Epos

[184] Epos (gr. epos), eigentl. Wort, Rede, Gedicht, heißt die poetische Erzählung von wichtigen vergangenen Begebenheiten, die sich unter Menschen zugetragen haben. Der Dichter selbst tritt im Epos nur insofern, als die Erzählung sein Werk ist und die Worte seine Art und Kunst verraten, hervor, sonst bleibt er aus seiner Dichtung fort und erzählt die Begebenheiten, wie sie sich von selbst gemacht und zugetragen haben. Eingestreute Reflexionen im Epos, die der Dichter unmittelbar selbst gibt, sind unepisch und Stilfehler, die sich allerdings bei höfischen Dichtern des Mittelalters sehr häufig (z.B. bei Wirnt von Gravenberg) und bei Wieland (1733-1813) bis zum Überdruß vorfinden. In den vom Epos dargestellten Begebenheiten erscheint der Mensch zwar handelnd, aber mehr durch die feste Weltordnung gebunden und von der Gesamtheit getragen, als im Drama. Das Menschengeschick ist sein Geschick, er kann es nicht ändern und kämpft gegen dasselbe nicht an. Faustnaturen sind keine epischen Helden. Dagegen gehören Achilleus, Hektor, Siegfried, Gestalten, die ihr Geschick erfüllen, ins Epos. Das Bild der Begebenheiten ist im Epos ausführlich gehalten. Es treten viele Personen, Fürsten und ihre Völker, vornehme Führer und ihre Scharen, bedeutende Menschen und ihre Zeitgenossen auf. Die Erzählung durchläuft längere Zeiten und gliedert sich in eine Reihe von Einzelbegebenheiten. Sie verweilt gerne bei den einzelnen Gegenständen. Sie liebt den ruhigen Gang und Fortschritt und erschöpft oft das Einzelne, stillhaltend und verweilend, in allen seinen Momenten und Zügen. So ist Breite das Kennzeichen epischen Stils, dagegen straffe Spannung dem Epos fremd. – Die epische Poesie umfaßt drei Gattungen: a) das eine Idealwelt mit der wirklichen Welt verschmelzende, zweiweltige nationale Volksepos (Götter- und Heldenepos), b) das nachahmende, fremde Stoffe verarbeitende Kunstepos (römisches Epos, religiöse Epen des Mittelalters, höfische Epen, Legenden, Märchen) und c) das die Realwelt und den wirklichen Verlauf der Dinge darstellende einweltige moderne Epos (Roman und Novelle). Vgl. W. v. Humboldt, Über Goethes »Hermann und Dorothea«. 1799 (verfaßt 1797). Fr. Vischer, Ästhetik. Stuttgart 1857, III, 2, 5, §§ 865-883. Victor Hehn, über Goethes Hermann und Dorothea. Stuttg. 1893.[184]

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 184-185.
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