Harpýiae

[1195] HARPÝIAE, árum, Gr. Ἁρπύιαι, ῶν, ( Tab. IV.)

1 §. Namen. Diesen haben sie von ἀρπῶμαι, ich gebrauche die Sichel, Voss. Theol. gent. l. III. c. 99. oder auch von ἁρπάζω, ich raube, welches denn wiederum von dem Ebräischen harabh, [1195] ich verheere mit dem Schwerte, herkömmt. Id. Etymol. in Rapio. Andere leiten solchen Namen von arbah her, welcher so viel als eine Heuschrecke bedeutet. Cleric. ap. Banier Entret. XIV. ou P. II. p. 104. Dessen Götterl. IV B. 538 S. Jurieu hist. crit. & dogm. p. 634.

2 §. Aeltern. Ihr Vater war Thaumas, die Mutter aber Elektra, des Oceans Tochter, und sie also Schwestern der Iris. Hesiod. Theog. v. 265. Andere machen sie zu Töchtern des Pontus und der Erde, Serv. ad Virg. Aen III. v. 241. und die dritten geben diese und den Neptun zu ihren Aeltern an. Acusilaus ap. Nat. Com. l. VII. c. 6.

3 §. Besondere Namen. Man ist wegen dieser so wenig, als wegen ihrer Zahl einig. Insgemein nimmt man ihrer drey an, Aello. Ocypete, Celäno. Serv. ad Virg. Aen. III. 209. Fulgent. Mythol. l. I. c. 8. Tzetz. ad Lycoph. 167. Andere setzen für Aello Podarge, Hygin. præf. p. 14. und noch andere für diese und die Celäno eine Alope und Acheloe. Asius ap. Nat. Com. l. VII. c. 6. Doch auch Ocypete wird von einigen Ocypode, Achæus ib. und von andern Ocyrr hoe genannt. Asclepiades ibid. Diesen dreyen fügen einige noch die Thyella, Stesichorus ibid. und andere die Nikothoe bey. Sie nennen auch die Aello Aellopus, und die Ocypete Ocythoe. Apollod. lib. I. c. 9. §. 21. Jedoch geben einige auch nur ihrer zwo an, Aello und Ocypete. Hesiod Theog. v. 267. & Apollod. lib. I. c. 2. §. 6.

4 §. Gestalt. Sie hatten Gesichter wie Jungfern, aber Hände mit großen krummen Klauen, sahen dabey vor Hunger ganz bleich aus, und schmeißeten sogleich wieder von sich, was sie eingeschlucket hatten. Virgil. Aen. III. v. 216. Sie besudelten alles durch ihre unreine Berührung; und weil sie Flügel hatten, so schossen sie schnell hinzu, wo sie Speise vermerketen, und machten im Fliegen ein großes Geräusch. Ibid. v. 226. Ihre Leiber waren wie die Geyer allenthalben voller Federn, jedoch hatten sie Hände und Füße wie Menschen, allein [1196] Ohren wie die Bäre. Tzetz. ad Lycophr. 653. Nach dieser Beschreibung sind diejenigen Vorstellungen, welche man auf einigen Gemmen, Münzen und andern Denkmälern findet, und die für Harpyien ausgegeben werden, Gorlæi Dactylioth. T. II. 517. Beger. Thes. Brand. T. III. p. 371. Spanh. de usu & pr. N. T. I. p. 260. gewiß keine, sondern entweder den stymphalischen Vögeln, oder den Syrenen beyzuzählen. Montfauc. antiq. expl. T. I. P. II. L. IV. ch. 9. §. 6.

5 §. Wesen und Schicksal. Sie werden mit unter die Furien gerechnet, Serv. ad Virg. Aen. III. v. 211. wiewohl sie davon ganz unterschieden sind. Spanhem. de usu et præst. num. T. I. p. 260. Man nannte sie Jupiters Hunde. Serv. ibid. v. 209. Apollon. II. 289. Sie woh. neten nach einigen mit in dem Eingange der Hölle. Virgil. Aen. VI. 289. Andere wollen jedoch dieses erst von ihnen verstehen, da sie schon gestorben gewesen, oder daß man auch nur deren Bildnisse da gesehen; Serv. ad eumd. l. c. denn sonst war ihr Aufenthalt in Thracien. Tzetz. ad Lycoph. 653. Indessen waren sie insonderheit dem Phineus zur Plage zugegeben. Denn so bald diesem sein Essen auf den Tisch gesetzet wurde, so kamen sie mit einem großen Geräusche aus der Höhe herunter geflogen, und raubeten es ihm größten Theils hinweg: das übrige aber beschmeißeten sie dergestalt, daß es vor Unflate und Gestanke nicht genossen werden konnte. Als nun nach der Zeit die Argonauten zu gedachtem Phineus kamen, so versprach er ihnen alles zu sagen, was zu ihrer Reise nöthig seyn würde, wenn sie ihn von solcher Plage der Harpyien befreyen wollte. Es vermochten daher diese den Kalais und Zetes, des Boreas Söhne, daß sie, weil sie auch geflügelt waren, dieselben vertreiben möchten. Diese machten sich also mit ihren entblößeten Schwertern an sie; und, weil sie selbst hätten sterben müssen, wenn sie solche nicht erleget hätten, so verfolgeten sie dieselben desto heftiger. Da sie dieselben nun erreichet hatten, so stürzete[1197] die eine todt in den Fluß Tigris an den Küsten des Peloponnesus, welcher denn daher den Namen Harpys bekam; die andere aber wurde bis in die echinadischen oder vielmehr die plotischen Inseln verfolget, woselbst sie wieder umkehrete, und nebst ihrem Verfolger vor Müdigkeit niederfiel. Apollod. lib. I. c. 9. §. 21. Jedoch wollen auch einige, daß sie solche Harpyien beyderseits bis in besagte Inseln verfolget; wo Jupiter ihnen die Iris zuschickete, und sie erinnern ließ, sie nicht weiter zu verfolgen. Weil sie ihnen nun zuschwur, daß sie dem Phineus ferner kein Leid thun sollten, so ließen sie von ihnen ab, und kehreten wieder zu den Argonauten zurück. Von dieser Zurückkehr erhielten besagte Inseln den Namen der Strophaden. Apollon. l. II. 286. Serv. ad Virg. l. c. Andere wollen, daß sie mit Pfeilen von ihren Verfolgern erschossen worden. Panyasis ap. Nat. Com. l. VI. c. 6. Bey allem dem aber halten einige sie für einerley mit den Stymphaliden, welche Herkules vertrieben. Natal. Com. l. c. Sie sollen sich endlich in einer Höhle in Kreta verkrochen haben, und hernach niemals wieder zum Vorscheine gekommen seyn. Apollon. l. c. v. 298. itemque Neoptolem. & Pherecydes ap. Schol. ad eumd. l. c. Nat. Com. l. c.

6 §. Wahre Historie. Phineus soll ein König in Päonien gewesen seyn, welcher endlich vor Alter blind geworden; und, da seine Prinzen auch gestorben, sollen dessen beyde Töchter Pyria oder Arpyria und Erasia ihn durch ihr lüderliches Leben um alle das Seinige gebracht haben, welche denn daher die Harpyien genannt worden. Es sollen sie aber endlich des Boreas, eines benachbarten Königes, Söhne vertrieben, und einen Aufseher destellet haben, welcher des Phineus noch übriges Vermögen in seine Aufsicht nehmen müssen. Palæphat. de Incred. c. 23. cf. Tzetz. ad Lycophr. v. 167. Andere hingegen wollen, daß es des Phineus Beyschläferinnen gewesen, die ihm alle das Seinige geraubet, und wenn sie genug gehabt, ihn sodann verlassen [1198] hätten. Heraclit. de Incred. c. 8. Nach einer neuern Meynung sind sie ein Schwarm Heuschrecken gewesen, welche Bithynien und Paphlagonien verwüstet und daselbst eine Hungersnoth verursachet, welches denn eben so viel sey, als ob sie die Speisen selbst von des Königes Tafel geraubet. Da nun endlich, weil sie durch sonst nichts zu vertreiben waren, ein Nordwind das Land von denselben befreyete, indem er sie bis in das jonische Meer jagete, wo sie umkamen, so gab man vor, die Söhne des Boreas hätten sie verfolget und aufgerieben. Cleric. de stat. salina p. 18. So vielen Schein diese Erklärung auch vor sich hat, zumal selbst im Griechischen Ὄρπας Heuschreckenbrut heißt: Hesych. h. v. so ist man doch nicht damit zufrieden gewesen. Man hat die Harpyien lieber für Seeräuber halten wollen, welche in den Staaten des Phineus häufig ans Land gestiegen, und Städte und Dörfer ausgeplündert. Kalais und Zetes verfolgeten sie mit einem Schiffe bis zu den strophadischen Inseln, wo sie mit ihnen einen Vergleich machten. Daß eine von ihnen an den Küsten des Peloponnesus in den Tigris gefallen, soll anzeigen, daß einer von diesen Seeräubern an dessen Mündung Schiffbruch gelitten, so wie der zweyte an den echinadischen Inseln umkam. Ban. Erl. der Götterl. IV B. 540 S.

7 §. Anderweitige Deutung. Nach dieser sind sie so viel, als reißende Wirbelwinde, und bemerket von ihnen insonderheit Ocypete derselben Geschwindigkeit, Aello ihr Stürmen und Celäno die Dunkelheit der Wolken. Voss. Theol gentil. l. III. c. 99. Jedoch stellen sie auch nicht uneben den Geiz und alle Raubbegierde vor, als welche den Menschen nicht einmal essen, und dessen, was er hat, genießen läßt, wohl aber machet, daß diese vor ihrem Triebe ganz blaß sehen, mit ihren krummen Nägeln alles an sich ziehen, das Geraubte unter ihren Federn verheelen, und doch bald wieder von sich geben, weil dergleichen unrecht erlangetes Gut nicht gedeiht. Fulgent. Mythol. [1199] l. I. c. 8. Cf. Natal. com. l. VII. c. 6. & Masen. Spec. ver. occult. c. 24. n. 26. Daher heißt denn bey den Dichtern ein Wucherer oft Celäno. Iuven. Sat. VIII. 130.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 1195-1200.
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