Lied

[745] Lied ist eine Dichtgattung, welche, der lyrischen Form angehörig, ein sanftes, in sich übereinstimmendes Gefühl mit einfachem dichterischen Ausdrucke wiedergibt. Das gefällig-, ruhige, in stetem Gleichgewicht bleibende Hinfließen des Gefühls und die Gleichmäßigkeit in der Gliederung der Gedankenreihe macht seinen Grundcharakter aus und bestimmt seine strophenartige Sangbarkeit. Es unterscheidet sich durch jene Eigenschaften von den andern lyrischen Dichtarten, die ein bewegteres, aufgeregteres Gefühl in springenden und oft sich widersprechenden Gedankenreihen darstellen, wie z.B. die Ode. Das Lied tritt geschichtlich gewöhnlich beim Erwachen eines Volkes zur Poesie auf, selbst wenn die Sprache noch nicht vollständige Geläufigkeit erlangt hat, darum bei allen Völkern, sogar bei denen, die sonst weiter keine Dichtart cultivirten, ja überhaupt noch auf der Stufe der Roheit stehen. Beim Liede macht sich das Musikalische vorzugsweise geltend, weil jenes seiner angegebenen Natur nach auf musikalischen, wiederkehrenden Rhythmen beruht, wo, durch die zwar sein nüancirten, im Ganzen aber untereinander nahe verwandten Gedankenwendungen sich ausdrücken. Darum tritt es auch da, wo es noch natürlicher Ausfluß des Gefühls, also wirkliche Naturpoesie ist, in Verbindung mit Musik auf, und behält auch später seine abschnittlich wiederkehrende Melodie, die strophische Gliederung, den Refrain und den Chor. Daher fodert keine Gattung des Lyrischen in ursprünglicheren, naturgemäßeren Gesellschaftszuständen mehr den Charakter der Volksthümlichkeit und selbst in schon künstlicheren noch den der Theilnahme einer Gesammtheit. Des Volksliedes Werth und Bedeutung setzte in neuern Zeiten Herder in seinen »Stimmen der Völker« erst wieder ins rechte Licht, indem er zeigte, wie sich darin der wahrhafte Drang, seine Gefühle auszusprechen, kund gab. Als wirkliches Lied hat es seine natürliche Wahrheit, seinen ursprünglichen Zweck nur im geistlichen, und da vornehmlich im Kirchenliede beibehalten. Luther, Flemming, Paul Gerhard, Nik. Herrmann, Joh. Heermann, Rist, Dach, Gellert und Andere dichteten für das Volk, zu dessen gemeinsamer Erbauung. Auch das weltliche Lied kam später, nach Hagedorn und einigen andern Dichtern seiner Zeit, welche jenem die franz., gefällig geschwätzige Oberflächlichkeit eingeimpft hatten, die den Deutschen nicht behagen konnte, durch Bürger, Voß, Hölty, die Stolberge und Andere wieder mehr zu Ehren im Volke, also in dessen Mund. Daß das wahre Lied größerer Tiefe nicht entgegen ist, das zeigte Göthe, nach dessen Vorgange Tieck, Novalis-Uhland und in neuester Zeit Rückert und Chamisso es mit Einsicht [745] und Erfolg angebaut haben. Die Melodie des Liedes muß der poetisch gegebenen Stimmung entsprechen und leicht faßlich und sangbar sein. Zu den berühmtesten Liedercomponisten gehören Reinhard, Schulz, Himmel, Beethoven, Schubert, Kreutzer u. A.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 745-746.
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