Meistergesang

[644] Meistergesang. Die Entstehung der Singschulen liegt bis jetzt noch sehr im Dunkeln; denn wenn sich auch die Meistersänger des 16. Jahrh. als unmittelbare Nachfolger der Minnesänger ausgaben, so lässt sich bis in die Mitte des 15. Jahrh. durchaus keine Singschule nachweisen; höchstens kann man vor dem genannten Zeitraum von einzelnen Meistersängern sprechen, d.h. Leuten bürgerlicher Herkunft, welche den Beruf des Sängers und Dichters ergriffen hatten und den Ehrennamen Meister trugen; schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kommen die Namen meistersinger, meistersanc und meistersanges orden vor, aber nur, um Gesang zu bezeichnen, der allen als Muster dienen könne. Die schulmässige Erlernung des Dichtens knüpft sich an den Namen Heinrichs von Meissen oder Frauenlobs, der 1317 oder 1318 zu Mainz starb und von Frauen in die Abside des Domes zu Grabe getragen wurde; er mit Heinrich von Müglin, Klingsor, dem starken Popp, Walther von der Vogelweide, Wolfgang Röhn, Ludwig Marner, Barthel Regenbogen, Römer von Zwickau, Konrad Geiger, dem Kanzler aus der Steiermark und dem Alten Steffan soll nach einem Meistergesang des 16. Jahrhunderts der Stifter der Singschule gewesen sein, zur Zeit Otto I.! Aber weder Frauenlob noch seine Nachfolger kannten das Institut der Singschulen; diese findet man vielmehr als geschlossene Gesellschaften nach dem Vorbilde der Zünfte nicht vor der Mitte des 15. Jahrhunderts und zwar zuerst in Oberdeutschland, in Mainz, Strassburg, Kolmar, Freiburg, dann in Augsburg, Nürnberg, Ulm, Regensburg, Memmingen; ferner in Österreich, östlich bis nach Schlesien hin in Görlitz und Danzig. Es scheint, dass neben dem Zunftwesen, welches namentlich die Teilung der Gesellschafter in Lehrlinge, Gesellen und Meister vorbildete, auch die Scholastik der Universitäten auf die Schulen wirksam[644] war. Es war dabei aufs Singen und aufs Dichten abgesehen. Die ersten Aufzeichnungen der Gesellschaftsordnungen, Tabulatur genannt, stammen aus dem 16. Jahrhundert. Jedes Gedicht ist nach der Tabulatur der Nürnberger Singschule ein Lied, d.h. strophisch gebaut und für den Gesang bestimmt, in der Kunstsprache ein Bar genannt. Dasselbe ist nach dem Gesetze der höfischen Kunst dreiteilig, besteht aus Stollen, Gegenstollen und Abgesang, die einer dreiteiligen Gliederung der Melodie entsprechen; die Strophe heisst Gesätz, Strophe und Melodie ein Ton; die Verschlingung der Verse und die Anzahl der zu einem Gesätz verwendeten Verse ist überaus künstlich, die letztere geht manchmal über 100 Zeilen hinaus. Die einzelnen Verse werden ausschliesslich nach der Zahl der Silben, ohne Beachtung ihres Wertes, gemessen; ihre Zahl soll nicht über dreizehn steigen, »weil mans am Atem nicht haben kann, mehr zu singen«. Um die künstlichen Gesätze und Töne herauszubringen, gestattete man sich anfangs die abscheulichste Willkür in der Behandlung der Sprache, gebrauchte verschiedene Mundarten nebeneinander, feilte an den Wörtern, hieb Silben einfach weg oder veränderte sie. Dagegen wurden nun freilich in der Tabulatur Verbote erlassen. Als Fehler werden hier aufgeführt die Milbe, wenn der letzte Buchstabe eines Wortes, das Halbwort, wenn eine ganze Silbe weggeworfen wird: wir singe, wir sage; Anhang heisst eine willkürliche Verlängerung des Wortes; Klebsilbe das Zusammenziehen eines zweisilbigen Wortes in eine Silbe: gtan für getan; Differenz das willkürliche Umstellen der Laute: Deib für Dieb. Der Vortrag darf nur gesangsweise geschehen, jedoch ohne alle musikalische Begleitung. In Bezug auf den Inhalt waren falsche Meinungen streng verpönt, d.h. »alle falsche, abergläubische, schwärmerische, unchristliche und ungegründete Lehren, Historien, Exempel und schändliche und unzüchtige Wörter, die der reinen, seligmachenden Lehre Jesu Christi, gutem Leben, Sitten, Wandel und Ehrbarkeit zuwiderlaufen«. Vor der Reformation waren es namentlich die Fragen der scholastischen Theologie, über die unbefleckte Empfängnis u. dgl. gewesen, was in den Schulen behandelt wurde, seit der Reformation der Inhalt der Schrift.

Die Gesellschaftsmitglieder wurden eingeteilt in Schüler »die die Tabulatur wissen«, Dichter, die nach fremden Tönen ein Lied zu machen imstande sind, und Meister, die einen neuen Ton erfunden haben. Der angehende Schüler wählt sich einen Meister, der die Lehre übernimmt; ist er weit genug vorgeschritten, so stellt ihn dieser der Gesellschaft vor, welche nach vorhergehender Prüfung und Verpflichtung auf die Zunftstatuten seine Aufnahme verfügt. Hat er sich »zu Ehr und Vorteil der Gesellschaft gehalten« und Proben seiner Geschicklichkeit abgelegt, so kann er auf Freisprechung antragen. Diese wird in den Singschulen vollzogen, welche öffentlich gehalten werden und mit denen Preisverteilungen verbunden sind. In Nürnberg wurde der dazu bestimmte Tag durch Anschlagtafeln bekannt gemacht. In der Kirche zu St. Katharinen stand dann neben der Kanzel der »Schaustuhl« für die Sänger, vor dem Chor ein mit Vorhängen verschlossenes Gerüste, das Gemerk. Auf diesem nehmen die Merker Platz, die Vorsteher der Zunft, denen die Aufrechterhaltung der Tabulatur, das Urteil und die Zuerkennung der Preise obliegt. Dann beginnt zuerst das »Freisingen«, bei welchem kein Preis zu gewinnen ist, darauf nach einem gemeinschaftlichen[645] erbaulichen Gesange das »Hauptsingen« um die Ehrenkette, um einen Kranz von künstlichen Blumen und selbst um Gold, welches ein Gönner der Gesellschaft ausgesetzt hat oder das am Eingange der Kirche gesammelt worden ist. Die Merker urteilen auch über die Aufnahme eines neuen Meisters, nachdem dieser einen Meisterton erfunden hat; derselbe wird unter Assistenz von zwei Gevattern auf »einen ehrlichen Namen« getauft und zu ewigem Gedächtnis in das Meisterbuch eingeschrieben. Die Feier schliesst mit einem Gelage auf der »Zeche«, dem gewöhnlichen Versammlungsorte der Zunft, wobei der Gewinner des Kranzes die Aufwartung zu besorgen hat. Ein Meister durfte seine Kunst nur neben dem Handwerk treiben und sollte sie nicht durch gewinnsüchtigen Betrieb entweihen. Der Schüler hatte zu geloben, »dass er kein Meisterlied oder Ton auf öffentlicher Gasse, auch nicht bei Gelagen und Gastereien hören lassen wolle«. Die Handwerke, welche dem Meistergesang am meisten zugethan waren, sind Schuhmacher, Kürschner und Weber. Die Nürnberger Schule erhielt sich bis tief ins 18. Jahrhundert; in Ulm löste sich die noch aus vier Meistern bestehende Singschule 1839 auf und setzte den Liederkranz zum Erben ihres Eigentums ein.

Eine bleibende Wirkung auf die Entwickelung der deutschen Dichtkunst hat der Meistergesang kaum gehabt, er war eine Art von Fortbildungsschule für Handwerker; nur eine einzige Schule kam zu höherem Ansehen, diejenige von Nürnberg, aber auch nur durch Hans Sachs. Doch beruhte auch dieses Mannes Ruhm nicht auf seinen zahlreichen Meisterliedern; er hat deren über 4000 verfasst, von denen zu seinen Lebzeiten keine gedruckt worden; was von ihm durch den Druck verbreitet wurde, sind nur ausser der Schule entstandene Spruch- und dramatische Dichtungen. Erst Goedeke hat im ersten Teile der von ihm herausgegebenen »Dichtungen von Hans Sachs, Leipzig 1870«, 159 Meisterlieder gesammelt und herausgegeben. Siehe Goedeke und Tittmann, Liederbuch aus dem 16. Jahrhundert, Einleitung zu den Meisterliedern, Wackernagel, Litteraturgeschichte, und Goedekes Grundriss § 139.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 644-646.
Lizenz:
Faksimiles:
644 | 645 | 646
Kategorien: