Erzählung

[85] Erzählung ist eine Grundform der poetischen Darstellung; das »erzählende Element« der Poesie besteht in der Aussage über Geschehnisse der äußern oder innern Welt; am nächsten steht ihm das auf Objekte und Zustände sich beziehende beschreibende Element (s. Poesie). Im engern Sinn ist E. eine Unterart der erzählenden oder »epischen Dichtung« (s.d.). Sie unterscheidet sich vom Epos und Roman durch die engere Begrenzung des Stoffes, sie bietet kein Weltbild wie diese, sondern einen engern Ausschnitt des Lebens; sie kann in jeder Kulturschicht spielen, und weder die volkstümliche Anschauungsweise der epischen Zeit, noch die modern-individuelle ist von ihr[85] ausgeschlossen; sie kann alle Arten der ästhetischen Grundstimmungen (die pathetische, satirische, elegische oder humoristische) aufweisen; sie kann in Vers oder Prosa auftreten und sehr verschiedenen Umfangs sein; sie ist oft nur schwer von der Novelle zu scheiden. Das Hauptcharakteristikum ist, daß in ihr das erzählende Element unbedingt vorwaltet: eine E. mit langen Beschreibungen, Reflexionen und lyrischen Ergüssen wäre ein Unding. Zur Gattung der Verserzählung oder poetischen E. gehören z. B. die kleinern erzählenden Poesien der mittelalterlichen Dichter (»Der arme Heinrich« von Hartmann von Aue etc.), die von H. Sachs, Hagedorn, Wieland etc., wie die zahlreichen lyrisch-epischen Dichtungen der Neuzeit von W. Scott (»Mädchen vom See«), Lord Byron, Th. MooreLalla Rookh«), Longfellow (»Evangeline«), Zedlitz (»Waldfräulein«), KinkelOtto der Schütz«), J. WolffRattenfänger«) u. a.

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Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 85-86.
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