2. Das Erwachen der Masse und die Revolutionierung der Gesellschaft

[142] Es ist ein klaffender Widerspruch, der so im Leben der Gesellschaft sich auftat. An Stelle des patriarchalischen Schutz- und Vertrauensverhältnisses, das nach den guten Traditionen der Aristokratie Edelmann und Volk verbinden sollte, war überall da, wo die geschilderten Tendenzen wirksam geworden, ein wesentlich anderes getreten. Der Niedere sah sich jetzt von dem Höheren, der ihm » Burg und Turm« sein sollte,90 nach den Erwägungen eines rein wirtschaftlichen Kalkuls behandelt, für den der Grundsatz des noblesse oblige, die höheren sittlichen Rücksichten ganz in den Hintergrund getreten waren. Von derselben Macht, die zu seinem Schutze berufen war, mußte er jetzt seine ökonomische und soziale Existenz bedroht, ja vielfach geradezu vernichtet sehen. Sogar die Staatsgewalt, bei der jeder sein Recht zu suchen hatte, sah er in den Dienst eines Klasseninteresses gezwungen, das sich immer augenscheinlicher als ein ihm feindliches erwies.

Es hätte nicht das heiße Blut des Südens in den Adern dieses Volkes rollen müssen, wenn sich nicht der Gemüter der Gedrückten und Ausgebeuteten eine tiefe Verbitterung bemächtigt hätte, mit der sich bei einem geistig so regsamen Volke naturgemäß sehr bald die Reflexion verband, ob denn eine Rechtsordnung, die für so viele das Versinken in hoffnungsloses Elend bedeutete, eine innere Daseinsberechtigung habe. Aus dem Gefühl, das Opfer eines sozialen Unrechtes zu sein, erwächst die Kritik und aus der Kritik die Negation des Bestehenden.

[142] Das erste Symptom dieses Erwachens der Masse ist für uns die Dichtung Hesiods. Die scharfe und freimütige Kritik, die er an der Klassenherrschaft des Adels übt, ist überaus bedeutungsvoll, obgleich er der aristokratischen Gesellschaftsordnung als solcher noch nicht entgegentritt. Die herrschenden Gewalten und die Rechtsordnung, auf der ihre Macht ruhte, wurzelten in der ganzen Vorstellung, die er von den Dingen hatte, viel zu fest, als daß ihm der Gedanke an eine soziale Umwälzung gekommen wäre. Auch sind das Entscheidende für ihn überhaupt nicht äußere Momente, sondern sittlich-religiöse Gesichtspunkte. Nicht die Institutionen, sondern die Gesinnungen der Menschen sind ihm die Quelle alles sozialen Glückes, wie Unglücks. Sein Lied von der Arbeit erinnert in dieser Hinsicht lebhaft an jene soziale Reformliteratur eines christlichen und ethischen Idealismus, die in der Geschichte des modernen Sozialismus eine so bedeutsame Etappe bildet.91 Noch erkennt man auf diesem Standpunkt die Grundlagen der bestehenden Ordnung an. Man möchte aber die Menschen in ihrem Denken und Fühlen geändert sehen. Gesinnungswechsel ist die Losung, deren Verwirklichung allein die Schäden der Zeit heilen kann.

Ebenso erwartet Hesiod von dem, was wir modern als den neuen sozialen Geist bezeichnen könnten, wahre Wunder sozialer Wiedergeburt. In der Seele des gottbegeisterten Sängers lebt jene kindliche Glaubenszuversicht, wie wir sie bei dem Psalmisten und den Propheten, sowie im christlichen Sozialismus wiederfinden, der Glaube, daß es nur einer sittlich-religiösen Erneuerung der Gesellschaft bedürfe, um die Welt von allem sozialen und ökonomischen Übel zu befreien.

Wo man jedem – Einheimischem, wie Fremdem – sein Recht gönnt (suum cuique!) und nie vom Pfade der Gerechtigkeit weicht, da – meint Hesiod – muß die Stadt gedeihen, und es blühen darin die Bewohner. Ewiger Friede waltet im Lande. Sie treiben nur Werke des Frohsinns und niemals naht ihnen der Hunger.92 Denn reichliche Frucht trägt ihnen die Erde und das wollige Schaf erliegt fast unter der Schwere der Bürde. Weiber gebären daselbst nur Kinder, die den Vätern gleichen. Kurz alle erfreuen sich ständigen Glückes. Nie brauchen sie zu Schiffe zu steigen: ihnen genügt die Frucht der Nahrung spendenden Erde. – So würde aus Tugend und Gerechtigkeit ein irdisches Paradies erblühen, fast[143] jenem seligen Wunschland vergleichbar, das dereinst ja Wirklichkeit gewesen.

Ist aber die sittliche Erneuerung der Gesellschaft, ohne welche dem Dichter dieses Glück nicht erreichbar, ja überhaupt kein Fortschritt denkbar erscheint, jemals zu erhoffen? Die Erfahrungen der harten Wirklichkeit, die Hesiod umgab, und die Stimmungen, die sie in seiner eigenen Seele wachriefen, waren zu trübe, als daß er diese Frage hätte bejahen können; und so sieht er nirgends einen Weg der Rettung. Die Kehrseite seines ethischen Idealismus – darin unterscheidet er sich von dem oben erwähnten reformatorischen Utopismus der neueren Zeit – ist ein grenzenloser Pessimismus gegenüber dem Bestehenden. Er ist überzeugt, daß die Gesellschaft durch das sinnlose Walten roher Kräfte zu einer unaufhaltsam fortschreitenden Verschlechterung aller Verhältnisse verurteilt sei. Das Ende werde die soziale Auflösung sein, der Kampf aller gegen alle!


»Nimmer eint mit dem Sohn sich der Vater, nicht jener mit diesem,

Nicht mit dem Wirte der Gast, der Genosse nicht mit dem Genossen.

Nicht wird der Bruder dem Bruder mehr lieb sein, wie es zuvor war.«93


Faustrecht wird walten.94 Nichts wird gelten der Gerechte und der Wackere, alles der Unheilstifter und Frevler. Scham und Scheuwerden zum Himmel entfliehen, zurück wird bleiben den Sterblichen die Not und der Jammer, und nichts wird wehren dem Unheil, – bis Zeus das ganze Geschlecht vertilgt!95 – Nur eine völlige Neuschöpfung, eine neue Menschheit könnte eine andere und bessere Ordnung der Dinge bringen.96

Es ist fin de siècle-Stimmung, die an und für sich ja sozialpolitisch unfruchtbar war. Und doch! welch eine revolutionierende Kraft lag in dieser hesiodischen Dichtung! Was in den Herzen Tausender gärte und nach Entäußerung rang, hier fanden sie es mit der hinreißenden Gewalt einer elementaren Leidenschaft zum Ausdruck gebracht. Wie aufreizend ist allein die Erzählung von dem Habicht und die rührende Klage der von den Krallen des Raubtiers zerfleischten Nachtigall! Welch ergreifendes Bild gibt sie von den Seelentragödien zahlloser Unbekannter, die keines Sängers Leier besungen hat! Der Arme, der unter dem Drucke der Lasten zu erliegen drohte, der Geknechtete, der durch die Flucht[144] vor dem Schuldzwang heimatlos Gewordene, was müssen sie empfunden haben, wenn etwa ein wandernder Rhapsode diese Töne anschlug! Das war in der Tat, wie der große Alexander und Kleomenes von Sparta gesagt haben sollen, der Dichter für den Mann der Handarbeit, für Hirten, Bauern und Knechte! Und Hesiod selbst wendet sich ja mit seinem Lied an die Masse, ihr trägt er seine Sache vor, die Stimme des Volkes soll ihm in seinem Kampf ums Recht zu Hilfe kommen. So sind seine Verse gleichsam die poetischen Sturmvögel, mit denen sich das über die Herrschenden heraufziehende Ungewitter, das Herannahen der Revolution schon deutlich voraus verkündigt.97

Der Kampf, den hier ein einzelner aufnahm, mußte sich ja sehr bald mit innerer Notwendigkeit zum Klassenkampf entwickeln. In dem individuellen Unrecht, das der einzelne erfuhr, kam ja nur in besonders drastischer Weise das soziale Unrecht zum Ausdruck, unter dem die Gesamtheit der niederen Klasse litt. Das Bestreben der Herrschenden, die zum sozialen Unrecht gewordene Klassenherrschaft zu sichern und den Genuß ihrer Vorteile möglichst zu steigern, machte sich nicht bloß zuungunsten einzelner, sondern der ganzen niederen Klasse fühlbar. Je rücksichtsloser man auf Kosten des Besitzes, der Arbeit, ja sogar der Freiheit der niederen die Herrschaft der höheren Klasse um sich greifen sah, je einseitiger man den durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung gesteigerten Ertrag der Arbeit des Niederen dem Höheren zufallen sah, um so deutlicher drängte sich die Erkenntnis auf, daß hier nicht bloß einzelne, sondern die Masse als solche in ihrer Entwicklung geschädigt und niedergehalten wurde, daß der Feind dieser Entwicklung nicht das einzelne Individuum der herrschenden Klasse, sondern die Klasse als solche sei.

Die Empfindungen, die der Druck der Klassenherrschaft in den Gemütern der einzelnen wachrief, verdichteten sich zu einem einheitlichen Massenbewußtsein. Auch die Masse erwachte zur Erkenntnis eines eigenen Klasseninteresses. Sie begann sich als eine selbständige Gruppe ökonomisch und sozial gleich Interessierter zu fühlen. Und dies Gefühl wandte sich alsbald um so feindseliger gegen die herrschende Klasse, je mehr eben diese als die eigentliche Urheberin des Elends der Masse erschien, und je schmerzlicher der Kontrast zwischen diesem Elend und dem[145] Glanz empfunden ward, den die vornehme Gesellschaft so geflissentlich zur Schau trug. Ganz besonders dieser Kontrast in der Lage, nicht bloß das Elend an sich, erzeugten in den Massen jenen Haß,98 der so unversöhnlich ist, weil er sich mit dem Gefühl des Neides verbindet. Wenn man die Intensität des modernen Klassenhasses darauf zurückgeführt hat, daß diejenigen, welche über einen solchen Glanz verfügen, nicht mehr die Fürsten, sondern jene sind, von welchen sich die Massen abhängig fühlen, in deren ökonomischer Gewalt sie sich unmittelbar sehen, in denen sie ihre sogen. Ausbeuter erblicken, – so gilt dies auch für die Entstehungsepoche der antiken Sozialdemokratie. Das ist kein »spezifisch moderner Kontrast«,99 sondern so alt, wie die Geschichte des Sozialismus überhaupt.

War nun aber einmal die Masse zum gesellschaftlichen Bewußtsein erwacht, so drängte die weitere Entwicklung mächtig über den Standpunkt hinaus, den noch ein Hesiod gegenüber dem Bestehenden eingenommen. Der einzelne in seiner Isoliertheit und Schwäche mochte sich – zumal in einer Zeit, in der die herrschenden sozialen Mächte noch vollkommen ungebrochen dastanden, – einer dumpfen Ergebung in das für ihn persönlich ja vielleicht unabwendbare Verderben überlassen; bei der Masse mußte dagegen das Gefühl hoffnungslosen sozialen Elends bald einer anderen zukunftsfroheren Stimmung weichen, sowie man unter dem Einfluß des allgemeinen volkswirtschaftlichen Aufschwunges in eine Epoche aufsteigender Klassenbewegung eintrat.

Die Volksschicht, auf welcher der Druck der Klassenherrschaft am schwersten lastete: die Landarbeiter und Kolonen des großen Grundbesitzes, das zum Teil nur noch mühselig auf der Scholle sich behauptende Kleinbauerntum, sie waren ja in dem Kampf, der nun seit dem 7. Jahrhundert in den fortgeschritteneren Teilen der hellenischen Welt100 gegen das Bestehende sich erhob, keineswegs auf sich allein angewiesen. Ihnen traten zur Seite die kompakten Massen der Lohnarbeiter, Handwerker und Gewerbetreibenden, welche die mächtig emporblühende Industrie, der Handel und die Reederei in stetig steigender Zahl in den Städten konzentrierte: ein kräftiges Werkzeug in dem Kampf gegen die[146] plutokratsich-aristokratische Klassenherrschaft, die gewiß auch in dem Erwerbsleben dieser Gesellschaftsklassen vielfach als eine drückende empfunden ward. Die Partei der »Fäuste«, die wir in dem Milet des 6. Jahrhunderts im Kampfe gegen die Partei der »Reichen« fanden,101 dürfte überwiegend in dieser städtischen Masse zu suchen sein. Noch wichtiger ist es, daß von Anfang an auch der besitzende Mittelstand und die in ihm vertretene Intelligenz an der Bewegung beteiligt erscheint. Auch der Mittelstand sah sich ja durch die herrschende Klasse teilweise wenigstens in seiner ökonomischen und sozialen Selbständigkeit gefährdet. Es gab gewiß zahlreiche größere Hofbesitzer, denen über kurz oder lang dasselbe Schicksal der Enteignung drohte, wie dem weniger widerstandsfähigen Kleinbauern. Und was die höchststehende in raschem wirtschaftlichem Aufsteigen begriffene Schicht des Mittelstandes, besonders in den Städten betrifft, so war gerade sie recht eigentlich die Führerin der Opposition gegen die herrschende Klasse, weil sie sich ihr sozial und wirtschaftlich immer näher gerückt sah und den Ausschluß von ihren Ehren und Rechten immer lebhafter als unerträgliches Unrecht empfand.

So ging eine große revolutionäre Bewegung durch die ganze außerhalb der privilegierten Klasse stehende Gesellschaft. Mit den politischen Forderungen der besitzenden und gebildeten Elemente des Demos vereinigt sich das Drängen der notleidenden Klassen nach einer Besserung ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Lage. Jene verstärkten sich im Kampf um die Rechtsgleichheit durch das Gewicht der großen Zahl, welches die Masse in die Wagschale warf, und anderseits kam die Masse eben dadurch erst recht zum Bewußtsein ihrer Kraft. Sie sah sich in ihren sozialökonomischen Forderungen gewaltig ermutigt, zumal die herrschende Klasse, die nun ihren Rückhalt im Mittelstand verloren hatte, der Bewegung meist isoliert gegenüberstand. Durch dies Zusammenwirken politischer Parteiwut und sozialen Hasses erhält der innere Zwist, der schon das 7. und noch mehr das 6. Jahrhundert erfüllt, völlig das Gepräge des Klassenkampfes. Er entfesselt alle die furchtbaren Leidenschaften und verbrecherischen Instinkte, die der Kampf um den Besitz, um die materielle Existenz nur immer in der Menschenbrust wachzurufen vermag.

Verbannungen, Gütereinziehungen, Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Blutigen Revolutionen folgt nicht selten eine grausame Reaktion, die ihrerseits wieder jede Hoffnung auf friedliche Verständigung[147] unmöglich machen mußte. »Der Widersacher dunkles Blut zu trinken« ersehnt der Junker von Megara mit derselben zügellosen Leidenschaft, mit der die Helden des homerischen Epos das Fleisch ihrer Feinde »roh zu verzehren« verlangen. Anderseits hat in Milet einmal das siegreiche Volk die Kinder der vertriebenen Plutokraten in die Scheunen geschleppt, um sie von wilden Stieren zertreten zu lassen; wofür dann später die Gegner dadurch Vergeltung übten, daß sie die Kinder der Demokraten – mit Pech bestrichen – den Feuertod sterben ließen! Die Gesellschaft wird in ihren Tiefen aufgewühlt. Alles, hoch und nieder, wird in Mitleidenschaft gezogen. »Jedem – klagt der Athener Solon – dringt das Unglück des Gemeinwesens in das Haus, die Türen des Hofes wollen es nicht länger zurückhalten, es springt über die hohen Mauern hinweg und findet auch die, welche sich im Ehebett und im innersten Winkel verbergen. Das ist die unvermeidliche Krankheit für jede Stadt, daß sie in Knechtschaft gerät, so sie Bürgerzwist und Bürgerkrieg aufrührt, in dem die Blüte der Jugend dahinsinkt. Denn die Feinde (d.h. die inneren Feinde des Staatswesens und der Ordnung) zerstören sie gar bald in verderblicher Zusammenrottung.«102 – »Mit eingezogenen Segeln – heißt es bei einem anderen, unbekannten Dichter103 – treiben wir aus dem Malischen Meer durch die dunkle Nacht. Über beide Borde schlagen die Wogen ins Schiff. Und doch wollen sie das Wasser nicht ausschöpfen! Schwer wird sich jemand retten, wie sie verfahren. Den einsichtigen Steuermann haben sie ausgesetzt. Das Geld rauben sie mit Gewalt, die Ordnung hat aufgehört, eine gerechte Verteilung findet nicht mehr statt.104 Die Packknechte gebieten, das Gesindel (οἱ κακοί) ist den Guten überlegen. So wird – fürchte ich – die Woge das Schiff verschlingen.«

»Ich fürchte – ruft der adelige Sänger von Megara dem Freunde zu –, daß die Überhebung, welche einst die wilden Kentauren ins Verderben führte, auch unsere Stadt zugrunde richten wird. Der Übermut und die Taten, welche einst zu Magnesia geschehen, erfüllen auch unsere heilige Stadt. Hoffe nicht, daß die Stadt ruhig bleiben wird; schon ist[148] sie schwanger, und ich besorge, daß sie den frevlen Führer des Aufruhrs, den Rächer unseres schlimmen Übermutes gebären wird.«105 – Und nach der Katastrophe: »Die Stadt ist zwar noch die Stadt, aber das Volk ist ein anderes. Die, welche vordem Gesetz und Recht nicht kannten, welche – die Schultern mit dem Ziegenfell umhüllt – draußen vor den Toren wie Hirsche weideten, die sind nun die Edlen. Die Gemeinen haben Amt und Würden erlangt; das, was dem Adel gehört, ist an die Gemeinen gekommen.106 Die vorher Edle waren, sind nun Gemeine. Wer vermag solchen Anblick zu ertragen? Nun betrügen sie sich lustig untereinander und wissen weder was gut noch was schlecht ist.107 Unerträgliche Gesetze haben sie aufgerichtet. Die Scham ist untergegangen, Schamlosigkeit und Übermut haben gesiegt und das ganze Land eingenommen.108 Das gehört nun den Raben und dem Verderben. Aber keiner der seligen Götter hat uns dies verschuldet, sondern der Menschen Gewalt und schnöde Habgier und Übermut hat uns aus vielem Glück ins Unglück gebracht. In furchtbares Unheil sind wir geraten; raffte uns doch gleich das Geschick des Todes hinweg!«109

Man muß diese Stimmungsbilder kennen, um sich darüber klar zu werden, wie hier alles Bestehende in seinen Grundfesten erschüttert war, wie sich inmitten dieses gewaltsamen Zusammenbruches des Alten in leidenschaftlichen, rücksichtslos die letzten Konsequenzen ziehenden Köpfen ein wilder Radikalismus, die ausschweifendsten Hoffnungen nicht bloß politischer, sondern auch sozialer Neugestaltung erzeugen konnten. Welche Erschütterung und Verwirrung muß in dieser raschen Aufeinanderfolge von Revolutionen und Gegenrevolutionen das öffentliche Rechtsbewußtsein erlitten haben, zumal bei der rohen Masse, die sich immer mehr bewußt wurde, daß ihre Fäuste bei den meisten Umwälzungen den Ausschlag gaben! Wenn die bürgerlichen Parteien selbst um die Gunst des Pöbels buhlten, dessen Mitwirkung sie nicht entbehren konnten, wenn sie seinen Instinkten notgedrungen oft genug die Zügel schießen ließen, so mußten dadurch Ansprüche erweckt werden, die weit über die gemäßigt-bürgerlichen Reformideen hinausgingen. Auch ist es ja eine bekannte psychologische Tatsache, daß in Zeiten starker Erregung gerade die extremsten Richtungen eine Bedeutung zu gewinnen pflegen, die weit über ihre numerische Stärke hinausgeht.

Neben diesen besonderen Entstehungsursachen kommunistisch-sozialistischer[149] Ideen kommt nun aber noch eine Reihe von allgemeinen Momenten in Betracht: die ganze geistige Atmosphäre der Zeit, deren Eigenart man sich vergegenwärtigen muß, wenn man die soziale Bewegung wirklich verstehen, d.h. in ihrer historischen Bedingtheit und ihrer kausalen Verknüpfung begreifen will.

Sollen wir die Zeit im allgemeinen charakterisieren, so werden wir als Hauptmerkmal eine außergewöhnliche Lebendigkeit und Beweglichkeit bezeichnen dürfen, wie sie in dieser Weise den älteren Epochen unbekannt war. Durch die Expansion des griechischen Volkes über die ganze Mittelmeerwelt, durch die Entfesselung des Verkehres, die Geldwirtschaft, die fortschreitende politische und soziale Emanzipation sind alle Schichten des Volkes in Fluß gekommen; es ist eine Bewegungsfreiheit der Individuen, eine Raschheit des Kontaktes zwischen den einzelnen Elementen der Gesellschaft möglich geworden, wie nie zuvor. Wir sind in ein Zeitalter der Massenbewegungen und Massenaktionen eingetreten. Was sich durch Gleichartigkeit des Berufes, der Arbeit, des Interesses nahesteht, organisiert sich in größeren geschlossenen Massen. Und diese durch gemeinsame Vorstellungen, Gefühle, Willensimpulse enge verbundenen sozialen Gruppen greifen mächtig in die Kämpfe der Zeit ein, sei es auf der Agora, sei es im Kampfe der Fäuste. Der organisierte Zusammenschluß wird zu einer Hauptwaffe im Kampfe der Parteien, zu einem Hauptwerkzeug der politischen und sozialen Emanzipation. Selbst das stabilste Element der Gesellschaft, der Bauer, bleibt in dieser Beziehung nicht hinter den beweglicheren städtischen Klassen zurück. Er tritt – z.B. in Attika – genossenschaftlich organisiert als eigene geschlossene Partei der der »Demiurgen« zur Seite.110 Die ältesten – geschichtlich bekannten – Organisationen der Arbeit auf europäischem Boden!

Und mit dieser größeren Beweglichkeit des Lebens verbindet sich eine gesteigerte Lebendigkeit des Denkens und Empfindens. Der wirtschaftliche Wettbewerb, das Jagen nach Gewinn und Genuß, das wechselvolle Ringen um gesellschaftliche und politische Macht hat in das Dasein des einzelnen und ganzer Klassen einen Zug der Unruhe, des Hastens, der Unsicherheit hineingebracht, der sich in dem Gefühlsleben der Zeit sehr intensiv ausprägt. Die Fülle der inneren und äußeren Erlebnisse, die in solcher Zeit auf den einzelnen einstürmten, rang nach leidenschaftlicher Entäußerung. Was dem freier gewordenen Blick sich offenbart, will sofort sich mitteilen, auf andere wirken. Und dies Drängen und[150] Treiben, diese tiefe Erregung des ganzen Empfindungslebens erzeugt alsbald völlig neue Formen des Ausdrucks. Wir befinden uns im Zeitalter der Lyrik. Große Staatsmänner und Gesetzgeber sprechen in gebundener Rede zu allem Volke; und neben ihnen, neben Tyrannen und Demagogen erheben Sänger und Dichter ihre Stimme und schleudern ihre geflügelten Verse in die leidenschaftlich bewegten Massen. Man kämpft mit dem Wort, mit der Leier wie mit dem Schwert.111 Und die Wirkung ist gewiß oft genug keine geringere gewesen, als die des Pamphlets und der Presse neuerer Zeiten. Wie bezeichnend sind z.B. die Äußerungen über die vernichtende Kraft der Satire eines Archilochos! In ihnen drückt sich, wie man sehr treffend bemerkt hat, nicht nur das erwachende aggressive Selbstgefühl eines subjektivistischen Zeitalters aus, sondern auch schon ein ganz modernes Bewußtsein von der Macht der Feder,112 – oder, wie damals die Anhänger des Alten sich ausdrückten, der »Untergang der Scham«!113

Eine übermächtige Strömung neuen subjektiven Empfindens und Denkens erfüllt die Zeit und durchbricht die alten, bis dahin herrschenden Ideenkreise. Neue Anschauungen und Begriffe, neue Interessen treten in den Vordergrund und geben dem äußeren und dem inneren Leben der Epoche ein wesentlich anderes Gepräge. Es ist das, was ich mit einem neuerdings gebrauchten,114 in die Geschichte des Sozialismus eingeführten Wort als den »Revolutionarismus« der Epoche bezeichnen möchte. Alles ist in Fluß geraten: Staat und Recht, Wirtschaft und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst, Sitte und Religion!115

Der alte Staat sinkt in Trümmer, die ständischen Privilegien fallen und ein allgemein bürgerliches Recht tritt an die Stelle. Auch die »Gemeinen« oder die »Schlechten« können dies Bürgerrecht erwerben und zu »Guten« werden.116 Ebenso erfahren die übrigen Gebiete des Rechtes eine Umbildung, die kühn über das Herkommen, über das historische Recht hinwegschreitet, wenn die Rücksicht auf Zweckmäßigkeit, auf das Vernunftgemäße, auf die neuen Bedürfnisse der Zeit eine Änderung fordert. Und wie bezeichnend ist der Glaube der Epoche an das, was eine überlegene geistige Kraft in der Bewältigung großer reformatorischer[151] Aufgaben zu leisten vermag! Häufig ist es ein einzelner, der als Vertrauensmann der Allgemeinheit mit absoluter Machtbefugnis nach eigenem besten Ermessen die neue Ordnung der Dinge festsetzt.

Dazu welche Revolutionierung der Sitten und Lebensanschauungen! Der neue demokratische Geist beginnt sich allmählich dagegen aufzulehnen, daß die vornehme Welt den Abstand, der sie vom Volke trennte, noch länger in der bisher üblichen Weise zum Ausdruck brachte. Es beginnt die Zeit rigoroser Luxusgesetzgebungen, einer einfacheren bürgerlichen Gestaltung des äußeren Lebens, die den verletzenden Prunk der alten Zeit mehr und mehr verdrängt hat. Soweit die geschilderte Bewegung reicht,117 ist die Ehrfurcht vor den Idealen der alten Zeit im Schwinden begriffen. Die Gestalten der Dichtung, die zu den stolzesten Erinnerungen des herrschenden Standes gehörten, werden durch Umsetzung ins Burleske auf das Niveau der Masse herabgedrückt. Zu dem Pathos homerischen Heldengesanges tritt die Parodie in bezeichnenden Gegensatz. Selbst die Religion wird in den allgemeinen Gärungsprozeß hineingezogen. Das erwachte kritische Bewußtsein betätigt sich gegenüber den Göttern des Olymps ebenso, wie gegenüber den Herren dieser Erde. Man beginnt auch an das Tun der Götter und an ihr Verhältnis zu den Menschen einen sittlichen Maßstab anzulegen. Das leichtherzige Spiel mit dem Menschenschicksal, wie es die homerischen Götter treiben, ist der fortgeschrittenen ethischen und sozialen Anschauungsweise der Zeit ebenso unerträglich geworden, wie der Übermut der Aristokraten. Wie das irdische Recht den Charakter der Willkür abstreift, so sollen auch die Götter nicht mehr lediglich ihren Launen folgen. Auch von ihnen fordert man Gerechtigkeit. Ja am Ende der Epoche ist die Emanzipation des Gedankens auf einem Punkte angelangt, wo die mythisch begründeten Vorstellungen überhaupt nicht mehr genügten. Auf die alten Fragen nach Sinn und Bedeutung der Welt sucht man jetzt noch ganz andere Antworten, als es die gewesen, welche der religiöse Glaube erteilt hatte. Auch hier setzt sich der freie Gedanke gegen die Autorität der Tradition siegreich durch. Er sprengt die letzten Fesseln, die dem Flug nach den höchsten Zielen noch entgegenstanden. Unbekümmert um jede fremde Autorität sucht er ein Bild der Welt zu gestalten frei aus sich heraus, aus eigener Kraft! Die alte geistige Seßhaftigkeit, die Selbstverständlichkeit altgewohnter Anschauungen ist unwiederbringlich dahin.118

[152] Wo die wichtigsten Ideenkreise und Daseinsformen in dieser Weise im Fluß begriffen erschienen, war es nicht zu verwundern, daß sich zuletzt die Meinung einstellte, als gäbe es überhaupt nichts Festes mehr. Wenn sich so vieles als vergängliche Entwicklungsphase erwiesen, wie konnte man sich da bei irgendeiner Gestaltung der Dinge, die den Widerspruch herausforderte, als einer endgültigen beruhigen? »Wie konnte da die Geneigtheit dauern, vor einem vereinzelten Erzeugnis des unaufhörlichen Wandelprozesses als vor etwas Ewigem und Unantastbarem in den Staub zu sinken?«119 Das »Πάντα ῥεῖ« Heraklits zieht nur das Fazit der ganzen Epoche. Und wenn Lassalle von diesem, ihm in mancher Hinsicht so nahe verwandten Denker bemerkt, »er habe alle Ruhe und allen Stillstand aus der Welt verbannt, die ihm nur absolute Bewegung gewesen«; »es war Sturm in dieser Natur,«120 – so ist damit in gewissem Sinne die Zeit überhaupt gekennzeichnet, in welcher die geistige Eigenart Heraklits im letzten Grunde wurzelt. Jene Feuerseelen der heraklitischen Weltweisheit, in denen sich Lassalle selbst geschildert hat, sie sind recht eigentlich das Produkt der gewaltigen Gärungsepoche, welche die soziale, politische und geistige Physiognomie des Hellenentums von Grund aus umgewandelt hat.

So war die Zeit beschaffen, – ich möchte sagen, so mußte sie beschaffen sein, – in welcher der Sozialismus seinen Einzug in Europa hielt. Aus der Zeitatmosphäre erklärt es sich, wie jetzt einerseits jene zersetzende Kritik möglich wurde, welche selbst vor einer gründlichen Verneinung des Bestehenden nicht mehr zurückschreckte, und anderseits ein fanatischer Glaube an die Erreichbarkeit einer zukünftigen Ordnung sozialen Lebens, die sich eben auf einer von dem Bestehenden prinzipiell verschiedenen Grundlage aufbauen sollte. Wenn so vieles im Wandel der Zeit anders geworden, wenn sich – wie Solon einmal betont hat121 – Dinge verwirklichten, an die man vorher kaum im Traum gedacht, warum nicht noch mehr? Warum nicht alles, was erwünscht und möglich erschien? »So wird die revolutionäre Gegenwart zum Nährboden für die soziale Utopie der Zukunft.«122

Und dieser Glaube an die Durchführbarkeit eines gesellschaftlichen Ideals erhielt zu alledem noch eine mächtige Förderung dadurch, daß[153] gerade damals derjenige Machtfaktor, auf welchen es dabei in erster Linie ankam, daß der Staat eine neue erhöhte Bedeutung für das Gesamtleben des Volkes gewann. Aus dem Widerstreit gegen die ausbeutende Klassenherrschaft, aus der Anarchie des Klassenkampfes erwächst damals der Gedanke, durch die Zentralisierung der staatlichen Machtmittel in einer Hand die Lösung der Aufgaben zu ermöglichen, zu deren Übernahme sich der alte Staat unfähig erwiesen. Dieser Tendenz und der Sehnsucht nach einer wahren Staatsgewalt verdankt nicht nur die soziale Monarchie eines Pittakos und anderer Staatenordner ihren Ursprung, sondern vielfach auch die Tyrannis, die in dieser Zeit so überaus häufig das letzte Ergebnis des revolutionären Zersetzungsprozesses war und oft gerade an der Spitze der radikalsten Elemente des Volkes emporkam. Es ist die Epoche der großen Staatskünstler, in deren Hand der Staat als Kunstwerk, als bewußte, von der Reflexion und genauer Berechnung abhängige Schöpfung erschien, und deren absolute, allen widerstrebenden Interessen weit überlegene Gewalt eine völlig objektive, d.h. einzig und allein von der Rücksicht auf den Zweck geleitete Behandlung der Dinge ermöglichte. Und nun denke man sich diese einheitliche und bewußte Ausprägung des Staatsgedankens verstärkt durch die Tendenzen, die sich, wie wir sahen, schon aus der Natur der Polis selbst ergaben! Was muß nicht für diesen zentralisierten Stadtstaat auch auf dem Gebiete sozialer Hilfe und sozialer Reform durchgeführt gewesen sein, auf dem ja der ideale Rechtstitel der diktatorischen Gewalt recht eigentlich beruhte!

In der Tat, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welch rücksichtsloser Energie die Staatsgewalt damals regulierend in das Güterleben eingegriffen hat, so muß man sagen: Der damalige Staat hat sich als eine eminent schöpferische Kraft auf dem Gebiete sozialer Neugestaltung erwiesen. Wenn irgendeinmal, so mußte in einer Zeit, in der solches möglich war, der Gedanke auftauchen, daß man eine Verfassung sowohl des Staates, wie der Gesellschaft machen, durch die systematische Regelung aller in Betracht kommenden Verhältnisse neu produzieren könne, der Glaube, daß der Staat alles vermag, was er will. Zu dem Gefühle des Elends, der Unterdrückung kam jetzt das hinzu, was die soziale Bewegung erst recht gefährlich macht: allgemeine Anschauungen, die den Mühseligen und Beladenen glänzende Traumbilder allgemeiner Besserung verlockend vor Augen stellten und ihre Seelen mit der Hoffnung erfüllten, daß es nur eines beherzten Zugreifens, eines kühnen Entschlusses[154] bedürfe, um diese neue bessere Welt zur Wirklichkeit zu machen.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 142-155.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Klein Zaches

Klein Zaches

Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.

88 Seiten, 4.20 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon