Lied

[365] Lied, 1) ursprünglich Strophe; ist schon in frühester Zeit 2) Dichtung u. unterschied sich von Leich so, daß das L. aus Strophen einer u. derselben Art, der Leich aus Strophen verschiedener Art gebildet ist. Da die deutsche Dichtung vor dem 12. Jahrh., wenn auch nicht immer rein epischen Inhalt, doch die Form u. Farbe der Erzählung hatte, so blieb auch der Ausdruck L. während der althochdeutschen Zeit in der Hauptsache auf das epische L. beschränkt; obgleich daneben fröhliche u. leichtfertige Lieder erwähnt werden, die in den Häusern, auf den Gassen u. im Freien, bei Schmausereien, Spielen u. fröhlichen Festen gesungen wurden, ferner Spottlieder (schon 744 verboten), Zauberlieder u. Zaubersprüche (wie die Merseburger Gedichte) u. Wiegenlieder (wie das 1859 von Zappert aufgefundene u. in Wienherausgegebene). In der mittelhochdeutschen Zeit blieb liet auch (neben dem gewöhnlichern märe od. aventiure) eine Benennung für das erzählende Gedicht, wurde aber auch neben Leich u. Spruch die Bezeichnung für eine der drei lyrischen Hauptformen. Unter L. verstand die mittelhochdeutsche Lyrik, zum Unterschied von Leich u. Spruch (s. b.), 3) eine Folge von Strophen desselben, in der Regel dreitheiligen Baues u. derselben Melodie u. brauchte sie vorzugsweise im Minnesang, doch auch in Dichtungen sittlichen, religiösen u. politischen Inhalts, sowie zur Begleitung des Tanzes. Die in der mittelhochdeutschen Zeit vorzugsweise gepflegte Gattung der lyrischen Poesie war das Minnelied (s. Minnesinger); die ältesten noch vorhandenen (theils von unbekannten Verfassern, theils dem von Kürnberg zugeschrieben) reichen bis in die Mitte des 12. Jahrh. zurück; schon vor 1163 war es sehr üblich, den Frauen Liebeslieder (Trutlieter) zu singen; außerdem gab es religöse Lieder, wozu auch die Leisen, die auf Bittgängen, Wallfahrten u. bei ähnlichen Gelegenheiten angestimmt wurden, sowie die Ketzerlieder gehörten; ferner Lob- u. Strafgedichte, die an einzelne Fürsten u. Edle gerichtet waren, Klaggesänge auf berühmte Verstorbene, die politischen Dichtungen etc. Auch in der folgenden Periode (bis zum Ausgang des 16. Jahrh.) blieb das Liebeslied jedoch das vornehmste aller lyrischen Dichtungsarten; daneben das Frühlings- u. Sommerlied, das Sittenlied, namentlich auch das Trinklied (im 16. Jahrh. gab es zahllose Lieder zum Preise des Weines); Jägerlieder u. Bergreien, Studenten- u. Soldatenlieder, nur wenig politische Lieder. Die geistliche Poesie erreichte durch die Reformation mit dem Kirchenlied die höchste Blüthe (s. Hymnologie). Die Kunstdichtungen der Meistersänger (s.d.) arteten in Bezug auf die Form des Liedes in Überkünstelung aus, hielten aber in Bezug auf den Inhalt an der Richtung der letzten Minnesänger auf Lehrhaftigkeit fest; die Liebe u. die mit ihr in der älteren Lyrik so eng verbundene Freude an der Natur waren weniger Gegenstände des meisterlichen Gesanges. Bisher war die Musik nothwendig für die Lyrik, jetzt beginnt sich dieselbe in eine musikalische u. eine nicht[365] musikalische zu theilen. Das L. wurde stets nur in Verbindung mit Musik gedacht. Der Charakter des Liedes, wie es sich in der neueren deutschen Literatur gestaltet hat, beruht auf der Darstellung nur Eines Gefühls, welches die Seele bewegt hat. Der Ton des Liedes ist an sich der Ton reiner Freude, der Beruhigung, der Hoffnung. Dieser Ton wird angeregt durch die Beziehung des Gefühls auf ein ersehntes od. gegenwärtiges Gut. Was diese Form betrifft, so fordert man von dem Liederdichter weit mehr Einförmigkeit in Beobachtung der Abschnitte, mehr Vollendung des Gedankens mit jeder Strophe, leichtere u. fließendere Sylbenmaße, als in der Ode, ferner Vermeidung des Kühnen u. Prachtvollen. Das L. ist dazu bestimmt, daß es gesungen wird; die Composition muß sich genau nach der Stimmung der Poesie richten u. ganz mit derselben verschmelzen, so daß es nicht möglich ist, eine andere Melodie von gleichem Werthe auf dasselbe Gedicht zu erfinden. Dabei muß das L. leicht sangbar, die Melodie faßlich u. nicht von großem Umfang sein. Die vorzüglichen deutschen Liedercomponisten sind: Hiller, Reichardt, Schulz, Himmel, Beethoven, Konr. Kreutzer, Fr. Schubert, K. M. von Weber, Spohr, Methfessel, Bernhard, Mühling, Kücken, Reißiger, Mendelssohn, Löwe, Curschmann, Bank, Zöllner, Schumann u. A. Man theilt das L. in das geistliche u. das weltliche. A) Das geistliche L. ist zur Erweckung religiöser Gefühle bestimmt. Wie das L. überhaupt, so soll auch das geistliche L. gesungen werden u. erheischt deshalb nicht blos gewisse besondere Einrichtungen in der Form, sondern auch eine bestimmte Melodie, wonach es vorgetragen werden kann. Die Wirkung des geistlichen Liedes hängt daher sowohl von der Schönheit seiner Poesie, als seiner Gesangsweise ab. Die wichtigste Art des geistlichen Liedes ist die, welche dem öffentlichen Gottesdienste angehört u. das Kirchenlied heißt, bestimmt, von einer ganzen Gemeinde im Choral abgesungen zu werden; s. Gesangbuch u. Hymnologie. B) Das weltliche L. ist die Darstellung eines bestimmten, durch die Zustände u. Vorgänge des wirklichen Lebens od. durch Erscheinungen in der Natur angeregten Gefühls. Seine Arten sind daher so vielfach, als Zustände, Vorgänge u. Naturscenen vielfach aufregen können. Man unterscheidet daher Liebeslieder, ferner Kinder-, Wiegen-, Schullieder, Kriegslieder, Trinktlieder, die verschiedenen Arten des Volksliedes (s.d.), zu welchem auch die Fischer-, Spinner-, Jäger-, Winzerlieder etc. gehören. Aus dem 16. u. 17. Jahrh. hat sich ein Schatz trefflicher u. gemüthvoller Lieder erhalten, deren Dichter meist unbekannt sind; in neuerer Zeit zeichneten sich bes. im Liede aus: Goethe, Kleim, Voß, Weiße, Hölty, Bürger, Arndt, Körner, Rückert, W. Müller, Heine, Hoffmann von Fallersleben, Geibel, Groth etc. Die antike Welt hat ihrem Charakter gemäß von wirklicher Liederdichtung nur wenig aufzuweisen; wie die Lyrik überhaupt, konnte auch insbesondere das L. erst in der Gefühlstiefe der christlichen Zeit, namentlich aber bei den Deutschen zu höchster Blüthe gedeihen. Das deutsche L. bleibt für andere Nationen unnachahmbar, meist schon unübersetzbar; der französische Chanson (s.d.) u. die italienischen Canzone entsprechen nicht vollständig, wie selbst die Franzosen fühlen, indem sie jetzt häufig das Wort L. unübersetzt beibehalten.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 365-366.
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