Politische Poësie

[278] Politische Poësie, könnte man im weitesten Sinne jede poetische Darstellung nennen, welche ihre Gegenstände aus dem Gebiete der Geschichte u. des öffentlichen Lebens entlehnt, u. in diesem Sinne würden zu ihr alle dichterischen Werke gehören, welche die Ereignisse, Thaten u. Helden der Vergangenheit preisen u. feiern. Indessen die spanischen Romanzen vom Cid u. die historischen Dramen Shakespeares rechnet man nicht zur P-n P., während die Komödien des Aristophanes für die Athenienser selbst dazu gehören mochten. Man versteht nämlich unter P. P. im engern Sinne diejenige, welche ihre Impulse durch die politischen Verhältnisse der Gegenwart empfängt, den gerade jetzt vorhandenen politischen Stimmungen u. Empfindungen einen dichterischen Ausdruck verleiht u. durch die Steigerung des Gefühls über die Gegenwart od. durch die Erinnerung an die Vergangenheit auf die Entschließungen u. Handlungen der Zeitgenossen einzuwirken sucht. Was dazu gerechnet werden soll, muß sich dabei auf die Zustände des eigenen Volks beziehen; der dichterische Ausdruck der Theilnahme an dem Schicksal eines fremden Volks, wie z.B. in W. Müllers Griechenliedern u. Platens Polenliedern, gehört nicht zu ihr. Politisch bewegte Zeiten sind natürlich für die P. P. am fruchtbarsten; es gehört aber dazu ein Volks- u. Staatsleben, welches dem Dichter erlaubt, das, was ihm das Herz bewegt, auch auszusprechen; despotische Regierungen dulden keine P. P, außer in den Formen der Schmeichelei u. des officiellen Enthusiasmus; die Franzosen unter den absolutistischen Regierungen des 17. u. 18. Jahrh. haben sich nur in Epigrammen Luft machen können, u. im päpstlichen Rom vertraten Pasquino u. Marforio (s.d.) die Stelle der politischen Dichter. Die P. P. kann sehr verschiedene Formen annehmen, vom politischen u. patriotischen Liede bis zu den weitern Formen des Drama; häufig hat sie sich des satyrischen Ausdrucks bedient, vom leichten Scherz bis zur bittern Ironie. Im Allgemeinen werden sich bei jedem poetisch begabten u. empfänglichen Volk, namentlich in den bedeutungsvollen Momenten seiner Geschichte, Erzeugnisse P-r P. nachweisen lassen; ein ausgezeichnetes Beispiel aus der Französischen Literatur sind Berangers Chansons; vorzugsweise reich daran ist Deutschland, wo schon im 13. Jahrh. Walther von der Vogelweide (s.d.) dem Schmerz über den Verfall des Reichs dichterische Worte verlieh. Im Reformationszeitalter, welches ebenso wie die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs sehr reich an politischen Gedichten war, ist Ulrich von Hutten (s.d.) einer ihrer Hauptvertreter. In der Zeit der Befreiungskriege haben E. M. Arndt, Max von Schenkendorf, Rückert, Theod. Körner der Begeisterung u. den Hoffnungen der Nation die dichterische Weihe gegeben. Auch später haben die wechselnden Richtungen u. Strömungen des öffentlichen Lebens in manchen Gedichten von L. Uhland, so wie in denen von Anast. Grün, Herwegh, Dingelstedt, Freiligrath u. And. sich abgespiegelt. In so fern die P. P. oft sehr absichtlich eine bestimmte Tendenz verfolgt, wird ihr dichterischer Werth entweder durch ihre Lehrhaftigkeit od. durch ihre Leidenschaftlichkeit leicht beeinträchtigt; es gilt von ihr oft das Goethe'sche: So fühlt man Absicht u. man wird verstimmt. Nicht selten haben aber ihre Erzeugnisse einen bedeutenden historischen Werth für die individuelle Charakteristik bestimmter geschichtlicher Perioden. Vgl. Prutz, Geschichte der P-n P. in dessen Literaturhistorischem Taschenbuch, Lpz. 1842, Bd. 1. Sammlungen: Hoffmann von Fallersleben, Politische Gedichte aus der deutschen Vorzeit, Lpz. 1843; H. Marggraff, Politische Gedichte aus Deutschlands Neuzeit, ebd. 1843.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 278.
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