Hohes Lied

[405] Hohes Lied oder das Lied der Lieder, ist ein duftiger Straus biblischer Liebeslieder oder Wettgesänge der Liebe, die nach Einigen dem Jugendalter des Salomo angehören, von Andern als Product mehrer und vorzüglich späterer Dichter angesehen werden. Obschon keiner Gattung der Poesie ausschließend angehörend, nähern sie sich doch der Idylle durch schüchterne Unschuld, Einfalt, Natur und den lachenden Himmel eines ungetrübten Glücks. Ihr durchgängiger Inhalt ist Liebe. »Liebe«, sagt Herder von ihnen, »ist hier gesungen, wie sie gesungen werden muß, einfältig, süß, zart, natürlich. Jetzt feurig und wallend, jetzt sehnend und hebend, im Genuß und im Schimmer, in Pracht und Landeinfalt. Es ist fast keine Situation und Wendung, keine Tages- und Jahreszeit, keine Abwechselung und Einkleidung, die nicht in diesem Liede, wenigstens als Knospe und Keim, vorkäme. Die Liebe des Mannes und Weibes, Jünglings und Mädchens, vom ersten Kuß und Seufzer, bis zur reisen ehelichen Freude – Alles findet hier Ort und Stelle. Vom Schuh des Mädchens bis zu seinem Kopfputz, vom Turban des Jünglings bis zu seinem Fußschmucke, Gestalt des Körpers und Kleidung, Palast und Hütte, Garten und Feld, Gassen der Stadt und Einöde, Armuth und Reichthum, Tanz und Kriegszug, Alles ist erschöpft und genossen« Man hat jedoch in diesen Liebesliedern einen tiefern mystisch-religiösen Inhalt zu finden gesucht. Man sah in dem innigen und zärtlichen Verhältnisse der Braut und des Bräutigams die geheimnißvolle Vereinigung Christi mit der Kirche oder Gottes mit der gläubigen Seele, und bemüthete sich, dem ganzen Buche eine bildliche prophetische Beziehung auf Christus zu geben. So erklärte man das Girren der Turteltaube für die Stimme des kommenden Messias; die hervorbrechende Morgenröthe zeigte die durch ihn zu vollbringende Erlösung an; die kleinen Füchse, die die Weinberge verwüsten, hielt man für die Ketzer der Kirche u.s.w. Ein so zärtliches Buch, worin man in jeder Zeile die nackte Unschuld sehen kann, wollten die Rabbinen von keinem Juden unter dem 30. Jahre gelesen wissen, und auch Luther empfahl bei dem kirchlichen Gebrauch desselben seinen Takt und Vorsicht.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 405.
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