Tierkunde

[976] Tierkunde des Mittelalters. Dass dem natürlichen Auge des Mittelalters Tierbeobachtung nicht fremd war, beweist die Verbreitung und liebevolle Bearbeitung der Tiersage; doch wurzelt diese mehr in den volksmässig-natürlichen Anlagen des mit der Natur zusammenlebenden Menschen; was man im engern Sinne Geist des Mittelalters nennt, die den Grundlagen des natürlichen Lebens abgewendete, dem Christentum und seinen Wundern zugewandte, phantastisch-romantische Weltanschauung, so hat diese für die Gegenstände der Natur überhaupt wie insbesondere für die Tierwelt nur sehr wenig Verständnis, und soweit sie sich der Tierwelt nicht ganz entschlägt, zieht sie dieselbe mit Vorliebe in den Dienst ihrer metaphysisch-symbolischen Ideen von Himmel und Hölle, Christus und Maria, Tugenden und Laster u. dgl., dergestalt, dass die Zoologie des Mittelalters wenig anders als ein Stück Theologie scheint. Vorgearbeit hatte aber in dieser Betrachtungsweise schon die alte Welt, welche, die exaktere Beobachtungs-Methode des Aristoteles verlassend, ihre Kenntnis und Teilnahme an der Tierwelt vielfach mit wildem Aberglauben verquickte; Zeugnisse davon sind Plinius und Älian, deren Nachrichten zum Teil in die Encyklopädie des Isidor übergegangen sind. Das Hauptwerk aber der Tierkunde des früheren Mittelalters ist der Physiologus, dessen ausserordentliche Verbreitung schon daraus erhellt, dass man ihn, prosaisch oder metrisch, in griechischer, lateinischer, syrischer, armenischer, arabischer, äthiopischer, althochdeutscher, angelsächsischer, altenglischer, irländischer, provençalischer und altfranzösischer Sprache erhalten findet. Dieses Lehrbüchlein der mittelalterlichen Welt scheint in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung von Lehrern orientalisch-alexandrinischer Christengemeinden verfasst worden zu sein. Die Tiere, welche darin zur Beschreibung kamen, waren die biblischen, den naturhistorischen Gehalt boten die heidnischen Tierfabeln und Tiergeschichten, Zweck des Buches war schliesslich symbolische Anwendung der Tierwelt auf die christliche Lehre.[976] Erst mit der Zeit erhielt die Sammlung eine kanonisch fixierte Gestalt, an welcher dann nur noch, durch Ort und Zeit veranlasst, Äusserlichkeiten geändert wurden. Anfangs war die Kirche dem Physiologus nicht günstig, seit Gregor d. Gr. galt er aber als anerkanntes Lehrbuch der christlichen Zoologie; seine Bedeutung erlischt erst im 14. Jahrhundert. Viele Handschriften des Physiologus oder Bestiarius, wie er auch heisst, waren illustriert. Die hauptsächlichsten Tiere des Physiologus sind der Löwe, der Panther oder Pardel, ein Tier, das nie seinesgleichen auf der Welt hatte, – sanftmütig und wundersam, das Fell rot, blau, gelb, grün, schwarz und grau gefleckt, aus seinem Munde strömt ein Geruch, lieblicher als ein ganzes Blumenbeet oder Spezereigewölbe, so dass die Tiere von allen Seiten seiner Färte folgen; er ist das Sinnbild Christi Der Elefant ist das grösste Tier der Welt, hat viel Verstand und wenig Geschlechtstrieb. Er schläft stehend, an einen Baum gelehnt; Jäger, die ihn fangen wollen, suchen die Stellen und Bäume auszukundschaften, wo er schläft, nachher sägen sie den Baum bis auf ein dünnes Ende durch, und wenn der Elefant sich daran lehnt, so fällt er mit dem Baume um und schreit erbärmlich. Das Horn des Einkorns (der Stosszahn des Narwal galt dafür) bewahrt den Besitzer vor Vergiftung; Probierlöffelchen daraus dienen, mit silbernen Kettchen angelötet, namentlich an Salzfässern und Trinkbechern, um bei Tafel vor heimtückischen Anschlägen zu sichern. Das Einhorn selbst ist Symbol der unbefleckten Empfängnis. Seine Gestalt dachte man sich anfangs als ein Ziegenlamm, später als Rhinozeros oder Schimmel. Das Antholops oder Aptolops, Aptolos, Antula ist ein wildes schnellfüssiges Thier mit zwei langen Hörnern, scharf wie eine Messerklinge und zackig wie eine Säge, so dass es damit die dickstem Bäume zerschneiden oder umsägen kann; diese Hörner sind die beiden Testamente. Der Waldesel oder Wildesel, bei welchem Nebukadnezar wohnte, lebt in Afrika und schreit nur, wenn er nichts mehr zu fressen hat. Jedes Jahr am 25. März brüllt er zwölf Mal in der Nacht und ebenso oft am Tage; daraus erkennt man, dass die Nächte ebenso lang sind als die Tage. Der Wolf ist stark an den Füssen, aber schwach in den Rippen und so geartet, dass er den Kopf nicht nach hinten hinwenden kann; wenn er hinter sich sehen will, muss er sich deshalb mit dem ganzen Leibe umdrehen. Die Wölfin wirft im Monat Mai Junge, und nur, wenn es donnert. Von den zahlreichen Kniffen des Fuchses steht im Physiologus bloss die Geschichte, wie er sich scheinbar tot mit dem Rücken auf die Erde legt, in der Absicht, unbesonnene Vögel als Aas anzulocken und sie nachher zu töten. Es folgen dann der Bock, der Biber, der Igel, das Wiesel, der Hydrus oder Ydris, eigentlich das Ichneumon, der Adler; wenn er altert, so erlahmt die Kraft seiner Flügel und trübt sich die Hellsichtigkeit seiner Augen; dann fliegt er zur Sonne auf, wärmt sich an ihren Strahlen, senkt sich nieder und taucht dreimal in einen Brunnen, woraus er völlig verjüngt hervorgeht; der Geier; der Rabe; der Strauss; der Storch; der Falk (Reiher); der Kranich; der Ibis; der Hahn; der Kalander, nach der deutsch-mittelalterlichen Anschauung der Lewark, die grosse Haubenlerche; er ist ein ganz weiss und ein äusserst kluger Vogel, dessen zu- oder abgewandter Blick über Leben und Tod entscheidet. Er hat nämlich die Art, wenn man ihn zu einem siechen Menschen bringt, so deutet er an, ob der Mensch sterben oder genesen soll. Verschmäht er des Kranken Antlitz[977] und wendet seine Augen von ihm ab, so stirbt der Kranke; kehrt er sich aber zu dem Kranken hin und legt seinen Schnabel auf dessen Mund, so genest der Kranke, denn der Vogel nimmt sein Siechthum an sich, fliegt damit hoch in die Luft hinauf und verbrennt es an den Sonnenstrahlen. Der Kalander, auch Galiander, Calandrius, Caradrius genannt, ist ein Sinnbild Christi. Die Eule; das Rebhuhn; die Drachen und deren Abart, die Serra; die Schlange; die Otter; die Viper.

In der höfischen Dichtung findet man den Einfluss des Physiologus namentlich in demjenigen Abschnitt von Freidanks Bescheidenheit, der von tieren überschrieben ist.

Eine Erneuerung seiner Tierkunde erlebte das Mittelalter erst dadurch, dass im 13. Jahrhundert durch Vermittlung der Araber die zoologischen Schriften des Aristoteles im Abendlande bekannt und ins Lateinische übersetzt wurden; die beiden Übersetzer sind Michael Scotus, wie erzählt wird, durch Kaiser Friedrich II., den Verfasser des Buches über die Falkenjagd, dazu aufgefordert, und Wilhelm von Moerbeke. Unter Benutzung des Aristoteles stellten sich darauf drei Dominikaner in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Aufgabe, das gesamte zoologische Wissen der Zeit in umfassender Form zur Darstellung zubringen; und zwar schrieb Thomas von Cantimpré (1201 bis 1263) in 20 Büchern de naturis rerum; Buch 1 beginnt mit der menschlichen Anatomie, 2 handelt von der Seele, 3 von den monströsen Menschen des Orients, 4–9 von den Tieren, 10–12 von den Bäumen und Kräutern, 13–20 von den Quellen, Edelsteinen, vielen Metallen, sieben Gegenden und humores der Luft, dem Himmelsgewölbe und den sieben Planeten, dem Donner und ähnlichen Erscheinungen, den vier Elementen und der Bewegung der Gestirne. Thomas hat ausser dem Aristoteles die ganze dieser Zeit zugängliche zoologische Litteratur benutzt; ausser den Alten, wie Theophrast und Plinius, die Kirchenväter, den Isidor, verschiedene mittelalterliche Schriftsteller, auch den Physiologus und ähnliche seltenere Lehrbücher, und wenn er natürlich weder von der moralisierenden Methode noch vom Wunderglauben frei ist, so bezeichnet seine Anschauung zufolge ihrer grösseren Objektivität doch einen wesentlichen Fortschritt. Sein Lehrer ist Albertus Magnus, gest. 1280; dessen Werk über die Tiere ist aber später als dasjenige des Thomas geschrieben, um 1250; es enthält ausser den 19 Büchern des Aristoteles noch sieben weitere, in welchen von der Natur der tierischen Körper, von den Vollkommenheitsgraden, den vierfüssigen Tieren, Vögeln, Wassertieren, Schlangen und den kleinen blutlosen Tieren gehandelt wird; Albert hat das Werk seines Vorgängers und Schülers fleissig zu Rate gezogen, zeichnet sich aber ihm gegenüber durch eine planvolle systematische Durcharbeitung der Aristotelischen Naturphilosophie aus. Der dritte Dominikaner ist der bekannte Vincentius Bellovascensis, dessen Speculum quadruplex (siehe Geschichtschreibnng) auch einen speculum naturale enthält. Er hat noch mehr Schriftsteller als seine beiden Vorgänger ausgezogen, auch, wie Albert, den Thomas stark benutzt; sonst ist ihm Albert an Sicherheit und Konsequenz der Ansichten überlegen. Der Franziskaner-Orden nimmt an diesen zoologischen Arbeiten durch ein Werk des Bartholomäus Anglicus de proprietatibus rerum Anteil, das bis ins 17. Jahrhundert neu gedruckt wurde.

Mit den genannten Werken trat vorläufig ein Stillstand in der zoologischen Forschung ein; doch[978] wurden von Bedeutung zwei im 14. Jahrhundert entstandene Bearbeitungen des Thomas von Cantimpré, eine prosaische deutsche, das Buch der Natur von Konrad von Megenberg, herausgegeben von Franz Pfeiffer; Stuttgart 1861, und eine versifizierte niederländische, der »Naturen bloeme« von Jakob von Maerlant. Konrad von Megenberg war ebenfalls Dominikaner, um 1309 in Bayern geboren, starb 1374 als Domherr zu Regensburg; sein Buch der Natur war sehr verbreitet und wurde bloss vor 1500 sechsmal gedruckt. Jakob von Maerlant starb 1300 als Stadtschreiber in Westflandern.

Die Anfänge der neuern, auf die Beobachtung der Natur selbst gegründeten Natur und Tierkunde sucht man in Italien; schon an Dante bewundert man die reiche Fülle von Naturbetrachtung; Tiergärten waren in Italien früh Sitte geworden; schon Kaiser Friedrich II. hatte sich einen angelegt, im 15. Jahrhundert gehörten sie zum regelmässigen Luxus der Fürsten und Städte. Doch war das Hauptinteresse des Humanismus sowohl als der unmittelbar folgenden Zeiten immer nur in bescheidenem Masse der Tierwelt zugewendet. Die Sammlungen naturwissenschaftlicher Gegenstände blieben noch lange Raritäten-Kabinete; im Mittelalter freilich waren sie den Reliquiensammlungen in den Kirchen angehängt worden. Manches trugen die Entdeckung des neuen Weltteils und Reisen nach andern Ländern zur Erforschung der Naturbeobachtung bei, und der freiere Forschungsgeist, der überhaupt seit dem 15. Jahrhundert erwacht war, brachte es mit sich, dass auch die Tierkunde namentlich durch ein klassisches Werk der Reformationszeit wesentliche Erneuerung erfuhr, durch Konrad Gessners historia animalium 1551. J.V. Carus. Geschichte der Zoologie, München 1872; E. Kolloff, die sagenhafte symbolische Tiergeschichte des Mittelalters, in Raumers hist. Taschenbuch, IV. Folge, Jahrg. 8, 1867, 179–269. Voigt, Tierpflege an den deutschen Höfen, in Raumers Taschenb. I. 1830 und VI, 1835. – Piper, die Herrschaft des Menschen über die Tiere. Evangel. Kalender 1860. S. 28–38.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 976-979.
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