Zweiter Abschnitt
Das Staatsideal des Phaleas von Chalcedon

[5] »Der erste Privatmann, der es unternahm, etwas über den besten Staat zu sagen,3« ist der bekannte Architekt Hippodamos von Milet, der Erbauer der Hafenstadt des Piräus. Doch kann dieser erste Versuch, der Wirklichkeit ein Ideal gegenüberzustellen, für die Geschichte des Sozialismus kaum in Betracht kommen, da das wenige, was uns Aristoteles über die Ideen des Mannes mitteilt, nirgends einen prinzipiellen Widerspruch gegen die Grundlagen der bestehenden Gesellschaftsordnung erkennen läßt.

Die Geschichte der sozialistischen Staatsideale des Hellenentums kann daher erst mit der Politie des Phaleas von Chalcedon beginnen, die vielleicht noch vor Platos »Staat« verfaßt und daher hier an erster Stelle zu nennen ist. Allerdings ist uns das Werk verloren, und das wenige, was unser einziger Zeuge – Aristoteles – über den Inhalt sagt, läßt gerade eine wesentliche Frage unberührt, die Frage nach der dogmengeschichtlichen Stellung des Systems, nach der Bedeutung, welche ihm in dem Entwicklungsgang der sozialen Ideen überhaupt zukommt. Während Aristoteles bei der Beurteilung des platonischen Idealstaates die dogmatische Prüfung auf die grundlegenden ethischen und politischen Prinzipien hin, aus denen heraus die Theorie als ein Ganzes gedacht ist, wenigstens nicht völlig unterläßt, begnügt er sich hier mit einer Kritik der einzelnen Forderungen, welche Phaleas an die Praxis stellt. Er registriert und kritisiert einige der »Spezifika«, welche nach der Ansicht der letzteren geeignet sein sollen, die sozialen Krankheitserscheinungen zu heilen. Wie aber der sozialphilosophische Aufbau des besprochenen[5] Staatsideals – als ein theoretisches Ganzes, als ein System von Prinzipien betrachtet – aussah, darüber geht die aristotelische Darstellung mit Stillschweigen hinweg. Wir erhalten kein Bild von der wissenschaftlichen Individualität des Mannes, noch auch von ihrem Zusammenhang mit den Verhältnissen seiner Zeit und Umgebung.4

So bleiben uns nur Rückschlüsse aus dem, was Phaleas in Beziehung auf einzelne konkrete Fragen der sozialen Reform geäußert hat.

Den deutlichsten Fingerzeig für seinen allgemeinen Standpunkt dürfte wohl der Vorschlag enthalten, die gesamte Industrie zu verstaatlichen und alle Angehörigen der gewerblichen Klassen zu dienenden Organen einer staatlichen Kollektivwirtschaft zu machen. Denn diese radikale Umgestaltung der ganzen wirtschaftlichen Existenz der gewerblichen Bevölkerung bedeutet ihm zugleich eine politische Degradierung. Sie hört auf, ein Teil des Staatsbürgertums zu sein5, und sinkt in ein Verhältnis völliger Unfreiheit herab6. Ein untrüglicher Beweis dafür, daß die Forderung kollektivwirtschaftlicher Produktion hier nicht Ausfluß eines sozialen Demokratismus ist, der die extreme Durchführung des individualistischen Gleichheitsprinzips im Auge hat, sondern einer antiindividualistischen Auffassungsweise, für welche diese Ausdehnung der Staatswirtschaft nur ein Mittel ist, durch die denkbar radikalste Unterordnung der gesamten gewerblichen Bevölkerung unter die Zwangsgewalt des Staates ihre, wenn auch gleichzeitig antikapitalistischen, so doch in erster Linie antidemokratischen Ziele zu verwirklichen7.

Diese antidemokratische Grundtendenz des Politikers Phaleas ist ferner ein Beweis dafür, daß, wenn er den Grund und Boden unter die Vollbürger seines Staates auf dem Fuße vollkommener Gleichheit verteilt[6] wissen will8, diese Gleichheit ebenfalls nicht ausschließlich aus individualistischer Wurzel stammt. Das heißt, Phaleas kann auch hier nicht einseitig seinen Ausgangspunkt von dem Interesse des Individuums genommen haben und von dessen Anspruch, auf Grund der Gleichwertigkeit allermöglichst gleichen Anteil an den wirtschaftlichen Gütern und dem durch sie erreichbaren Lebensgenuß zu erhalten. Den Ausgangspunkt oder wenigstens das wesentlich mitentscheidende Moment bildet das soziale Interesse, das Interesse des Ganzen, wie wir das noch jetzt daraus erkennen, daß bei Aristoteles als der Zweck, um dessentwillen Phaleas die Gütergleichheit einführen wollte, die Sicherung des sozialen Friedens9 und die Hebung der Volkssittlichkeit bezeichnet wird.10

Dasselbe gilt endlich für die Forderung gleicher Erziehung aller durch den Staat.11 Auch sie ist hier eine Konsequenz des Prinzips der Gemeinschaft, der κοινωνία, nicht der Freiheitsidee des Individualismus.

Eine Ideenverwandtschaft mit der Staats- und Gesellschaftstheorie Platos ist so ganz unverkennbar, wenn wir auch nicht die Ansicht12 teilen können, daß das eine der platonischen Staatsideale, der Gesetzesstaat, »sich fast durchweg als eine verfeinerte Ausbildung dieses Staatsideals des Phaleas bezeichnen lasse«. Zu einer solchen Annahme reichen die wenigen Notizen, die wir zur Charakteristik des letzteren anführen konnten, keineswegs hin.

Was Aristoteles sonst über Phaleas bemerkt, fügt zu dem Gesagten nichts wesentlich Neues hinzu. Die Forderung, daß die Reichen Mitgift geben, aber nicht nehmen, die Armen umgekehrt nehmen, aber nicht geben sollen, bezieht sich überhaupt nicht auf den besten Staat, sondern soll nur einen Fingerzeig dafür gewähren, wie man zunächst innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung am leichtesten eine Ausgleichung der Besitzesgegensätze herbeiführen könne.13 Wenn ferner Aristoteles an dem Staate des Phaleas auszusetzen hat, daß derselbe sein wirtschaftliches Gleichheitsprinzip nicht auch auf das mobile Kapital ausdehne,14 daß er die zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Gleichheit unbedingt notwendigen bevölkerungspolitischen Maßregeln, wie z.B. eine staatliche Regelung der Kinderzeugung usw., unterlasse15, daß es endlich zweifelhaft bleibe, ob er mit seiner öffentlichen Erziehung das erreichen wolle und könne, was noch wichtiger sei, als die Ausgleichung[7] des Besitzes, nämlich die Ausgleichung der Begierden16, – so müssen wir unserseits es dahingestellt sein lassen, inwieweit diese Kritik wirklich zutreffend ist oder nicht.

Immerhin ist das wenige, was wir von dem ältesten rein sozialistischen Staatsideal der Griechen erfahren, von hohem geschichtlichem Interesse. Die hier proklamierte Idee der Verstaatlichung der gesamten Industrie und der staatlichen Kollektivproduktion mit absolut abhängigen Arbeitskräften nimmt bereits ein Grundelement des Zukunftsstaates des modernen Sozialismus vorweg. Denn wenn in diesem Zukunftsstaat auch alle formell frei und gleich sein sollen, was wäre hier der einzelne in Wirklichkeit anderes, als ein Leibeigener des Staates, gebunden an das Zwangssystem eines ökonomischen Räderwerks, völlig unfähig zu freier Berufswahl und irgendwelcher freien Betätigung seiner Kräfte? Wer hat hier klarer gesehen? Die moderne Sozialdemokratie, die das »Emanzipation der Arbeit« nennt, oder jener alte Grieche, dem ein solches Zwangssystem nur mit Sklaven durchführbar schien?

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2, S. 5-8.
Lizenz:
Kategorien: