Novelle

[823] Novelle (ital. novella, »Neuigkeit«) ist diejenige Gattung der Epischen Dichtung (s. d.), die eine einzelne Begebenheit von entscheidender innerer und äußerer Bedeutung (fast stets in der Form der Prosa) zur Darstellung bringt. Durch die in der Regel angewandte Prosaform steht die N. dem Roman nahe; sie verweilt wie dieser zumeist in der Welt der Wirklichkeit und meidet das Reich des Wunderbaren und imaginärer Träume; desgleichen siedelt sie sich wie der Roman nicht in der primitiven Kulturschicht einfachster sozialer Verhältnisse an (dieses ist vielmehr[823] die Welt des Epos), sondern in bereits verwickeltern modernern Zuständen. Sie schildert auch ebensowenig wie der Roman die großen Bewegungen des Gesamtbewußtseins, die Erschütterungen und Kämpfe der Nation (auch dieses ist Sache des Epos), sondern beschränkt sich auf die Erlebnisse des einzelnen. Während aber der Roman solche Erlebnisse von dem kräftig gezeichneten Milieu bestimmter Verhältnisse deutlich abhebt und in breiterer Darstellung ganze Schichten des Lebens beleuchtet, stellt die N. ihren Gegenstand nicht in einen solchen Rahmen hinein, und wie sie auf diese Weise dem beschreibenden Element der Poesie nur einen kleinen Spielraum gewährt, so versteht sie es auch, das lyrische und das reflektierende Element in engen Grenzen zu halten. Ihr Wesen besteht in einer möglichst reinen Entfaltung des erzählenden Elements, sie hebt einen entscheidenden Vorgang, vor allem aber die durch ihn hervorgerufene Wendung in dem gesamten Seelenleben des Helden mit eindrucksvoller Klarheit hervor. Durch eben diese Konzentration der psychologisch vertieften Handlung rückt die N. in nahe Beziehung zu dem Drama. Dramatiker, wie Shakespeare, Calderon, haben daher ihre Dramenstoffe nicht selten aus Novellen (z. B. »Romeo und Julie«) entlehnt oder sind, wie H. v. Kleist, Fr. Hebbel, Halm u.a., zugleich Novellisten gewesen. Meister der N. sind: BoccaccioIl Decamerone«) und Bandello, später Tommaso G. Masuccio, G. Franc. Straparola, Gabriele d'Annunzio u.a. in Italien; Don Juan Manuel und vornehmlich Cervantes in Spanien; die Königin Margarete von Navarra, Scarron, Marmontel und Voltaire in Frankreich; unter den Deutschen Goethe, Tieck, H. v. Kleist, H. Steffens, P. Heyse, F. Halm, Storm, K. Ferd. Meyer, Gottfried Keller u.a. Eine Auswahl italienischer, spanischer, französischer, englischer und deutscher Novellen enthält E. v. Bülows »Novellenbuch« (Leipz. 1834–36, 4 Bde.). Außerdem gaben A. v. Keller einen »Italienischen Novellenschatz« (Leipz. 1852, 6 Bde.), Paul Heyse mit Herm. Kurz einen »Deutschen Novellenschatz« (Münch. 1870–76, 24 Bde.) und »Novellenschatz des Auslandes« (das. 1872–74, 14 Bde.) sowie mit Laistner einen »Neuen deutschen Novellenschatz« (das. 1884–1888, 24 Bde.) heraus

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 823-824.
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