Meistergesang

[562] Meistergesang, die aus der höfischen Lyrik in Deutschland seit der Mitte des 13. Jahrh. hervorgegangene Liederdichtung kunstmäßig geschulter bürgerlicher Sänger. Zunächst suchen diese »Meistersinger« an den Höfen und in den Städten mit der Ausübung ihrer Kunst den Lebenserwerb; in späterer Zeit pflegen seßhafte Bürger, vor allem Handwerker, in organisierten Genossenschaften den M. mehr aus Liebe zur Kunst als um des Lohnes willen. Im Gegensatze zur Volkspoesie und Spielmannsdichtung legen sie den Hauptwert auf künstliche metrisch-musikalische Formen, die teilweise von der ältern Kunstlyrik übernommen, teilweise nach den alten Gesetzen neu gebildet werden. Dabei verknöchert die Kunstübung allmählich zu leerstem Formalismus, und während die Vers- und Strophenschemen immer weitschichtiger und verwickelter werden, tritt an Stelle des natürlichen Rhythmus mechanische Silbenzählung und völlige Vernachlässigung des poetischen Stils. Die Hauptgattung der alten ritterlichen Lyrik, das persönliche Liebeslied, tritt zurück; geistliche, gelehrte und lehrhafte Gegenstände, auch Erzählungen pflegen den Inhalt der Meistergesänge zu bilden; vor der Reformation bietet die scholastische Theologie, nachher Luthers Bibel die vornehmsten Gegenstände. Von den berufsmäßigen Meistersingern sind um die Mitte des 13. Jahrh. der Marner, im 13.–14. Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, im 14. Jahrh. Heinrich von Mügeln, im 15. Muskatblut und Michael Beheim besonders zu nennen. Sowohl schulmäßiger Unterricht im Meistergesang als auch das Veranstalten von öffentlichen Wettsingen ist schon bei ihnen nachzuweisen. Die älteste bestimmte Nachricht über eine städtische Meistersingerschule aber betrifft die Einrichtung einer solchen in Augsburg gegen 1450, und die älteste Meistersingerordnung, die wir besitzen, stammt aus Freiburg i. Br. vom J. 1513. Hier handelt es sich schon um Sängergenossenschaften ansässiger Bürger. Solche Meistersingerschulen lassen sich schon im 15. Jahrh. auch in Worms, Straßburg, Mainz, Nürnberg nachweisen, im 16. Jahrh. treten weitere fränkische, elsässische, schwäbische, bayrische Städte hinzu, und bis nach Dresden, Iglau in Mähren, Breslau und Danzig verbreitet sich diese Einrichtung. Die höchste Blüte erreichte im 16. Jahrh. die Nürnberger Meistersingerschule unter Hans Sachs.

Sagenhaft ist die Angabe, die sich bei den Meistersingern findet, daß ihre Kunstgenossenschaft durch Kaiser Otto d. Gr. begründet worden sei; richtig dagegen ist es, wenn sie als die zwölf Väter ihrer Kunst die bekanntesten Namen höfischer Minnesinger und Spruchdichter des 13. Jahrh. nennen, insofern jene die Formen geschaffen haben, die für sie maßgebend wurden. Die Gesetze des Meistergesanges wurden mehrfach schon im 15. Jahrh. in Meisterliedern unter der Benennung Schulkunst aufgezählt; aus dem 16. Jahrh. sind uns auch ihre Aufzeichnungen in Prosa, sogen. Schulzettel oder Tabulaturen überliefert. Für den Bau des Meisterliedes galt das Gesetz, daß die Strophe aus drei Teilen bestand, von denen die beiden ersten, die Stollen, gleichgebaut waren, während der dritte, der Abgesang, abwich; doch wurde nicht selten hinter dem Abgesang noch einmal ein Stollen angefügt. Das Lied enthielt in der Regel 3,5 oder 7 solcher Strophen und wurde ein Bar genannt, die Melodie bezeichnete man als Ton oder Weise.

Die Vereinigungen der »Liebhaber des deutschen Meistergesangs«, wie sich die Genossen nannten, bildeten in sich fest gegliederte Körperschaften, die in aufsteigender Linie die Stufen der Schüler, Schulfreunde, Sänger, Dichter und Meister umfaßten. Nur wer eine neue Weise erfunden und fehlerfrei vorgetragen hatte, erfreute sich der Ernennung zum Meister. Alle Meisterlieder wurden singend, jedoch ohne Musikbegleitung vorgetragen. Die Übungen hießen das Schulsingen. Den Vorsitz der Schule hatte das Gemerk, bestehend aus dem Büchsenmeister (Kassierer), Schlüsselmeister (Verwalter), Werkmeister und Kronmeister. Die großen öffentlichen Vorführungen der Meistersinger erfolgten meist in einer Kirche und sollten feststellen, wer die Gesetze der Kunst am besten zu handhaben wisse. Bei dem Hauptsingen durften sich nur Mitglieder der Genossenschaft beteiligen, und die dabei vorgetragenen Lieder durften nur geistliche Gegenstände behandeln. Das Richteramt hatten die Merker zu versehen, die, hinter einem Vorhang verborgen, jeden Verstoß gegen die metrischen Regeln, gegen sprachliche Korrektheit und auch gegen die geistliche Lehre, bez. gegen den Text aus Luthers Bibel, der dem Liede zugrunde gelegt war, in der durch die Tabulatur vorgeschriebenen Weise notierten. Wer einen der allerschlimmsten Verstöße machte, hatte »versungen« und mußte abbrechen. Die leichtern Fehler wurden addiert, und wer am besten dabei bestand, erhielt das »Schulkleinod«, in Nürnberg den sogen. David, ein silbernes Gehänge mit einer Schaumünze, auf der König David, die Harfe spielend, abgebildet war; der zweite Preis bestand in einem Kranz von sei denen Blumen. Beide Auszeichnungen wurden jedoch nur für den einen Tag des Schulsingens verteilt. Dem Hauptsingen ging oft ein Freisingen voraus, bei dem auch auswärtige Sänger zugelassen, ernste, weltliche Gegenstände gestattet wurden und Wertgegenstände den Preis bildeten. Bei den geselligen Vereinigungen der Meister, den »Zechen«, wurden auch allerlei Schwänke in Gestalt von Meisterliedern gesungen. Zahllos waren die Töne, die zum Teil nach ihren Erfindern, zum Teil aber auch mit frei gewählten, unglaublich wundersamen und überaus lächerlichen Namen bezeichnet wurden. So gab es einen Marners Hofton, einen Hofton des Tannhäuser, den roten Ton Peter Zwingers, den Blütenton Frauenlobs, den abgeschiedenen Ton Lienhard Nunnenbecks, eine Hans Sachsens Spruchweis etc., daneben eine Gestreiftsafranblümleinweis, eine Fettdachsweis, Vielfraßweis, Cliusposaunenweis, Offenehelmweis, geblümte Paradiesweis, Schwarztintenweis u. a. Es versteht sich von selbst, daß der M. seiner ganzen Entstehung und Übung nach nicht dazu angetan war, wirkliche Poesie ins Leben zu rufen. Um so erfreulicher ist die kulturhistorische Seite dieser merkwürdigen Erscheinung der deutschen Geistesgeschichte. Eng verbunden mit dem kräftig aufblühenden Städtewesen, trägt der M. in seinen Übungen und[562] Erzeugnissen durchweg die Merkmale ehrsam bürgerlicher Tüchtigkeit und frommer Anhänglichkeit an das von den Vätern Überlieferte. Gegenüber der rohen Genußsucht seiner Zeit erhebt sich in ihm ein zwar poesieloses, künstlerisch dürftiges, aber von wackerstem, treuherzig biederm Sinn erfülltes Streben nach edlerm geistigen Tun. Es ist dabei charakteristisch, daß die Pfleger des Meistersingens zumeist der neuen, reformatorischen Kirchenlehre zugetan waren. Das geistige Leben des Meistergesangs hat sogar das Reformationszeitalter nicht überdauert, wenn auch einzelne Schulen ihre Tätigkeit still und treu bis tief ins 18. Jahrh. und später fortgesetzt haben, wie denn z. B. in Ulm noch 1830 zwölf alte Singmeister vorhanden waren, von denen 21. Okt. 1839 die vier zuletzt übriggebliebenen den alten M. feierlich beschlossen und ihr Inventar dem Ulmer Liederkranz vermacht haben. Von den in Handschriften überaus zahlreich vorhandenen Meistergesängen sind ihres geringen poetischen Wertes wegen nur wenige durch den Druck veröffentlicht. Proben enthalten: Görres, Altdeutsche Volks- und Meisterlieder (aus der Heidelberger Handschrift, Frankf. 1817), und Bartsch, Meisterlieder der Kolmarer Handschrift (Stuttg., Literarischer Verein, 1862). Von den ältern Schriften und Berichten über den M. sind hervorzuheben: Adam Puschmann, Gründlicher Bericht des deutschen Meistergesangs zusamt der Tabulatur etc. (Görlitz 1571; Neudruck, Halle 1888), und Wagenseil, Buch von der Meistersinger holdseliger Kunst (Altdorf 1697); »Nürnberger Meistersingerprotokolle« (hrsg. von Drescher, Stuttg. 1897 bis 1898, 2 Bde.; Literarischer Verein); »Das Gemerkbüchlein des Hans Sachs« (hrsg. von Drescher, Halle 1898). Vgl. J. Grimm, Über den altdeutschen M. (Götting. 1811); Schnorr v. Carolsfeld, Zur Geschichte des deutschen Meistergesangs (Berl. 1872); Liliencron, Über den Inhalt der allgemeinen Bildung in der Zeit der Scholastik (Münch. 1876); Jacobsthal, Die musikalische Bildung der Meistersinger (in der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd. 20); Lyon, Minne- und Meistergesang (Leipz. 1883); Mey, Der M. in Geschichte und Kunst (2. Aufl., das. 1900). Eine hervorragende künstlerische Darstellung erfuhr der M. durch R. Wagner in seinem Musikdrama »Die Meistersinger zu Nürnberg« (1868).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 562-563.
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