Encyklopädie

[151] Encyklopädie. Das Wort ἐγκυκλοπαιδεία verdankt seinen Ursprung bloss einer falschen Lesart für ἐγκύκλιος παιδεία, d.h. kreisförmig umschriebener, sich wiederholender Unterricht, wie seit Aristotoles häufig der Kreis von Kennissen, Wissenschaften und Künsten genannt wurde, den der freie Grieche als Knabe und Jüngling durchlaufen musste, ehe er zur Vorbereitung auf einen besondern Lebenszweck oder ins thätige Leben selbst überging.

Die absterbende antike Welt fühlte das Bedürfnis, die Resultate ihrer wissenschaftlich pädagogischen Arbeit zum Zwecke des Unterrichtes zusammenzustellen. Der erste, der das mit Erfolg unternahm, war der Neuplatoniker Martianus Càpella mit seinem zwischen 410 und 427 geschriebenen Werke De nuptiis Philologiae et Mercurii et de septem artibus liberalibus, ein Werk in welchem sich die ausschweifendste Phantasie mit dem trockensten Verstande vermählte, welches jedoch im älteren Mittelalter lange Zeit eine Hauptgrundlage des gesamten Schulunterrichtes war. Von Notker Labeo hat man eine altdeutsche Übersetzung mit Kommentar. Von Boëtius sind einige Werke, namentlich Übersetzungen aristotelischer Schriften, die Übersetzung der Isagoge des Porphyrius, eines der Hauptschulbücher des Mittelalters, die Bücher De institutione arithmetica und die Ars geometrica für die encyklopädische Behandlung der Wissenschaften[151] in der Folgezeit vielfach wichtig gewesen, ein zusammenfassendes Werk dieser Art hat er aber nicht geschrieben. Dieses auf dem Boden des Christentums zuerst gethan zu haben, ist das Verdienst Cassiodors: Institutiones divinarum et saecularium lectionum oder litterarum, verfasst um 544, das den Mangel einer theologischen Hochschule im Abendlande einigermassen, und zunächst den Mönchen des Klosters Vivarium ersetzen sollte. Während das erste Buch eine Einleitung in das theologische Studium enthält, bietet das andere einen Abriss der sieben freien Künste. Von umfassendster encyklopädischer Wirkung war sodann das Werk des Isidorus Hispalensis, 20 Bücher Etymologiarum, worin eine, meist sehr unvollständige Uebersicht der wissenschaftlichen Materien mit einer Definition der wissenschaftlichen Begriffe und Objekte durch eine Etymologie der sie bezeichnenden Worte enthalten ist. Buch 1–3 enthalten die sieben freien Künste, 4. die Medizin, 5. »Gesetze« (Rechtsbegriffe, Verbrechen und Strafen) und »Zeiten«, d.h. Tag und Nacht, Monate, Jahreszeiten, Jahrhundert, Alter, Weltalter und daran anschliessend eine kurze Weltchronik; 6. Bibel und ihre Bücher, Bibliotheken, Arten der »Werke«, Schreibmaterial, Ostercyklus und Festverzeichnis. 7. Himmlische Hierarchie, Gottheit, Engel, Patriarchen, Propheten, Apostel, Klerus. 8. Kirche und ihre Sekten. 9. Sprachen und Völker, Namen der höchsten Staatsgewalten, Einteilung des Heeres, Magistraturen, Klassen der Bevölkerung und Verwandtschaftsgrade. 10. Etymologie einer Anzahl nach dem Alphabet geordneter Wörter. 11. Der Mensch nach den Teilen des Körpers, den Sinnen und Gliedern, Altersstufen. 12. Tiernamen. 13. Die Welt mit ihren Teilen, Himmel, Luft, Winde, Gewässer. 14. Die Erde, Erdteile, Inseln, Berge. 15. Wohnstätten der Menschen, Verzeichnis der wichtigsten Städte, öffentliche Gebäude, Arten der Häuser, Zimmer, Tempel, Felder, ihre Grenzen und Masse, Strafen. 16. Steine und Metalle, Gewichte, Masse und Zeichen dafür. 17. Feld- und Gartenbau. 18. Krieg und Spiele. 19. Schiff, Hausbau, Kleidung und Schmuck. 20. Speisen und Getränke, Haus- und Ackergerät. Ein ähnliches Werk Isidors ist De natura rerum, im Mittelalter ebenfalls viel gelesen und benutzt. Im karolingischen Zeitalter hat namentlich Rabanus sich bemüht, die wissenschaftliche Lehre des Zeitalters in Handbücher zusammenzufassen; dahin gehören De clericorum institutione in drei Büchern und die 22 Bücher De universo; das letztere ist freilich zum grossenteil wörtlich aus Isidors Etymologien abgeschrieben, nur dass für den christlichen Theologen die mystische Erklärung des Einzelnen beigefügt ist, welche aber ihrerseits meist ebenfalls einem Werke Isidors entnommen ist, den Allegoriae quaedam sacrae scripturae. Die Summe der wissenschaftlichen Kenntnisse, welche das christliche Mittelalter aus dem Altertum gerettet und in den besprochenen Formen aufgestapelt hatte, blieb nunmehr für drei Jahrhunderte ausreichend; erst die Kreuzzüge und besonders der von den Arabern gepflegte, der Natur und ihren Erscheinungen in höherem Masse zugewandte Geist, sowie das erneute und vertiefte Studium des Aristoteles brachte es mit sich, dass im 13. Jahrhundert die enzyklopädische Arbeit neu und mit Erfolg aufgenommen wurde. Es ist dies namentlich das Verdienst der Dominikaner, aus deren Orden die drei bedeutendsten Encyklopädien des späteren Mittelalters hervorgegangen sind, Albert der Grosse, Thomas von Cantimpré, dessen Liber de naturis rerum vom Regensburger Domherrn [152] Konrad von Megenberg im 14. Jahrhundert deutsch als »Buch der Natur« bearbeitet worden ist, und Vincenz von Beauvais, der Verfasser des Speculum quadruplex, das wiederum in Speculum naturale, doctrinale, morale und historiale zerfällt. Es wurde im 15. Jahrhundert öfters gedruckt und genoss noch in der Reformationszeit ein hohes Ansehen.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 151-153.
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