anschauungen wieder von ewigem Werte. Daher muß wohl auch hier wieder mehr an Ideen angeknüpft werden, wie sie eben in Platos Staat über die Notwendigkeit einer richtigen Staatsdienererziehung entwickelt worden sind.«506 In wahrhaft vorbildlicher Weise wird hier gegenüber der demokratischen Neigung, Macht und Wert der geistigen Arbeit im politischen Leben zu unterschätzen, der ethische, soziale und politische Wert des Wissens, die Bedeutung der wissenschaftlich geschulten Einsicht für die Durchführung der staatlichen Aufgaben dargelegt und die Wissenschaft als Führerin des Lebens proklamiert.

Dasselbe Prinzip, aus dem sich für Plato die angedeuteten mustergültigen Grundsätze der Verfassungspolitik ergaben, ist dann natürlich auch maßgebend auf dem Gebiete des Privatrechtes und der Verwaltungspolitik. Wie die Frage der staatsbürgerlichen Freiheit vor allem aus den Bedingungen des Gemeinschaftslebens heraus beurteilt wird, so auch die der wirtschaftlichen Freiheit: auch darin in Übereinstimmung mit der sozialen Richtung der modernen Staatswissenschaft.

Der platonische Staat gestaltet – um mit Jhering zu reden507 – alles Recht nach Maßgabe der gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit. Er erkennt kein Recht an, welches nicht durch die stetige Rücksicht auf die Gemeinschaft beeinflußt und gebunden ist; ganz wie die moderne Sozialwissenschaft, wenn diese auch nicht mit den extremen Folgerungen einverstanden sein kann, die er aus dem Sozialprinzip zuungunsten des Privateigentums und der Vertragsfreiheit gezogen hat.

Ebenso modern ist ein Teil der allgemeinen Grundanschauungen,[128] welche Plato vom Standpunkt des Gemeinschafts- und Wohlfahrtsprinzipes über die Notwendigkeit einer umfassenden Staatstätigkeit in der Volkswirtschaft geäußert hat. Er nimmt auch hier Gedanken der Zukunft vorweg, indem er aus den Übelständen, welche ein Übermaß von wirtschaftlicher Freiheit zur Folge hat, den sozialpolitischen Beruf des Staates und die Notwendigkeit erweist, an Stelle einer einseitig-individualistischen, für die wirtschaftlich Starken und Mächtigen allzu freie Bahn schaffenden Gestaltung des wirtschaftlichen Verkehrsrechtes eine in stärkerem Maße gemeinwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft anzustreben. Auch darin sich enge berührend mit einer Zeit, die, wie die Gegenwart, unter dem Zeichen einer fortschreitenden Ausdehnung der gemeinwirtschaftlichen auf Kosten der privatwirtschaftlichen Unternehmung steht.

Dabei bleibt sich Plato vollkommen konsequent, wenn er aus demselben Sozialprinzip, das ihn einen einseitigen Demokratismus auf dem Gebiete der Verfassungspolitik verwerfen ließ, die Notwendigkeit einer stärkeren Demokratisierung der Volkswirtschaft folgert.

Er verlangt vom Staate mit Recht ein Doppeltes: einmal die Bekämpfung des Egoismus und der Überhebung des großen Besitzes, die Aufrichtung von Schutzwehren gegen die Plutokratie, anderseits Maßregeln positiver Sozialpolitik im Interesse der möglichsten Sicherstellung der Masse gegen Nahrungsnot und Erwerbslosigkeit. Denn er hat ein außerordentlich lebhaftes Gefühl für die sittliche Herabwürdigung und die »Knechtung« der Persönlichkeit, welche eine solche zur reinen Klassenherrschaft entartete Volkswirtschaft für die Masse der Besitzlosen zur Folge hat; er verwirft grundsätzlich Zustände, welche den einzelnen ökonomisch oder rechtlich in eine Lage versetzen, in der seine Persönlichkeit gänzlich aufhört, sich selbst Zweck zu sein; weshalb er ja auch die persönliche Freiheit gefordert hat für alles, was Heldenantlitz trägt. Er proklamiert den Kampf gegen die »Armut«, d.h. gegen die Vernichtung und Verkrüppelung ganzer Gesellschaftsschichten, zu welcher eine übermäßige Ungleichheit des Einkommens notwendig führen muß.

Aber die Berührung mit den sozialreformatorischen Bestrebungen der Gegenwart geht noch weiter. Plato will nicht nur verhindert wissen, daß die unteren Schichten der Gesellschaft unter ein gewisses Niveau herabsinken, sondern es soll auch allen aufstrebenden Talenten die Möglichkeit[129] geschaffen werden, auf der sozialen Stufenleiter so hoch emporzusteigen, als die persönliche Begabung gestattet. Es soll womöglich einem jeden der Beruf zugänglich gemacht werden, für den seine körperlichen und geistigen Anlagen am besten sich eignen. Der platonische Staat weist der Volkserziehung der Zukunft Ziel und Wege, indem er den begabtesten Kindern des Volkes die Möglichkeit erschließt, auf dem Wege der Bildung in den Besitz der höheren Kulturgüter zu gelangen. Den Genies und Talenten aller Klassen soll die Gelegenheit zur Ausbildung für alle ihrer Eigenart entsprechenden Berufszweige, selbst für die höchsten, gewährt werden. Die Talente aus dem Volke sollen, statt in Haß und Neid gefährliche Wühler und Umstürzler zu werden, die höheren Klassen verstärken. Wer befähigt ist zu herrschen, wer die geschicktesten Hände hat, soll nicht durch willkürliche Schranken gehindert werden, auch wirklich zur Herrschaft zu gelangen, sein Geschick auch wirklich zu betätigen.

Und diese Aussicht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit eröffnet der platonische Staat nicht nur dem männlichen Geschlecht, sondern in gleichem Umfange auch dem Weibe. Die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis der Geschlechter, nach Natur und Beruf des Weibes, die ja durch die Aufklärung seit den Zeiten des Euripides längst zum Gegenstand theoretischer Erörterungen geworden war,508 wird hier in ganz moderner Weise als eine Kultur- und Lebensfrage des Staates behandelt. Gegenüber einer exklusiven Männerkultur, die das Weib systematisch von der Öffentlichkeit abschloß und auf Frauengemach, Webstuhl und Haushalt beschränkte, will der platonische Staat dem Weibe dieselben Entwicklungsmöglichkeiten, dieselbe Ausbildung zuteil werden lassen, die bis dahin ein Monopol des Mannes war; und es soll keiner Frau die Zulassung zu einem Beruf versagt werden, zu dem sie auf Grund dieser Ausbildung ihre Befähigung erwiesen. Die Klage des Frauenchors in der »Medea« des Euripides »Wenige findest du wohl in der Menge der Frauen, denen die Muse Sinn und Geist verliehen«, würde bei dem Edelgeschlecht des Vernunftstaates gegenstandslos sein; und keine Medea hätte es hier als Frauenlos zu beklagen, daß »uns in eine Seele nur der Blick vergönnt ist«.

Die ganze Größe des platonischen Gedankens wird uns so recht klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß selbst das Christentum in seiner Auffassung der Ehe die orientalische Theorie des Herrschens und Dienens[130] nicht völlig zu überwinden vermocht hat. Noch das Christentum hat unter Berufung auf die primitiven Rechtsanschauungen der semitischen Halbkultur (1. Mos. III 16) den Mann als »Herrn« des Weibes proklamiert und diese »Untertänigkeit« mit der naiven Mythologie begründet, nach der zuerst der Mann509 und dann erst »um des Mannes willen« (!) das Weib geschaffen sein510 soll! Ja dem Weibe wird als der angeblichen Urheberin der Sünde in der Welt und der »Verführerin« des Mannes von Anfang an der Stempel der Minderwertigkeit aufgedrückt511 und dieser echt orientalische Wahn auch dem europäischen Geist als Dogma aufgezwungen! Ein halbes Jahrtausend, nachdem Plato die Ebenbürtigkeit von Mann und Weib verkündet hatte!

Allerdings hat der platonische Doktrinarismus die Emanzipation des Weibes bis zu Forderungen überspannt, vor deren Radikalismus selbst die modernsten Frauenrechtlerinnen zurückschrecken würden. Denn die mechanische Nivellierung, die sich auch hier mit psychologischer Notwendigkeit aus dem Sozialismus ergibt, würde die Natur ebenso vergewaltigen, wie es die Kirche mit ihrem Zölibat getan hat. Sie würde mit ihrer Ertötung der mütterlichen Instinkte und der Mutterliebe gerade die für die Kultur wertvollste Eigenart des Weibes zerstören und mit der Aufhebung der freien Liebeswahl einen Zwang schaffen, der für beide Geschlechter unerträglich wäre. Aber so schwer Plato hier geirrt hat, das Hauptmotiv seines Irrtums, die Verbindung der Frauenfrage mit der der Gattung, mit der großen Frage nach der Veredelung des menschlichen Typus überhaupt,512 enthält doch auch wieder einen tief berechtigten Kern. Gegenüber den verhängnisvollen Wirkungen der wahl- und rücksichtslosen Vermehrung von Individuen, die die Keime des Siechtums und Lasters ungehindert fortpflanzen dürfen, ist gerade von der Gegenwart die Aufgabe, durch Beeinflussung der sexuellen Moral die Zahl der gesunden,[131] besseren und glücklicheren Menschen zu vermehren, die der »belasteten« zu mindern, als eine Lebensfrage ersten Ranges anerkannt. Auch hier zeigt sich eben der mächtige soziale Zug, der in dem Reformsystem Platos zum Ausdruck kommt und mit genialer Kühnheit der Zukunft die Wege weist.

Dieselbe Beobachtung gilt aber auch für die andere Seite dieses Systems: für den Kampf Platos gegen die ökonomischen Disharmonien in der Gesellschaft, so vor allem gegen die sittlich und volkswirtschaftlich so verderbliche Richtung der Produktion, die auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung der großen Mehrheit einseitig dem materialistischen Luxuskonsum der Wohlhabenden zugute kommt.

Plato erkennt, daß die Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, durch die Bedürfnisse des Luxus der Erzeugung notwendiger Existenzmittel des Volkes eine unverhältnismäßige Menge von Arbeitskräften, Kapital und Boden zu entziehen und damit den Nahrungsspielraum des Volkes überhaupt zu gefährden, durch die Staatsgewalt ihre grundsätzliche Schranke finden muß. Er erkennt, daß diese Tendenz durch nichts mehr gefördert wird als durch eine allzu große Ungleichheit des Besitzes; und so ist es für ihn das unabweisbare Ergebnis einer sozialen Auffassung der Dinge, daß keinem Teile des Volkes ein unbedingtes Recht auf ein Übermaß von Einkommen und Besitz zugestanden werden könne, durch welches einem anderen Teile selbst die Befriedigung der notwendigen Existenzbedürfnisse mittelbar oder unmittelbar unmöglich gemacht würde.

Die Geschichte von Hellas selbst, wie die der ganzen Folgezeit, hat unwiderleglich dargetan, daß das, was Plato als Kampf gegen Reichtum und Armut bezeichnet, einen unleugbar richtigen Kern enthält, innerhalb gewisser Grenzen geradezu durch das Lebensinteresse der Völker gefordert ist.

Daher kehrt dies leitende Motiv der platonischen Sozialpolitik auch in der modernen Sozialwissenschaft wieder, die »die soziale Reform im Sinne einer gleichmäßigeren Verteilung des Volkseinkommens« nicht nur als eine Forderung der Humanität und Gerechtigkeit, sondern auch als die Bedingung wahrhaft staatserhaltender Politik zu erweisen sucht.513

[132] In demselben Zusammenhange ergibt sich aber für Plato noch ein weiteres Recht der staatlichen Gemeinschaft gegenüber dem Individuum. Er erkennt, daß auch der erfolgreichste Kampf gegen die übermäßige Konzentrierung des Reichtums und die einseitige Entwicklung der auf Werkzeuge der Üppigkeit gerichteten Luxusproduktion für sich allein nicht ausreichen wird, die Lage der großen Mehrheit des Volkes auf die Dauer günstig zu gestalten. Als Bewohner eines dichtbebauten und dichtbevölkerten Kleinstaates ist er sich sehr deutlich der Tatsache bewußt, daß es nicht bloß die ungleiche Verteilung des Volkseinkommens und Volksvermögens ist, durch welche die auf den einzelnen fallende Quote von Unterhaltsmitteln übermäßig verkürzt werden kann, sondern auch die an natürliche und unübersteigliche Grenzen gebundene Größe des Volkseinkommens. Plato hatte ja stets den höchst intensiven wirtschaftlichen Daseinskampf vor Augen, den der hellenische Stadtstaat zu bestehen hatte, um den Ertrag seiner Volkswirtschaft im Gleichgewicht mit seiner Volkszahl zu erhalten. Er war daher von vorneherein frei von dem Optimismus des Bewohners großer Staaten, die noch umfassende Flächen unangebauten oder schwachbevölkerten Bodens besitzen. Das Bevölkerungsproblem, welches der ökonomische Sozialismus, wie der ökonomische Liberalismus der Neuzeit in leichtherziger Oberflächlichkeit mehr oder minder ignorieren zu dürfen glaubte, es stand ihm in seiner ganzen furchtbaren Bedeutung klar vor Augen. Wenn der moderne Sozialismus dieses Problem einfach durch die Erwägung beseitigen zu können meint, daß die Gefahr einer Übervölkerung nur als das Produkt der bestehenden individualistischen Rechts- und Wirtschaftsordnung eintreten könne und unter der Herrschaft einer sozialistischen Organisation von Produktion und Verteilung überhaupt nicht zu fürchten sei, so hat sich der hellenische Sozialismus von dieser Illusion frei gehalten.

Von Plato wenigstens wird es als ein Hauptsymptom gesunder sozialer Verhältnisse hervorgehoben, wenn ein Volk in verständiger Fürsorge gegen die Gefahr des Massenelendes oder des Krieges514 »nicht über die Unterhaltsmittel hinaus Kinder erzeugt«.515

[133] Und wenn auch die bevölkerungspolitischen Vorschläge Platos unseren sittlichen Begriffen widersprechen, an sich ist doch die Aufnahme des Bevölkerungsproblems in das System der Politik, der Hinweis auf die Gefahren der Übervölkerung, die Anwendung des Gemeinschaftsprinzipes auch auf diese Frage ein Fortschritt von prinzipieller Bedeutung.

Indem nun aber das Sozialprinzip Platos die Ordnung von Staat und Recht, von Gesellschaft und Volkswirtschaft nach den Bedürfnissen des Volkes als einer Totalität gestaltet wissen will, beabsichtigt er mit diesem seinen Sozialismus keineswegs eine Negation alles Individualismus. Die Stellung, welche die platonische Sozialtheorie dem Selbstinteresse einräumt, sein Freiheits-, Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzip wurzelt in der richtigen Erkenntnis, daß es sich nicht um Individualismus oder Sozialismus handelt, sondern um Individualismus und Sozialismus, daß die theoretische und praktische Streitfrage nicht ein Entweder – oder ist, sondern ein Sowohl – als auch.516 Allezeit wird dem platonischen Staat der Ruhm bleiben, die erste theoretische Vermittlung zwischen den mächtigen sozialen Gestaltungstendenzen versucht zu haben, welche alles menschliche Leben in ewig wechselnden Formen beherrschen. –

Nach alledem wird es nicht zuviel gesagt erscheinen, wenn wir – anknüpfend an die Worte, die Ranke einer kriegerischen Ruhmestat der athenischen Bürgerschaft gewidmet hat, – das geniale Geisteswerk ihres größten Sohnes ein Werk nennen, das »voll von Zukunft« ist. Was man an dem Sozialstaat Fichtes gerühmt hat,517 es gilt auch – soweit man eben nur die hervorgehobenen Momente ins Auge faßt – von Plato: »Was er erkennt, sind die wahren Aufgaben der menschlichen Gesellschaft.«

Dieser Ruhmestitel bleibt, so schwer auch in die andere Wagschale das fällt, worin er geirrt hat. Denn daß hier mit der Fülle der Erkenntnis die größten und folgenschwersten Irrtümer Hand in Hand gehen, das tritt ja nicht minder klar zutage!

[134] Schon das Ziel selbst, das hier aufgestellt wird, zeigt uns die Theorie noch im Kindesalter einer falschen konstruierenden Metaphysik.

Plato bezeichnet, wie wir sahen, als Endzweck seines Staatsideals die Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit. Wonach bestimmt sich aber der Inhalt dessen, was das Gerechte sein soll? Einfach danach, daß der platonische Staat den Anspruch erhebt, der »naturgemäße« Staat zu sein (κατὰ φύσιν οἰκισϑεῖσα πόλις).518 Das Recht, das er schaffen will, ist daher ebenfalls »der Natur gemäß«. Es ist Recht, nicht weil es irgendwo auf Erden gilt – das erscheint völlig gleichgültig519 –, sondern weil es der unverfälschten menschlichen Natur als solcher, überhaupt der ewigen Naturordnung und damit der über der Natur waltenden Vernunft entspricht. Im Himmel mag wohl der »im Reiche der Ideen liegende Staat« (πόλις ἐν λόγοις κειμένη)520 als ein heiliges Musterbild zu finden sein für denjenigen, der ihn schauen will.521 Daher ist auch das Recht, das der Idealstaat verwirklicht, nicht bloß »Recht« für eine bestimmte Zeit und unter bestimmten konkreten Verhältnissen, sondern es ist – zumal dem Wandel des jeweiligen positiven Rechtes gegenüber – das überall Gleiche, Ewige, Unveränderliche. Es hat als das absolut Vernünftige und Vollkommene keine Entwicklung, da das, was für die Vernunft heute gilt, ebenso für alle Zeiten und unter allen Umständen Geltung beansprucht.522 Wo es gelingt, dieses Recht als das Ursprüngliche, im Laufe der Geschichte nur Verfälschte und Verdorbene in seiner Reinheit wieder herzustellen, die durch Egoismus und Unverstand hervorgerufenen Mißbildungen und Entstellungen wieder zu beseitigen, da ist das Reich der Vernunft und des Glückes auf Erden begründet!

Diese ganze Auffassung ist, wie schon angedeutet, das Produkt einer falschen Metaphysik. Der Begriff eines Rechtes an sich ist ein Phantom und zwar ein höchst verhängnisvolles, da er die Sozialtheorie vor ein Problem stellt, welches ebenso unlösbar ist wie die Quadratur des Zirkels.

Nichts könnte die Unfruchtbarkeit der hier formulierten Aufgabe drastischer beweisen als die Tatsache, daß der Inhalt der »naturrechtlichen« Forderungen zu verschiedenen Zeiten ein höchst verschiedener gewesen[135] ist. Wie ganz anders sieht das Naturrecht Platos aus im Vergleich mit dem Naturrecht der damaligen Aufklärungsphilosophie oder dem Naturrecht der modernen Metaphysik des Rechtes! Der beste Beweis dafür, daß das Naturrecht eben in Wirklichkeit nicht aus einer Menschennatur in abstracto entwickelt ist, sondern aus den Anschauungen und Bedürfnissen von Individuen oder Gruppen, daß es das Ergebnis ganz bestimmter historischer Voraussetzungen, eines ganz bestimmten Standpunktes der Kultur ist.523

Das πρῶτον ψεῦδος der naturrechtlichen Metaphysik ist die völlige Verkennung der Tatsache, daß eben auch ihren Forderungen nur eine relative Berechtigung zukommen kann. Daher der naive Optimismus in bezug auf die Ausführbarkeit derselben! Was ein entwickeltes sittliches Bewußtsein als »Recht« fordert, erscheint auf diesem Standpunkt ohne weiteres auch als möglich. Die Frage, ob es von den realen Kräften des Lebens überhaupt geleistet werden kann, ist von vorneherein bejaht. Eine Illusion erzeugt eben die andere! Die für jede Gesetzgebungspolitik grundlegende Frage, ob überhaupt in einer bestimmten Zeit die Bedingungen für die Verwirklichung der betreffenden Forderungen gegeben sind, braucht bei dieser Auffassung nicht ernstlich erwogen zu werden. Um ein Recht, das vom Anfang aller Geschichte an »Recht« ist und in der Natur der Dinge selbst wurzelt, zur Anerkennung zu bringen, erscheint auch die Kraft eines einzelnen hinreichend, wenn er nur die nötige Macht besitzt. Daß die Umwandlung sozial-ethischer Ideen in Normen oder Institute des positiven Rechts durchaus abhängig ist von dem jeweiligen Stande der allgemeinen Kultur und ganz besonders der sittlichen Kultur, das wird mehr oder minder verkannt. Daher auch der Grundirrtum Platos, daß es sich bei der Aufstellung eines Staatsideals um ein Projekt handle, welches die unmittelbare praktische Verwirklichung verträgt.

In eigentümlichem Gegensatz zu diesem Anspruch auf die unmittelbare Realisierbarkeit des Staatsideals steht die Art und Weise, wie – allerdings der Natur des Problems entsprechend – der Stoff vor allem systematisch zu bewältigen versucht wird, wie alles Gewicht auf die[136] logische Korrektheit der deduktiv gewonnenen Sätze, auf die Formulierung von Axiomen gelegt wird, aus denen sich alles Weitere mit logischer Notwendigkeit ergeben soll, während doch die Reibungswiderstände des wirklichen Lebens unvermeidlich außer Ansatz bleiben müssen.

In dem Bestreben nach Systematisierung wird nur zu häufig verkannt, daß keine menschliche Institution ihre äußersten Konsequenzen verträgt, daß sich für die praktische Ausführung eines allgemeinen Prinzipes infolge des Entgegenwirkens anderer gleichberechtigter Ideen und Bedürfnisse immer mehr oder minder weitgehende Begrenzungen ergeben werden. Was der Biograph eines modernen Nachfolgers Platos als einen »durchaus modernen« Fehler rügt,524 das Auftürmen mächtiger Konstruktionen, ohne daß sorgfältig genug untersucht wäre, ob das Fundament sie zu tragen vermag, – eben das gilt für den platonischen Staat in besonderem Maße.

Diese Beobachtung drängt sich uns gleich bei dem grundlegenden Prinzip der Verfassung des Idealstaates auf. So berechtigt die Forderung einer selbständigen Repräsentation des Staatsgedankens durch die möglichste Konzentrierung der Macht in den Händen der Befähigten ihrem Kerne nach ist, so einseitig ist die Lösung, welche dies schwierige Problem bei Plato gefunden hat. Er will nicht bloß eine starke, sondern eine geradezu allmächtige Regierung, weil er durch sein Erziehungssystem dem Staate Regenten geben zu können glaubt, die durch die Tiefe und Universalität ihres Wissens und ihrer Erfahrung, durch die Idealität ihrer Gesinnung eine so eminente Bürgschaft für die dem Gesamtwohl förderlichste Verwirklichung der staatlichen Aufgaben gewähren würden, daß jede konstitutionelle Beschränkung ihres Willens nur eine Lähmung der Energie und Leistungsfähigkeit des Staates selbst wäre.

Zwar haben wir es hier mit einem Gedanken zu tun, der seit Plato immer und immer wieder und nicht am wenigsten in der Neuzeit die Geister angezogen hat. Von Fichte und Saint Simon bis auf Nietzsches Philosophem: »die cäsarischen Züchtiger und Gewaltmenschen der Kultur, die da sagen: so soll es sein, die das Wohin? und Wozu? des Menschen bestimmen und mit schöpferischer Hand nach der Zukunft greifen, deren Erkennen Schaffen, deren Schaffen Gesetzgebung!«525 Unter dem Eindruck der Erfahrungen der modernen französischen Demokratie kommt ein Renan zu der Überzeugung, daß die Entwicklung der menschlichen Wohlfahrt, der Fortschritt in der Realisierung von Wahrheit und[137] Gerechtigkeit sich nicht durch »alle«, nicht durch die Demokratie vollenden könne, sondern nur durch das, was er ganz platonisch »Regierung der Wissenschaft« nennt, eine Aristokratie, welche »der Menschheit als Kopf dienen und in welche die Menge den Sammelplatz für ihre Vernunft verlegen würde«. Diese Auslese der Geister würde im Besitze der bedeutsamsten Geheimnisse des Daseins die Welt durch die mächtigen, in ihrer Gewalt stehenden Wirkungsmittel beherrschen.526 Die Idee einer geistigen, auf die Überlegenheit der Intelligenz gegründeten Macht könne zur Wirklichkeit werden, ohne daß diese unumschränkte Herrschaft eines Teiles der Menschheit über einen anderen etwas Gehässiges an sich haben würde. Denn die Aristokratie, von der er träume, würde nicht von persönlichem oder Klassenegoismus geleitet werden, sondern die Verkörperung der Vernunft sein. – Schade nur, daß Renan selbst diese Idee eines Zeitalters, in welchem »die Kraft die Herrschaft der Vernunft begründen wird«, als einen Traum bezeichnen muß! Und das wird sie in der Tat bleiben, so viele auch nach ihm noch diesen Traum Platos träumen werden.

Schon die Voraussetzung, von der Plato ausgeht, der Glaube an die Möglichkeit und den Bestand einer Gesellschaftsklasse, welche in ununterbrochener Kontinuität aus sich selbst die denkbar höchsten und idealsten Leistungen auf rein geistigem, wie auf politisch-militärischem Gebiete zu erzeugen vermag, kann vor einer nüchternen Anschauung der Dinge nicht bestehen. Die Mittel, durch welche Plato den Bestand einer solchen Klasse sichern zu können glaubt, sind mehr oder minder illusorisch. So hoch man die Macht einer rationellen Erziehung, den Einfluß wissenschaftlicher Durchbildung anschlagen mag, – Hoffnungen, wie sie Plato auf sein Erziehungssystem aufbaut, werden sich nie erfüllen. Darüber wird sich am wenigsten die Gegenwart einer Täuschung hingeben, seitdem sie auf die Erfahrungen einer Zeit zurückblicken kann, in der das allgemeinste Interesse sich auf die Förderung des pädagogischen Problems konzentrierte, in der man von einer »natur- und vernunftgemäß« erzogenen Jugend das Heil der Welt erwarten zu dürfen glaubte; – ein Glaube, der sich längst als trügerisch erwiesen hat. Wenn auch die sozialistischen Erziehungsoptimisten der Neuzeit noch so fest[138] überzeugt sein mögen, daß das Genie sich züchten lasse, die ideale Geistesaristokratie des platonischen Staates ist nicht minder ein Phantom, wie die Masse von Michelangelos und Lionardos, welche Bebel für seinen Sozialstaat in Aussicht stellt.

Insbesondere hat Plato – in diesem Punkte ist auch er ganz ein Kind der Aufklärung – die ethische Bedeutung des Wissens weit überschätzt. Das richtige Wissen verbürgt durchaus nicht in dem Grade die richtige Gesinnung und das richtige Handeln, wie das die platonische Moralphilosophie annimmt. Sie verkennt die Zwiespältigkeit der Menschennatur, in der Intelligenz und Sittlichkeit keineswegs Korrelate sind.

Auf gleich irrtümlicher Schätzung beruhen ferner die Ansichten Platos über die psychologischen Wirkungen der Institutionen, in denen er eine weitere Bürgschaft für die sittliche Integrität der höheren Klassen sucht. Wie utopisch ist die Hoffnung, welche er an den Kommunismus knüpft, die Erwartung, daß mit der Aufhebung des Privateigentums und der Familie alle Quellen der Selbstsucht und Begierden versiegen würden! Man hat dieser Illusion, welche übrigens bei allen späteren Utopisten immer wiederkehrt, längst die Erfahrung entgegengehalten,527 daß die menschliche Leidenschaft sich unter allen Umständen mit Gier ihre Objekte sucht, daß unter Männern, die keine Nahrungssorge mehr kennen, mit um so ungezügelterer Leidenschaft der Kampf um das Weib entbrennen würde, daß in einem solchen Geschlecht Ehrgeiz und Ruhmsucht die Stelle frei finden würden, welche die Gewinnsucht verlassen hat, daß mit einem Wort im Menschen ein Quantum von Leidenschaft enthalten ist, mit welchem überall gerechnet werden muß, wo es sich um einen auch nur etwas größeren Kreis von Individuen handelt.

Gegen solche Gefahren gewährt auch die rein sozialistische Organisation der Jugenderziehung, die zwangsweise Erziehung in Staatsanstalten keine Gewähr. Im Gegenteil! Die Art und Weise, wie im platonischen Staat der künftige Krieger und Beamte schon von zartester Kindheit an von der ganzen übrigen Bevölkerung ständisch abgeschlossen wird, ist nichts weniger als geeignet, jenes volksfreundliche und volkstümliche[139] Beamtentum zu erziehen, auf das Plato so großen Wert legt. Viel eher würde hier der Geist der Überhebung großgezogen werden, der mit psychologischer Notwendigkeit die Entartung zur Klassenherrschaft herbeiführen müßte. Auf der anderen Seite würde die Überspannung des staatlichen Zwanges in diesem System und die übermäßige Konzentrierung der Macht in der Hand der Regierenden bei der Hüterklasse die Devotion nach oben, den Geist des Strebertums und der Kriecherei ebenso systematisch begünstigen, wie die Überhebung nach unten. Der Mut, der fest zur eigenen Überzeugung steht, die sittliche Kraft, welche auch vor der Ungnade des Mächtigen nicht feige zurückweicht, sie würden ertötet durch die Charakterlosigkeit, die immer erst nach oben Sieht, die vor allem Reden und Handeln immer erst fragt, ob es auch »genehm« ist und »gerne gesehen« wird. Gerade das, was den führenden Elementen des Volkes nicht minder nottut als der Geist der Zucht und Ordnung: Charakterfestigkeit, Selbständigkeit, Kraft der Initiative würde hier unvermeidlich verkümmert werden. Welche Gefahr aber in einem System liegt, das die Entwicklung der so nahe miteinander verwandten despotischen und knechtischen Anlagen der menschlichen Natur in solcher Weise begünstigt, das bedarf keines Beweises. Übrigens ist das ganze System auch keineswegs so »naturgemäß«, wie Plato annimmt. Die Grundlage desselben: die allgemeine Ersetzung der Familienerziehung durch die Staatsammenschaft ist eine Absurdität. Selbst im Bienenstaat sind die Ammen, welche zugleich die einzigen Arbeiterinnen sind und die Kinder einer einzigen königlichen Generalmutter erziehen, wenigstens geschlechtslose Individuen.528

In der Tat muß sogar Plato selbst die Unzulänglichkeit der zur Organisation der Hüterklasse vorgeschlagenen Maßregeln unwillkürlich einräumen, indem er, um dieselbe möglichst frei von innerem Zwist zu erhalten – insbesondere bei der obrigkeitlichen Regelung des Geschlechtsverkehres –, als »Arzneimittel« ein System des Truges und der Lüge für notwendig hält, welches zu der vorausgesetzten Gesinnung dieser Klasse in eigentümlichem Widerspruch steht.529 Welche Gewähr bietet eine Regierung, welche solcher Mittel bedarf, um ihrer eigenen Organe sicher zu sein?

[140] Damit ist im Grunde auch das Problematische der eben nur durch Lug und Trug realisierbaren physiologischen Experimente zugestanden, in denen Plato ein Hauptmittel für die Erzeugung und Erhaltung einer zum öffentlichen Dienst prädestinierten Klasse gefunden zu haben glaubt.

Zwar ist gerade dieser Gedanke von der Neuzeit wieder aufgenommen worden. Ich erinnere nur an die Äußerung Schopenhauers: »Will man utopische Pläne, so sage ich: Die einzige Lösung des Problems wäre die Despotie der Weisen und Edlen, einer echten Aristokratie, eines echten Adels, erzielt auf dem Wege der Generation, durch Vermählung der edelmütigsten Männer mit den klügsten und geistreichsten Weibern. Dieser Vorschlag ist mein Utopien und meine Republik des Platon.«530

Ein Gedanke, der übrigens der Gegenwart durch die moderne Evolutionstheorie und den Darwinismus besonders nahegelegt war. Wenn es richtig ist, daß sich im Laufe der Zeiten aus den niedrigsten Organismen die höherstehenden Lebewesen und zuletzt der Mensch entwickelt hat, warum sollte sich da nicht am Ende aus dem Menschen ein noch höheres Wesen entwickeln können, dessen geistige und moralische Kräfte Anforderungen zu genügen vermögen, denen sich die menschliche Natur bisher nicht gewachsen zeigte? – Renan hat auch diese Idee aufgenommen. Er meint: »Eine ausgedehnte Anwendung der Entdeckungen auf dem Gebiete der Physiologie und des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl könnte möglicherweise zur Schöpfung einer höherstehenden Rasse führen, deren Recht zu regieren nicht nur in ihrem Wissen, sondern selbst in dem Vorzug ihres Blutes, ihres Gehirns und ihrer Nerven begegründet wäre.«531

Wer denkt hier nicht unwillkürlich an die Idee vom »Übermenschen«, wie sie die Sozialtheorie Nietzsches – allerdings in wesentlich anderem Sinne als Plato – entwickelt hat, an die Lehre von der Veredelung der menschlichen Natur, die er als »Erhöhung des Typus Mensch« bezeichnet, und die er sich ebenfalls als das Werk einer aristokratischen Gesellschaftsverfassung denkt? Auch hier wird die Hoffnung ausgesprochen, daß sich auf solcher Grundlage eine ausgesuchte Art Wesen zu einer höheren Aufgabe, überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermöge,[141] als die bisherige Menschheit, »vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java, welche mit ihren Armen einen Eichbaum so lange und so oft umklammern, bis sie endlich hoch über ihm, aber auf ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur Schau tragen können.«

Allein was können solche Spekulationen über den »Menschen der Zukunft« für die Soziallehre bedeuten? Man mag sich mit dem Philosophen des Aristokratismus an der Vorstellung berauschen, was alles noch unter besonders günstigen Verhältnissen aus dem Menschen zu züchten wäre, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die größten Möglichkeiten ist, soviel ist gewiß, daß eine Sozialtheorie, deren Verwirklichung durch eine derartige Erhöhung des Typus Mensch bedingt ist, auf unabsehbare Zeit eine utopische bleibt. Damit ist auch die Frage der Ausführbarkeit des platonischen Staates entschieden! Denn Plato selbst hat, wie wir sehen werden, in einer späteren Phase seines sozialpolitischen Denkens zugeben müssen, daß sein Regierungsideal nicht realisierbar ist ohne das, was man eben den »Übermenschen« nennen könnte. Er ist zuletzt selbst zu der Erkenntnis gelangt, daß die vorgeschlagene soziale Organisationsform – insbesondere der ideale Kommunismus – Menschen voraussetzen würde, die auf einem unendlich viel höheren Niveau der Sittlichkeit und Intelligenz stehen müßten, als es für die gegenwärtige Menschheit erreichbar sei: es müßten sozusagen Götter und Göttersöhne sein.532

Die Gewalt selbst, welche den Regenten des Vernunftstaates eingeräumt wird, stellt die menschliche Natur auf eine Probe, der sie, wie Plato ebenfalls später zugibt, auf die Dauer nicht gewachsen wäre. Eine so schrankenlose Macht erträgt eben der Mensch nicht. Sie wird in seiner Hand zuletzt immer zum Werkzeug der Selbstsucht werden.533 Daher ist es eine Lebensbedingung des wirklichen Staates, daß jede Gewalt in ihm mit Schutzvorrichtungen gegen ihren Mißbrauch umgeben wird, daß – um mit J. Stuart Mill zu reden – in seiner Verfassung ein Zentrum des Widerstandes gegen die vorherrschende Gewalt enthalten ist. Und wie ein Gegengewicht ihrer Macht, so erfordert die Menschlichkeit und Gebrechlichkeit selbst der besten Regierung eine beständige Ergänzung, wie sie eben nur die selbsttätige Beteiligung der Bürger an der Bildung des Staatswillens zu gewähren vermag, vorausgesetzt, daß der Stand der allgemeinen Kultur eine solche Mitwirkung gestattet.

[142] Ja gerade im Interesse der Sozialreform liegt eine möglichst allgemeine Heranziehung des Volkes. Denn die Geschichte aller Aristokratien, auch der besten, läßt nur zu deutlich erkennen, daß – so, wie die menschliche Natur nun einmal ist, – ohne den Antrieb der Masse des Volkes eine allseitig durchgreifende, dem Klassenegoismus und Klassenvorurteil rücksichtslos entgegentretende Reformpolitik, ein positives Wirken für das »Volk«, wie es ja gerade der Sozialstaat Platos will, auf die Dauer kaum denkbar ist.

Wenn also Plato glaubt, daß eine allmächtige Staatsgewalt in einem »wahrhaft freien« Staate denkbar sei und daß eine solche Regierung so sehr den idealsten Anforderungen zu genügen vermöge, daß ihre Herrschaft verständigerweise von niemand als drückender Zwang empfunden werden könne, sondern als die beste Vertretung der Interessen aller die freie Zustimmung aller Klassen finden würde, so ist dieser Gedanke eine reine Utopie. So richtig Plato das Endziel aller Politik erfaßt hat, wenn er das Ideal einer Regierung in der freiwilligen Unterordnung der Regierten, in der harmonischen Ausgleichung zwischen der Idee der Freiheit und der Notwendigkeit staatlichen Zwanges erblickt, – in den Mitteln zur Erreichung dieses Zieles hat er völlig fehlgegriffen.

Diese Mittel – vor allem die Züchtung einer Aristokratie von Halbgöttern, zu der ein politisch unmündiges Volk nur mit scheuer Ehrfurcht, und Bewunderung emporzublicken vermöchte, – stehen übrigens auch in einem unversöhnlichen Gegensatz zu dem Ergebnis, welches die Geschichte der Kulturmenschheit wenigstens bisher gezeigt hat. Wie durch den bisherigen Verlauf der Geschichte eine früher ungeahnte Verallgemeinerung der Güter der Zivilisation herbeigeführt, der Kreis der an den Errungenschaften der Kultur teilnehmenden Volkselemente stetig erweitert worden ist, so haben die Massen auch mehr Rechte und größeren Einfluß auf das staatliche Leben erlangt. Und daß trotz der gleichzeitigen unleugbaren Vertiefung der Kluft zwischen der Lebenshaltung des Proletariers und der höheren Stände die genannte Tendenz auch in Zukunft mächtig fortwirken wird, das kann für den nicht zweifelhaft sein, der sich die Entwicklung der Menschheit von der Völkerknechtung orientalischer Despotien bis zur Epoche der Koalitionsfreiheit und des allgemeinen Stimmrechts vergegenwärtigt.534

[143] Daher kann der Grundsatz: »Nichts durch das Volk, wenn auch alles für das Volk« immer nur zeitweilige Anwendung finden; nur Übergangszustände können es rechtfertigen, den Staat zu einem bloßen Verwaltungsorganismus zu machen. Je mehr der Fortschritt und die Verallgemeinerung der Kultur die persönliche Entwicklung des einzelnen fördert und das geistige und moralische Niveau breiterer Volksschichten steigert, um so intensiver und allgemeiner macht sich auch das Bedürfnis geltend, nicht bloß Gegenstand obrigkeitlicher Fürsorge und Bevormundung zu sein, sondern durch einen freien Akt der Selbstbestimmung an der Entscheidung über die eigenen Geschicke mitbeteiligt zu werden.

Wenn der platonische Staat – um mit Stahl zu reden535 – die innere Harmonie, die er erstrebt, nur dadurch herstellen kann, daß er zugleich als ein Reich der Freiheit besteht, wenn »die Schönheit seines Baues nicht bloß wie die Natur da ist, sondern von Wollenden, für die Begeisterten in jedem Augenblicke gleichsam aufs neue geschaffen wird«,536 – so erscheint seine Verwirklichung von dem genannten Gesichtspunkte aus von vorneherein unmöglich.

Wenn dies Plato verkennt, so liegt das an den falschen Schlußfolgerungen, die er aus der Auffassung des Staates als eines Organismus gezogen hat. So fruchtbar sich die Parallele in einer Hinsicht erwiesen hat; der Glaube, daß sich in einer einigermaßen entwickelten Gesellschaft ein ähnliches Ineinandergreifen und Zusammenwachsen der Individuen zu einem absolut einheitlichen, von einem Zentrum aus regulierten Ganzen erreichen lasse wie im natürlichen Organismus, beruht nichtsdestoweniger auf einer Illusion. Er verkennt die fundamentalen Unterschiede in den Entwicklungsprinzipien der gesellschaftlichen Gebilde einerseits und der physischen Organismen anderseits.

Indem Plato die Vollendung des Staates darin erblickt, daß in ihm alles Leben und alle Bewegung ebenso von einem Zentralorgan ausgeht, wie im Organismus, setzt er sich in Widerspruch zu der Tatsache, daß das, was im Naturleben den Höhepunkt der Entwicklung darstellt, auf sozialem Gebiete gerade der rohesten und primitivsten Stufe eigen ist. Die geformte organische Substanz ist in ihrer niedersten Erscheinungsform[144] ein Klumpen Protoplasma, das in seinen Teilen in keiner Weise differenziert ist und dessen Leben ausschließlich in diesen Teilen, nicht in einem einheitlichen Lebenszentrum beruht. Je höher entwickelt und leistungsfähiger dagegen der physische Organismus ist, je mehr er sich aus differenzierten, durch die Verrichtung verschiedener Funktionen sich gegenseitig ergänzenden Organen zusammensetzt, um so mehr entwickelt sich ein Teil, der allein der Sitz der Empfindung, das Zentrum des Lebens des Ganzen ist. – Durchaus verschieden gestaltet sich der Verlauf bei den sozialen Gebilden. Je mehr sich hier bei der fortschreitenden Arbeitsteilung die einzelnen Teile differenzieren, um so mehr strebt hier auch ihre Individualität zur selbständigen Geltung zu kommen, desto mehr tritt die Tendenz hervor, den Einfluß, den das Ganze durch Autorität und Herkommen auf das Einzelleben ausübt, abzuschwächen. Während dort das Endergebnis eine immer stärkere Konzentration alles Lebens in einem Organ ist, ist es hier eine mehr oder minder weitgehende Verselbständigung der einzelnen Teile.537 Und ganz folgerichtig stellt sich daher auf der Höhe der Entwicklung die Forderung ein, daß es eine Sphäre des Individuums geben müsse, die nur ihm eignet, einen Kreis geistiger und sittlicher Betätigung, vor welchem der Staat mit seinem Zwange Halt macht, die er anerkennt und schützt, aber nicht mehr inhaltlich bestimmt. Eine Forderung, die keine »naturrechtliche«, sondern recht eigentlich ein Erzeugnis der Kultur und des Kulturstaates. ist.

Nun setzt sich ja allerdings die platonische Anschauungsweise mit ihrer Predigt von der Rückkehr zur Natur und zum Naturrecht in einen gewissen Gegensatz zu den Fortschritten der Kultur, deren Resultat dieses Verhältnis zwischen Staat und Individuum ist. Im »Naturzustand« zeigen die sozialen Gebilde in der Tat die Organisation, welche Plato erstrebt. Der kommunistische Sozialverband der Urzeit hat ein einheitliches Zentrum, von dem alles Leben ausgeht, das mit unumschränkter Autorität das Ganze beherrscht. Allein wie kann dann noch von einer Gestaltung des »besten« Staates nach der Analogie des physischen Organismus die Rede sein, wenn eben das, was auf dem Gebiete der organischen Natur sich als ein Fortschritt erweist, auf sozialem Gebiete nur als ein gewaltiger Rückschritt denkbar ist?

Auch ergäbe sich ja bei solcher Rückkehr zu der primitiven Organisationsform[145] der sozialen Gebilde sofort ein neuer Widerspruch! Dieselben haben nämlich auf dieser Stufe mit den untersten Entwicklungsphasen physischer Organismen das gemein, daß sie in ihren Teilen in keiner Weise differenziert sind, daß – abgesehen von der Arbeitsteilung zwischen Mann und Weib – alle ihre Glieder genau dieselben Funktionen verrichten. Die besondere wirtschaftliche, rechtliche, moralische Individualität der einzelnen Teile des sozialen Ganzen existiert auf einer so niedrigen Stufe des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens noch nicht.538 Allein gerade in diesem Punkt, in dem sich die Entwicklungsgeschichte der sozialen Organismen wirklich mit der der physischen nahe berührt, versagt bei dem platonischen Staat die Analogie durchaus. Dieser Staat setzt ja gerade die möglichste Vervollkommnung der Arbeitsteilung und die stärkste Differenzierung seiner Glieder voraus. Es soll sich hier also mit der niedersten Organisationsform der sozialen Gebilde, der denkbar stärksten Konzentration, das jenige vereinigen, was beim physischen, wie beim sozialen Organismus am Ende der Entwicklung steht: die möglichste Differenzierung der Teile. Daß diese Verknüpfung von Anfang und Ende einen verhängnisvollen Widerspruch enthalten würde, daß im sozialen Organismus die Differenzierung gerade eine mächtige Tendenz in entgegengesetzter Richtung in sich schließt, die Individuen mit einem unwiderstehlichen Drang nach selbständiger Bewegung und selbständiger Betätigung erfüllt, das bleibt bei Plato vollkommen unbeachtet.

Nun hat ja allerdings auf einzelnen Gebieten gerade der Fortschritt der Kulturentwicklung zu der genannten Kombination von äußerster Differenzierung und strengster Konzentration geführt. Infolge der Errungenschaften der industriellen Erfindsamkeit hat sich auf volkswirtschaftlichem Gebiete eine Technik der Menschenzusammenfassung herausgebildet, welche große Massen von Individuen zu bloßen Triebrädern im Gefüge eines streng einheitlichen, von einem Zentrum aus regulierten Organismus gemacht hat. Allein einerseits gravitiert doch der technische Fortschritt glücklicherweise nicht ausschließlich nach dieser Richtung hin, da die Kultur auch wieder neue Mittel für die individuelle Tätigkeit schafft und vielfach gerade das Individuum zu großen, früher der Gesamtheit vorbehaltenen Leistungen befähigt, anderseits ist es nur zu bekannt, welche Disharmonien in das moderne Kulturleben gerade durch jene Konzentration hineingetragen worden sind: Dissonanzen,[146] die recht deutlich beweisen, daß eine Verallgemeinerung des zentralistischen Organisationsprinzips eben in den innersten seelischen Triebkräften, in den Bedürfnissen und Anschauungen des Kulturmenschen eine unüberwindliche Schranke finden würde, daß sie jedenfalls nichts weniger als die soziale Harmonie und den sozialen Frieden zu schaffen vermöchte.

Was uns die tatsächliche Entwicklung der Kultur und des Völkerlebens lehrt, enthält nun aber noch einen weiteren Widerspruch gegen die Normen, nach denen sich die Rechtsordnung des Vernunftstaates gestalten soll. Wir sahen, daß es neben der Idee einer machtvollen Vertretung des Staatsgedankens und des Sozialprinzips ganz besonders die Idee der Arbeitsteilung ist, aus welcher Plato die Notwendigkeit einer unbedingten Trennung aller politischen und aller wirtschaftlichen Tätigkeit gefolgert hat. Auch diese Folgerung beruht auf der Überspannung eines an sich ja berechtigten Grundgedankens.

So sehr bei fortschreitender Kultur mit der zunehmenden Kompliziertheit der Verhältnisse im staatlichen Leben diejenigen Aufgaben das Übergewicht erhalten, bei denen die technische Kenntnis der Sache entscheidet und nicht die Volksüberzeugung, so sehr man also gerade mit Plato von den politischen Einrichtungen eine Bürgschaft dafür verlangen muß, daß in allen solchen Fragen in Regierung und Verwaltung nur Sachverständige die letzte Entscheidung fällen, nicht minder bedeutsam tritt doch gerade auf der Höhe der Kultur das Bedürfnis hervor, den für die Volkswohlfahrt gefährlichen Konsequenzen einer übermäßigen Arbeitsteilung entgegenzutreten. Und dieses Streben bricht sich Bahn selbst auf die Gefahr hin, daß Fortschritte der Arbeitsteilung wieder rückgängig gemacht werden müssen.

Während z.B. Plato um des Prinzipes der Arbeitsteilung willen die rein berufsmäßige Organisation der Wehrverfassung vorschlägt, hat dagegen die Neuzeit einen entschiedenen Rückschritt in der Arbeitsteilung gemacht, indem sie zu dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht zurückkehrte, in der Erkenntnis sowohl ihrer militärischen Bedeutung wie ihres Wertes für die Erhaltung der physischen und moralischen Gesundheit des Volkes. – Plato verlangt im Interesse der Arbeitsteilung die ausschließliche politische Herrschaft der Sachkenntnis, die Neuzeit setzt neben die Minister und ihre Räte, d.h. neben die Techniker und Fachleute, ein Abgeordnetenhaus, d.h. zum großen Teile Laien. Plato will, daß der Schuster nichts als Schuster, der Landwirt nur Landwirt und[147] nicht auch Richter sei usw., die Neuzeit setzt auf allen Gebieten durch die Ausdehnung der lokalen Selbstverwaltung und der Geschworenenjustiz, durch unbezahlte Ehrenämter, durch Einführung von Vertretungen neben den Beamten in Gemeinde und Staat die Laien neben die Techniker. Und sie begeht alle diese Sünden gegen die Arbeitsteilung, weil die Teilnahme am öffentlichen Leben ein Gegengewicht gegen die sittliche und geistige Verkümmerung von Individuen und Klassen bildet, weil sie im Interesse einer allseitigeren Erziehung der Nation und eines größeren Gleichgewichtes der Kräfte unentbehrlich ist.539

Das hat bereits der größte Geschichtschreiber der Antike klar ausgesprochen, indem er es seinen Perikles als einen Ruhmestitel des damaligen Athens verkünden läßt, daß hier ein und dieselben Männer die Verwaltung öffentlicher Ämter mit privatwirtschaftlicher Tätigkeit vereinigten und auch das arbeitende Volk ein hinlängliches Verständnis für öffentliche Dinge besitze.540 Zwar wird hier das Bestehende von dem Redner der Demokratie idealisiert und in starker Überschätzung der Regierungsfähigkeit und politischen Bildung der Massenmehrheit die Autonomie der Gesellschaft ebenso einseitig verherrlicht, wie die philosophischen Gegner der Demokratie das entgegengesetzte Prinzip überspannt haben, allein die Übertreibung tut der allgemeinen Idee, die der perikleischen Auffassung zugrunde liegt, keinen Abbruch. Dem in der menschlichen Natur selbst liegenden Bildungstriebe wie den Lebensbedingungen des Kulturstaates widerspricht es in gleicher Weise, wenn das Denken und Fühlen des einzelnen durch die einseitige Tätigkeit in seinem besonderen Lebensberuf vollkommen absorbiert und so mehr oder minder unempfänglich wird für alles, was jenseits der eigenen Lebens- und Interessensphäre liegt. Die Bildungsgegensätze, die dadurch entstehen, enthalten womöglich eine noch schlimmere soziale Gefahr, als die Gegensätze des Besitzes. Sie durch möglichste Hebung der Intelligenz und politischen Bildung der unteren Klassen zu mildern, ist eine Hauptaufgabe aller sozialen Reform. –

Zu der rücksichtslosen Konsequenz, mit der Plato bei der Organisation der Staatsgewalt den Grundsatz der Arbeitsteilung zur Geltung bringt, steht in eigentümlichem Widerspruch das individuelle Lebensideal, welches er für diejenigen aufstellt, denen er die Staatsgewalt[148] anvertraut wissen will. Dieses Ideal des vollkommen harmonisch ausgebildeten, körperlich und geistig vollendeten Menschen, das der philosophische Staatsmann Platos in seiner Person verwirklicht, beruht auf einer Verkennung der Schranken, in welche eben die Notwendigkeit der Arbeitsteilung das schwache und kurzlebige Menschenwesen gebannt hält. Indem Plato in dem Ideal seines Staatsmannes die intensivste Kraft spekulativen Denkens mit der Fülle des Fachwissens und praktischer Erfahrung vereinigt denkt, häuft er auf eine Person, was durch spezialisierte Ausbildung der Kräfte in sehr verschiedenartigen Lebensberufen als das Höchste erreicht werden kann. In der Person des philosophischen Staatsmannes soll das Unmögliche möglich werden, in ihr sich eine Summierung von Kräften verkörpern, die nur in unseren Gedanken vollziehbar ist. Dazu die psychologische Unwahrscheinlichkeit, daß sich in denselben Persönlichkeiten öfters gerade die entgegengesetztesten Gaben vereinigen werden: das Talent zur augenblicklichen und doch zugleich vollständigen Würdigung der Gegenwart, zum ununterbrochenen »Pulsfühlen der Zeit«, das den Staatsmann macht, und das so wesentlich verschiedene Talent der rein abstrakten Spekulation!541

Nun ist freilich die Inkonsequenz, der wir hier bei dem eifrigen Verteidiger der Arbeitsteilung begegnen, psychologisch vollkommen begreiflich! Plato mußte diese Inkonsequenz begehen, wenn er nicht von vorneherein auf die Verwirklichung seines Staatsideals verzichten wollte. Soll die Intelligenz und Leistungsfähigkeit einer Regierung all das aufwiegen, was Wissen und Urteilskraft aller übrigen etwa zur Lösung ihrer Aufgaben beitragen könnte, dann muß man in der Tat von dem einen oder den wenigen, welche diese Regierung darstellen, nichts Geringeres verlangen, als daß sie das Unmögliche möglich machen.

Man sieht, wie auf den abstrakten Höhen der begriffsmäßigen Konstruktion, die alles auf möglichst einfache Prinzipien zurückführen will, selbst bei einem sonst durch scharfe und feinsinnige Beobachtung des Menschenlebens und seiner Schwächen ausgezeichneten Denker das Gefühl für die Unvollkommenheit alles Irdischen völlig verloren gehen kann. Die der Wirklichkeit gegenüber so oft bekundete Schärfe des Urteils[149] versagt der Möglichkeit gegenüber gänzlich und macht der reinen Phantastik Platz. Wenn aber das Regentenideal Platos ein Phantom ist, wenn es nie ein Regierungssystem geben wird, dessen leitenden Mittelpunkt eine »alles umfassende« Vernunft bildet,542 dann ist auch das gesamte harmonische Lebensbild des Idealstaates eine Utopie. Wenn niemals eine Regierung imstande sein wird, den komplizierten Organismus der Gesellschaft von einer Stelle aus so zu leiten, daß mit dem Interesse der Gesamtheit zugleich jedes berechtigte Interesse und Bedürfnis der einzelnen befriedigt wird, dann ist auch das ideale Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, wie es Plato durch die wahre Staatskunst verwirklicht denkt, eine Illusion. Die zahlreichen Individuen, welche sich durch die rechtlich allmächtige, aber gegenüber der Größe der ihr gestellten Aufgabe ewig unzulängliche und irrtumsfähige Regierung verhindert sehen würden, sich so zu entwickeln und ihre Individualität so zur Geltung zu bringen, wie sie es nach ihren Anlagen und Kräften beanspruchen könnten; alle die, welche bei der Unmöglichkeit der freien Berufswahl durch solche Verkennung gewaltsam in eine falsche Berufs- und Lebensrichtung hineingezwungen würden, sie wären ebensoviele beredte Zeugen gegen den Anspruch des platonischen Staates, ein Reich vollkommener Gerechtigkeit, wahrer Freiheit und Gleichheit zu sein. In dem Momente, wo man mit der Verwirklichung dieses Staates Ernst machen wollte, würden – genau so wie im Zukunftsstaat des Marxismus – auch die Kräfte wirksam werden, welche seine besten Intentionen in ihr Gegenteil verkehren würden, sein Gerechtigkeitsideal in drückend empfundene Ungerechtigkeit, sein Freiheits- und Gleichheitsprinzip in Zwang und Vergewaltigung. Statt eines lebendigen Organismus, der er nach der Absicht seines Urhebers sein sollte, hätten wir das seelenlose Räderwerk einer Maschine vor uns. Das politische Gebilde, das als bloßes Musterbild im Lichte idealer Verklärung strahlt, würde – in den Staub des Irdischen herabgezogen – in der Tat zu jenem Zerrbilde werden, welches die moderne Kritik aus dem platonischen Staat gemacht hat, indem sie ihn nicht danach beurteilte, wie er im Geiste seines Schöpfers lebte, sondern nach der Mißgestalt, welche ihm das wirkliche Leben geben würde.

Übrigens ist nicht bloß die Regierung, die alles sieht und alles kann,[150] das Erzeugnis eines ideologischen Dogmatismus, sondern auch das Verhalten, welches Plato ihr gegenüber von den Regierten erwartet. Welche Verkennung der Menschennatur zu glauben, daß, wenn nur der wahre Herrscher in der Welt erschiene, alle Herzen ihm zufliegen würden,543 daß in diesem Falle die individuellen Ideen des einzelnen über das Gerechte hinreichen würden, die Gemüter zu diesen Idealvorstellungen zu bekehren und uralte Institutionen durch Gebilde der abstrakten Vernunft zu ersetzen, trotz der dabei unvermeidlichen Verletzung zahlloser berechtigter Interessen und tiefgewurzelter Anschauungen und Lebensgewohnheiten, an denen nun einmal die ungeheure Mehrheit mit Leidenschaft zu hängen pflegt! Als ob die alten Menschen von heute unter veränderten Lebensbedingungen notwendig auch neue Menschen werden müßten! Es ist derselbe vulgäre Fehler, der bei den meisten Utopisten wiederkehrt, daß sie den Menschen nach dem beurteilen, was sie selbst in gleicher Lage empfinden und tun würden. Welche tiefgehende Konflikte würde allein die Vergewaltigung der Literatur, der Poesie und Kunst hervorrufen, über die nur so utopistische Schwärmer hinwegsehen können, wie ein Leo Tolstoi, der sich in seinem Buch »Gegen die moderne Kunst'« zu dem platonischen Rigorismus bekannt hat!

Allerdings hofft Plato einen Wandel in den Motiven menschlichen Handelns gleichzeitig von der überzeugenden Macht der Belehrung, welche von den philosophischen Begründern des neuen Gemeinwesens ausgehen soll. Allein auch diese Hoffnung ist eine rein utopische. Sie beruht auf der Theorie von dem wohlverstandenen Interesse des Individuums, sowie auf der platonischen Überschätzung von Erziehung und Belehrung, die zu den Atavismen aus der Aufklärungsepoche, aus der Sophistenzeit gehört, ein Erbe, an dem das platonische Denken reicher ist, als man sich gewöhnlich vergegenwärtigt.

Zwar hat sich gerade die Lehre vom wohlverstandenen Interesse bis auf den heutigen Tag behauptet, von den ja auch der Aufklärung entsprungenen Katechismen der französischen Revolution durch die Schule Benthams hindurch bis zu dem System des gesellschaftlichen Utilitarismus, welches in Jherings »Zweck im Recht« zur Darstellung kommt. Wie für Plato beruht auch für Jhering die politische Bildung des Individuums wesentlich auf dem »richtigen Verständnis der eigenen Interessen«, sowie auf der Erkenntnis, daß »das eigene Wohlergehen bedingt ist durch das des Ganzen, und daß man, indem man letzteres fördert, zugleich[151] sein eigenes Interesse fördert«, daß »die gemeinsamen Interessen zugleich die des einzelnen sind«.544 – Allein man wird trotz dieser bedeutsamen Nachfolge nicht sagen können, daß es gelungen ist, die Einwände gegen die theoretische Richtigkeit und praktische Anwendbarkeit der Lehre zum Schweigen zu bringen. Wer das Verhältnis zwischen Individuum und Staat auf eine so einfache Formel zurückführen zu können glaubt, wird vor allem die Schwierigkeit, den einzelnen für den Staat zu gewinnen und zum sozialen Handeln zu erziehen, sehr leicht unterschätzen. Dies zeigt sich schon bei Plato. Er gibt sich der Täuschung hin, daß die einfache und klare Formel, in der er selbst die Lösung der Disharmonie zwischen individuellem und staatlichem Willen gefunden zu haben glaubt, auch für alle anderen oder wenigstens die Mehrzahl faßbar und für ihr Handeln bestimmend sein werde. Als ob es so leicht wäre, sein eigenes Bestes oder gar das der Gesamtheit zu erkennen! Als ob sich überhaupt ein Standpunkt objektiver Beurteilung finden ließe für das, was der Wohlfahrt des einzelnen, dem »wohlverstandenen« Interesse entspricht!

Wenn es aber keinen solchen absoluten Maßstab gibt, wie ist da zu erwarten, daß sich der einzelne bei der Entscheidung einer idealphilosophischen Ethik beruhigen werde, die sein wahres Interesse besser zu verstehen behauptet, als er selbst? Wie läßt sich z.B. der Satz von der Koinzidenz des Glücks und der Sittlichkeit, der die Hauptgrundlage der platonischen Sozialphilosophie bildet, für das individuelle Bewußtsein beweisen? Der berechnende Egoismus des Klugen und Starken wird immer Mittel kennen oder zu kennen glauben, welche ihm eine unsittliche Ausbeutung anderer gestatten, ohne daß sein individuelles Glücksgefühl darunter leidet oder gar dem Gefühl des Elends Platz macht. Schon viele haben in solchem Glück ein hohes Alter erreicht, ohne daß es ihnen irgendwie zum Bewußtsein gekommen wäre, daß der Gesamtertrag ihres Lebens an Glück durch ein wahrhaft sittliches und soziales Verhalten wesentlich gesteigert worden wäre. Wer will ihnen beweisen, daß sie ihr Interesse nicht wohl verständen? Wer will dem Egoisten, der die beglückende Rückwirkung der Mitfreude und der Opferwilligkeit, der liebevollen Hingebung an die Mitmenschen und an die großen Interessen der Gesamtheit gar nicht kennt, dasjenige Maß von Wohlbefinden mit Erfolg abstreiten, welches er tatsächlich zu besitzen behauptet? Was will ihm[152] gegenüber eine Aufforderung zu angeblich Besserem, wenn er erklärt, er sei nun einmal so bescheiden, sich mit dem »geringeren« Glücksgrad zu begnügen?545 Was der einzelne als Glück fühlt, ist eben viel zu verschiedenartig, als daß es durch ein absolutes Prinzip regulierbar wäre. Wie naiv ist vollends der Glaube, die Menschen selbst davon überzeugen zu können, daß für sie sogar der Verzicht auf das Leben das Beste sei, wenn es durch unheilbare Krankheit oder Gebrechlichkeit »nutzlos« geworden, daß der Staat nur zu ihrem eigenen Glück sie dahinsterben läßt und die Ärzte verbannt, die ihnen etwa dies nutzlose Leben zu fristen wagen!

Nicht minder problematisch ist die Hoffnung, daß die Idee der Interessensolidarität zwischen Individuum und Gesellschaft jemals so allgemein und so intensiv das Handeln der einzelnen bestimmen werde, wie es im Vernunftstaat der Fall sein soll. So richtig es ist, daß das persönliche Wohlergehen in hohem Grade von der Gesamtwohlfahrt abhängt, daß das Wohlbefinden jedes einzelnen auf mancherlei Weise mit dem Wohlbefinden aller verknüpft ist, die prästabilierte Harmonie zwischen dem Wohl des einzelnen und dem der Gesellschaft, wie sie die platonische Sozialtheorie voraussetzt, ist eine Abstraktion, welche vor dem wirklichen Leben nicht bestehen kann, obgleich auch diese Theorie seitdem vielfach wiederholt worden ist.546 Es ist eine Illusion, wenn noch neuerdings Herbert Spencer gemeint hat, die allgemeine Tendenz der geschichtlichen Entwicklung strebe beständig einem Zustand entgegen, in welchem »beide Interessen, die der einzelnen Bürger und die der Gesamtheit in eins verschmelzen und die den einen und den andern entsprechenden Gefühle zu vollkommener Übereinstimmung gelangen«.547

Wenn Plato dem einzelnen für die Opfer, welche er der Gemeinschaft bringt, gleichzeitig eine individuelle Lebensförderung durch den Staat in Aussicht stellt, welche die in der Hingabe an die Gemeinschaft liegende individuelle Lebensopferung mehr oder minder aufwiegt, so ignoriert er, daß diese Ausgleichung doch nur für das abstrakte Individuum[153] gilt, während das konkrete sehr wohl einen solchen Ersatz nicht finden und ganz und gar zum Opfer fallen kann. Von einer Identität des Interesses der Gesamtheit und der einzelnen kann eben nur insoferne die Rede sein, als man unter letzteren den Durchschnitt versteht, nicht dieses oder jenes bestimmte Individuum. Zwischen diesem einzelnen und der Gesamtheit kann sehr wohl ein scharfer Interessengegensatz entstehen, eine Tatsache, die ja Plato selbst unwillkürlich anerkennt, indem er sich die bekannten Wendungen aneignet, daß das Interesse des einzelnen sich dem Ganzen unterordnen müsse, daß die wahre Staatskunst nicht einseitig den Nutzen des einzelnen, sondern das allgemeine Wohl im Auge habe, daß letzteres dem ersteren vorangehen müsse, und was dergleichen Äußerungen mehr sind, aus denen klar hervorgeht, daß die Rechnung bezüglich der Interessenharmonie eben doch nicht ohne Rest aufgeht.

Übrigens ist auch Platos eigenes Vertrauen auf die überzeugende Kraft der ganzen Lehre sowenig ein unbedingtes, daß er zur Stütze derselben und »um die Bürger geneigter zu machen, für den Staat und füreinander Sorge zu tragen«,548 noch ein anderes und zwar sehr bedenkliches Hilfsmittel heranziehen zu müssen glaubt, nämlich »zweckmäßige Täuschungen«, wie sie ihm die Religion und der Mythus an die Hand gab.549

Zwar ist es an und für sich ja durchaus konsequent, wenn Plato, um von der Wahrheit seines Staatsideals zu überzeugen, zuletzt an den Glauben appelliert. Die obersten Prinzipien der Sozialphilosophie sind wie die aller Philosophie Axiome, die als solche keinen exakten wissenschaftlichen Beweis, sondern nur ein subjektives Fürwahrhalten zulassen. Jede Ansicht über den Zweck des Staates, über die Zwecke seiner Glieder und ihr Verhältnis zum Staatsganzen ist mehr oder minder Glaubenssache, worüber sich am wenigsten die moderne Staatswissenschaft täuschen kann.550 Und wenn auch Plato persönlich überzeugt war, seinen Staatsbegriff vollkommen hinreichend begründet zu haben, so hat er doch insoferne instinktiv das Richtige gefühlt, als er die Notwendigkeit anerkannte, ihn nicht bloß der Masse, sondern[154] womöglich auch dem Höchststehenden eben zugleich als einen Glaubensbegriff nahezubringen.

Allein so folgerichtig das war, nichts könnte doch die innere Schwäche der Grundlagen, auf denen sich das harmonische Lebensbild des Idealstaates aufbaut, klarer dartun als gerade diese Berufung auf die religiöse Sanktion, die ihr Urheber selbst als eine »Lüge« anerkennen muß und die er nur durch eine echt sophistische Argumentation zu rechtfertigen vermag.551 Es ist, als ob Plato selber empfunden habe, wie wenig das Gefühl der »Brüderlichkeit«, von dem die Volksgenossen seines Staates füreinander erfüllt sein sollen, den tatsächlichen Volksinstinkten der niederen ebenso wie der höheren Schichten entspricht, wenn er es für notwendig hielt, dies Gefühl durch ein Märchen hervorzurufen.

Die Erfahrungen der Neuzeit haben wahrlich zur Genüge gezeigt, daß von den drei Grundforderungen des doktrinären Demokratismus, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, keine weniger in dem instinktiven Bedürfnis des Volkes wurzelt, als die Idee der »Brüderlichkeit«. In dem aus der Kargheit der Natur ewig neu sich gebärenden und zugleich für die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes unentbehrlichen Wettbewerb um den Lebensbedarf, in dem furchtbaren Kampf um das Dasein, der unaufhörlich die Schwachen durch Elend, Hunger, Siechtum dahinrafft, unter solchen naturgegebenen Lebensbedingungen, welche den Kampf geradezu verewigen und immer von neuem Sieger und Besiegte schaffen, ist die Idee der allgemeinen Verbrüderung ein Phantom.

Zwar glaubt Plato, diesen Kampf durch die Verwirklichung seiner radikalen Reformpläne auf dem Gebiete des Eigentums- und Eherechtes, durch »Beseitigung von Armut und Reichtum«, wenn nicht ganz aus der Welt zu schaffen, so doch seiner gefährlichsten Wirkungen zu entkleiden. Allein so sehr wir die Energie des sittlichen Idealismus bewundern mögen, mit der diese Sozialphilosophie bemüht ist, in den Kampf der Gesellschaft den Frieden, in ihre selbstsüchtige Zerfahrenheit den Gemeinsinn und die Harmonie hineinzutragen, nicht minder augenfällig ist es, daß Platos praktische Vorschläge zur Erreichung dieses Zieles ebenso utopisch und überspannt sind wie das Ziel selbst, daß die Aufhebung von Eigentum, Ehe usw. niemals jene Wandlung in dem sittlichen Empfinden und Handeln der Menschen herbeiführen würden, die Plato von ihnen erhofft hat.

[155] Auch ist es eine Illusion zu glauben, daß auf diesem oder irgendeinem anderen Wege die Gefühle, welche in dem Familienzusammenhange wurzeln, sich jemals auf die große politische Gemeinschaft übertragen lassen würden, und diese dadurch auf ein Maximum von Zusammenschluß und Kraft gebracht werden könne. Die weitesten Bande sind nicht immer die festesten!552 Denn abgesehen von jenen höchsten Gebieten, auf denen die Energie der Arbeit in idealen Antrieben wurzelt, wird in der Regel das soziale Bewußtsein um so schwächer, die Gleichgültigkeit um so größer, je umfassender der soziale Kreis ist, für den und in dem sich der einzelne zu betätigen hat. Die menschliche Natur und die menschlichen Verhältnisse sind eben in vieler Hinsicht so angelegt, daß das Individuum, wenn seine Beziehungen eine gewisse Größe des Umfanges überschreiten, um so mehr auf sich selbst zurückgewiesen wird.553 Schon Aristoteles hat gegen den platonischen Idealstaat den Einwand erhoben, daß er sich selbst schwäche, indem er das starke Interesse für das Eigene und einzelne durch das ungleich schwächere für die Gemeinschaft ersetze. Je mehr etwas vielen gemeinsam sei, desto weniger Sorgen mache sich darum der einzelne. Ein platonischer Bürger, der gleichsam tausend Söhne hätte, würde sich nicht etwa um alle gleich viel, sondern um alle gleich wenig kümmern.554 Besser ein wirklicher Vetter jemands zu sein, als auf platonische Weise sein Sohn! Die Freundschaft und Liebe würde durch eine derartige Gemeinschaft nur verwässert werden, wie ein wenig Süßigkeit unter viel Wasser gegossen wirkungslos wird.555

So große Fortschritte daher auch die soziale Schulung der Völker in der Zukunft noch machen mag, – und wer wollte an der Möglichkeit solchen Fortschrittes verzweifeln! – jene vollkommene und allgemeine Gefühlsgemeinschaft von Lust und Leid, die Zusammenschmelzung alles individuellen zu einem sozialen Leben ist eine psychologische Unmöglichkeit, – wenn auch dieser Traum immer wieder von neuem geträumt werden wird.556

[156] Aus alledem geht zur Genüge hervor, daß die von dem Idealstaat verheißene Koinzidenz des Individual- und des Sozialprinzipes, von Individualismus und Sozialismus eine leere Abstraktion ist und niemals zur Wirklichkeit werden wird.

Solange der erbarmungslose Mechanismus der Naturordnung unzähliges organisches Leben schafft, das nur dazu da scheint, um wieder verbraucht und vernichtet zu werden, solange wird auch der Mechanismus der Gesellschaft, der bis zu einem gewissen Grade ja ebenfalls Naturordnung ist, unzählige Menschenleben verbrauchen, die der harte Zwang der Notwendigkeit nie zur vollen Entfaltung dessen kommen läßt, was an Keimen zu einer höheren Entwicklung in ihnen liegt. Solange die Existenz einer zahlreichen dienenden und mehr oder minder hart arbeitenden Masse eine Naturnotwendigkeit ist, – und Plato erkennt dieselbe ja schon durch die Zulassung der Sklaverei an, – solange wird auch einem beträchtlichen Bruchteil des Volkes, vielleicht der Mehrheit, die Möglichkeit einer höheren Ausbildung seiner menschlichen Fähigkeiten und Anlagen fehlen. Er wird sich in der Hauptsache damit begnügen müssen, der Minderheit bei der Ausbildung ihrer Anlagen behilflich zu sein.557 Die Vervollkommnung der gesellschaftlichen Organisation, die Verallgemeinerung und Vertiefung des sozialen Pflichtgefühls, welches jeden Menschen als solchen zugleich als Selbstzweck anerkennt, wird diese Opfer qualitativ und quantitativ verringern und auch die Entwicklungsfähigkeit der Massen im Ganzen, wie die Möglichkeit zum Emporkommen des einzelnen bedeutend steigern können, aber all das hat doch gewisse in der Natur der Dinge liegende Grenzen, welche menschliche Kraft nicht zu beseitigen vermag. Es ist ein utopischer Gedanke, eine Organisation des menschlichen Arbeitslebens finden zu wollen, welche imstande wäre, jedem einzelnen die Entwicklung seiner Anlagen und die Stellung im Organismus des Staates und der Gesellschaft zu verbürgen, welche diesen Anlagen entspricht. Selbst die sorgfältige Überwachung der Jugend im platonischen Staate würde nicht verhindern können, daß zahlreiche Talente in der Werkstatt und hinter dem Pfluge unerkannt oder infolge mangelnder Verwendbarkeit unentwickelt bleiben würden.

Plato löst die Aufgabe nicht, sondern umgeht sie, indem er eine Theorie von der Vererblichkeit der Anlagen und Talente aufstellt, die[157] – wenn sie richtig wäre – das ganze Problem allerdings wesentlich vereinfachen würde. Er nimmt an, daß bei allen Berufsständen die Anlagen der Kinder größtenteils denen der Väter entsprechen: daß, wie der Sohn des Beamten und Soldaten, so auch der des Bauern, des Handwerkers und Handarbeiters in den meisten Fällen schon durch die anererbte Anlage wieder zum Berufe des Vaters förmlich prädestiniert, also schon durch eine von Geburt an einseitige Begabung zum Verzicht auf jede andere Stellung gezwungen sei als die, in welche er hineingeboren.558 Nicht die Gesellschaft ist es, die den einzelnen zum unvollständigen Menschen herabdrückt, sondern er wird schon als solcher geboren.

Man braucht nur diese naturgegebene Tatsache dadurch dem allgemeinen Volksbewußtsein nahezubringen, daß man sie in die Form des Mythus kleidet, des Märchens von der Verschiedenartigkeit der Menschenseelen, von denen der einen Gold, der anderen Silber, der anderen Erz und Eisen beigemischt ist,559 – und die öffentliche Meinung ist für den Glauben gewonnen, daß die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft eine naturrechtlich begründete, ja daß sie das Werk des personifizierten Vaterlandes selbst ist, das seine Kinder bei der Bildung aus seiner Erde so verschieden bedacht hat. Auf solche Weise ist es allerdings leicht, ein Bild der Gesellschaft zu konstruieren, in welchem sich alles in Harmonie und Gleichgewicht befindet!

Wie wenig die Wirklichkeit diesen Optimismus rechtfertigen würde, hat Plato selbst in den letzten Kapiteln seines Werkes unwillkürlich zugestanden, in denen er sozusagen seinen letzten Trumpf ausspielt, um alle Widerstrebenden auf den Pfad der Tugend zu zwingen: in dem furchtbaren Mythus vom letzten Gericht, der das »sterbliche, dem Tode geweihte Geschlecht« sein Los in einer jenseitigen Welt schauen läßt, mit einer gräßlichen Schilderung der Höllenqualen, zu denen die ärgsten Sünder von »wilden feurigen Männern« (eine Art Teufel!) hinweggeschleppt werden, wenn sie dem brüllenden Höllenschlund zu entrinnen suchen! An einer früheren Stelle der Politeia, am Anfang des dritten Buches hatte ja Plato die psychische Wirkung solcher Wahnvorstellungen[158] anders beurteilt und daher alle Schilderungen von Schrecknissen der Unterwelt als verderbliche Fabeln erklärt, die der Vernunftstaat seinen Bürgern fernehalten soll, weil sie durch die Angst vor dem Tode die Geister entnerven und zur Feigheit verführen könnten. Daß er zuletzt dann doch wieder ohne diese Schrecknisse sein Ziel nicht erreichen zu können glaubte, ist für die Zukunft geradezu verhängnisvoll geworden. Denn er hat infolge der Rezeption des Platonismus durch das Christentum die Verbreitung solcher Wahnvorstellungen mächtig gefördert und damit wesentlich zur Unterwerfung des europäischen Geistes unter eine Priesterkaste beigetragen, die den Anspruch erhob, jenen Höllenschlund, die »Pforten ewiger Pein«, für den einzelnen öffnen oder schließen zu können. Die Karikatur des Reiches der Vernunft, wie es doch der platonische Staat recht eigentlich sein wollte.


So führt jeder Versuch, von dem idealen Staat eine konkrete Anschauung zu geben, immer wieder zu demselben Resultate. Er erweist sich – um mit Kant zu reden – als eine transzendentale Idee, d.h. als ein Begriff, zu dem es eine kongruierende Wirklichkeit in der sinnlichen Welt nicht geben kann. Was wäre auch ein Staat, der alle seine Aufgaben gelöst hat! Er würde sich selbst aufheben, weil es in ihm für menschliches Streben keinen Inhalt und kein Problem mehr gäbe. Alles menschliche Streben setzt die Möglichkeit eines weiteren Fortschrittes und der Fortschritt die ewige Wandelbarkeit und Umbildungsfähigkeit aller menschlichen Dinge voraus. Der vollkommene Staat, der nur als ein stationäres Non plus ultra gedacht werden kann, negiert dies alles und damit seine eigene Ausführbarkeit.

Wir haben übrigens keinen Grund, auf die idealistische Sozialphilosophie Platos herabzusehen, weil sie diese einfachen Wahrheiten verkannt hat. Der Zauber des Gedankens, der hier vorliegt, ist ein so mächtiger, daß er bis auf den heutigen Tag die Geister immer wieder gefangen genommen hat. »Ich blickte vorwärts – sagt Stuart Mill – in ein zukünftiges Zeitalter, dessen Anschauungen und Einrichtungen so festgegründet auf die Vernunft und die wahren Anforderungen des Lebens sein würden, daß sie niemals wieder gleich allen früheren und gegenwärtigen religiösen, ethischen und politischen Meinungen umgestoßen und durch andere ersetzt werden könnten.«560 Auch Laveleye[159] in dem prophetischen Ausblick am Ende seines Buches über das Ureigentum hat sich ähnlich geäußert. »Es gibt eine Ordnung der menschlichen Dinge, welche die beste ist. ... Gott kennt sie und will sie. Der Mensch muß sie entdecken und einführen.« Und was soll man vollends von den groben Widersprüchen und Denkfehlern des Marxismus561sagen, der es zwar als »empirisches Gesetz« anerkennt, daß »ohne Gegensatz kein Fortschritt« möglich ist, aber trotzdem von einer Zukunftsgesellschaft träumt, in der es keine Ungleichheit und keinen Klassengegensatz mehr geben soll! Rein chiliastische Hoffnungen auf ein goldenes Zeitalter, in dem nach der Verheißung des deutschen Propheten der Sozialdemokratie »schon binnen einer Generation« nach dem Sieg des Proletariats mit den Klassenunterschieden auch der Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten, ja sogar der wirtschaftliche Gegensatz zwischen den einzelnen Völkern überwunden und – noch im zwanzigsten Jahrhundert – durch die soziale Demokratie der »ewige Friedenszustand« für die Nationen der Welt begründet werden wird!562

Daß solche groteske Wahngebilde, die eine mehr als platonische, um nicht zu sagen kindliche Illusionsfähigkeit verraten, auch heutzutage noch möglich sind, steht in eigentümlichem Kontrast zu den Wandlungen, welche das platonische Denken selbst auf diesem Gebiete erfahren hat. Eine Sinnesänderung, die Plato bekanntlich dazu führte, wenn auch nicht grundsätzlich, so doch tatsächlich auf die Verwirklichung des absolut guten Staates zu verzichten, sich mit dem Ideal einer bloß relativ besten, d.h. mit den derzeitigen Daseinsbedingungen der Menschheit vereinbaren Staats- und Gesellschaftsordnung zu begnügen.

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 118-160.
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