Poesie

[447] Poesie (gr. poiêsis, eigtl. Schöpfung), Dichtkunst, heißt diejenige Kunst, welche das Schöne durch die Sprache darstellt. Sie vereinigt die Wirkungen der Musik und der bildenden Künste, da die Worte erstens Töne und als solche wie die Ausdrucksmittel der Musik an die Zeit gebunden sind, zweitens aber, als Zeichen und Träger einer Bedeutung, alles, was die Welt in sich einschließt (Räumliches und Zeitliches), darstellen können. Daher ist sie die reichste und fruchtbarste Kunst. Ihr Vehikel ist das Wort; dieses arbeitet für den inneren Sinn, das Erinnerungsvermögen, die Einbildungskraft, nicht, wie die Farbe und der Stein, für die äußere Anschauung; aber es bleibt nicht wie der bloße Ton, der durch das Gehör zur Phantasie spricht, bei unbestimmter Innerlichkeit stehn, sondern erhebt sich als festes Zeichen zur Klarheit und Deutlichkeit des Inhalts. Die Poesie ist daher mit der Wissenschaft verwandt; beide empfangen ihre Form von der Sprache, beide bringen das Innere des Menschen zur Darstellung. Aber die Wissenschaft will lehren, und die Poesie will Wohlgefallen hervorrufen. Die Poesie stellt das Schöne dar, die Wissenschaft hingegen das Wahre. Jene ist subjektiv, diese objektiv; dort ist das Gefühl, hier der Verstand die Hauptsache. Einem und demselben Gegenstande gegenüber sind viele Gedichte möglich; die Wissenschaft erstrebt nur eine sachgemäße Darstellung desselben. Der Dichter schafft Werke, deren kleinstes ein Ganzes ist, sofern sich daran die Eigenart des Schöpfers ausspricht; die wissenschaftliche Arbeit dagegen, auch die größte, bleibt im einzelnen Stückwerk. Gegenstand der Dichtung ist das gesamte Innen- und Außenleben. Nach Jakob Grimms (1785-1863) ansprechender Erklärung ist sie »das Leben gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache«. Der Dichter selbst muß nach Goethe (Hans Sachsens poetische Sendung) ein kluges, treues Auge und Liebe besitzen, um die Welt klar und rein zu schauen, und eine Zunge haben, die sich leicht und fein in Worte ergießt. Jeder Dichter aber muß mit seiner Nation innerlich zusammenhängen, da sein Mittel nicht ein neutraler Stoff, sondern eine bestimmte, den Geist eines Volkes ausdrückende Sprache ist; der echte Dichter gibt seinem Volke Neues, aber dem Geist des Volkes Entsprechendes. Aus der Nachahmung fremder Poesie ist noch nie wahre Poesie entstanden. – Die poetischen Stoffe sind[447] entweder objektiv oder subjektiv, d.h. der Dichter empfängt den Anstoß zum Schaffen entweder von außen oder von innen. Aus jenem entspringt die epische, aus diesem die lyrische Poesie; durch Verbindung beider entsteht die dramatische, welche Schicksal und Charakter darstellt. Vgl. Epos, Lyrik, Drama.

Die Dichtung kann es in bezug auf äußere Formen den bildenden Künsten nicht gleich tun; sie kann nichts so greifbar bilden wie Architektur und Plastik, nichts so anschaulich vorführen wie die Malerei (vgl. Lessing, Laokoon). Der Dichter muß erst künstlich Vorstellungen anschaulich machen; er bedient sich dazu der Bilder und Gleichnisse (Metaphern, Tropen, Metonymien) und belebt seine Worte durch Personifikationen, durch packende und eindringliche Ausdrücke, durch rhetorische Figuren, durch Rhythmus und Reim. In der Dichtung versuchen sich sehr viele Menschen. Der echte Dichter ist selten und der echte Dramatiker am seltensten. Das Drama ist der Gipfel der Kunst, und nach einem Ausspruch Gottfried Kellers ist es »ein Paradies auf Erden; es ist aber auch verteufelt schwer, hineinzukommen«. Vgl. Epos, Lyrik, Drama.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 447-448.
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