Natiōn

[705] Natiōn (v. lat. Natio), ist ein nicht blos kraft der Gemeinsamkeit der natürlichen Abstammung, sondern auch in Folge des Einflusses mannigfaltiger Culturelemente sich als ein zusammengehöriges Ganze auffassender u. in diesem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit von andern ähnlichen Gruppen sich unterscheidender Theil des Menschengeschlechts. Obwohl nämlich die Gemeinsamkeit der Abstammung u. die dadurch bedingte der Sprache, der Sitten u. Lebensgewohnheiten, der ganzen Empfindungs-, Denk- u. Handlungsweise die natürliche Grundlage der Nationalität ist u. unter allen Umständen einer der wichtigsten Haltepunkte derselben bleibt, so zeigt doch die Geschichte vielfach, daß die Ursachen der Entstehung einer Nationalität nicht schlechthin auf diese einer größeren od. kleineren Menschenmasse ohne ihr Zuthun von Natur gegebenen Bedingungen beschränkt sind. Durch die Völkerwanderung u. die aus ihr hervorgegangenen Staatenbildungen sind neue Nationalitäten entstanden, u. das Nationalgefühl des Engländers, des Franzosen, des Schweizers haftet durchaus nicht blos an der Gleichheit der Abstammung, ist vielmehr zum Theil trotz der Ungleichheit der letzteren vorhanden. Die durch eine lange Zeit fortgesetzte Gemeinsamkeit des Handelns u. des Leidens, also die Gemeinsamkeit der Geschichte, die Beziehungen des Familienlebens, welches Personen verschiedener Abstammung unter einander verknüpft, der Geselligkeit u. des Verkehrs, die Gleichheit der Rechts- u. Staatsordnung, selbst wenn sie Anfangs mehr Product äußerer Gewalt als eines inneren Bildungstriebes war, die Verbreitung einer gleichen Religion, gemeinsame Bestrebungen in Wissenschaft u. Kunst, also historische Ereignisse u. Culturelemente der verschiedensten Art, sind im Stande, im Laufe der Zeit allmälig größeren Menschenmassen einen gemeinsamen u. eigenthümlichen Typus aufzuprägen, dessen einzelne Züge u. Merkmale eben das Wort Nationalität u. Nationalcharakter bezeichnet, dessen Bewußtsein jedem dazu gehörigen Individuum sein Nationalgefühl, sein Nationalbewußtsein u., insofern damit das Gefühl eines Vorzugs vor andern Nationen verbunden ist, seine Nationalehre, seinen Nationalstolz gibt. Vgl. I. G. v. Zimmermann, Vom Nationalstolze, Zürich 1758, u. Aufl. 1789. Die Schilderung der verschiedenen Nationalcharaktere ist eine der interessantesten Aufgaben der vergleichenden Anthropologie u. Ethnographie, Beiträge dazu enthalten Bonstetten, L'homme du midi et du nord, Genf 1824, deutsch von Gleich, Lpz. 1825; E. M. Arndt, Versuch in vergleichenden Völkergeschichten, 2. Aufl. 1844; Bog. Goltz, Der Mensch u. die Leute zur Charakteristik der barbarischen u. civilisirten Nationen, Berl. 1858; Derselbe, Exacte Menschenkenntniß in Studien u. Stereotypen, Berl. 1860. Durch die Berücksichtigung dessen, was der Lauf historischer Ereignisse zur Bildung u. Umbildung der Nationalität beiträgt, läßt sich, wenn auch nicht ganz scharf, der Begriff der N. von dem des Volks unterscheiden, insofern, obgleich Nationalität u. Volksthümlichkeit häufig als gleichbedeutend genommen werden, der letztere Begriff sich vorzugsweise auf die natürliche, unbewußte u. unwillkürliche Grundlage der Nationalität bezieht. In diesem Sinne gibt es nicht leicht eine Nationalität ohne Volksthümlichkeit; es könnte aber eine Volksthümlichkeit ohne Nationalgefühl gedacht werden. Ebensowenig fällt der Begriff der N. mit dem des Stammes zusammen, indem dieses Wort bald einen größeren Theil des Menschengeschlechts bezeichnet, als Volk u. N. (z.B. der Semitische u. Germanische Stamm umschlief en mehre Völker), bald einen kleineren, indem man z.B. den Thüringischen od. Schwäbischen Stamm etc. als Theile der Deutschen N. bezeichnet. Jede, in dem Gefühle ihrer Zusammengehörigkeit mit einer gewissen Energie u. Lebhaftigkeit gemeinsam denkende u. handelnde N. kann nun nach Analogie eines Individuums betrachtet werden, u. es lassen sich auf sie eine große Anzahl von Begriffen u. Merkmalen übertragen, welche die leibliche u. geistige Eigenthümlichkeit einer einzelnen Person bezeichnen. Den Inbegriff der in ihr durchschnittlich verbreiteten Kenntnisse, Fertigkeiten u. geistigen Bestrebungen bezeichnet das Wort Nationalbildung; in ähnlichem Sinne spricht man von einer Nationalphysiognomie, von Nationalsitten, Nationalleidenschaften, Nationaltugenden, Nationalfehlern; Ausdrücke, wie Nationalhandel, Nationalsprache, Nationalliteratur, Nationalgeschichte, Nationaltheater, Nationalkirche etc. erklären sich nach demselben Gesichtspunkte von selbst. Da ferner für die Stärke u. Lebendigkeit des Nationalgefühls die Größe des Gebiets von Einfluß ist, über welches sich das Nationalbewußtsein er streckt, so liegt in demselben, daß es wesentlich an das gebunden ist, was großen Menschenmassen gemeinsame Mittel- u. Beziehungspunkte ihres Thuns u. Strebens darbietet, also nicht sowohl an die Verhältnisse des Privat-, sondern an die des öffentlichen Lebens. Daher sind es vorzugsweise die Formen des Staatslebens, die das Nationalgefühl mit erzeugen, beleben, steigern od. niederdrücken, u. obwohl, wie die Geschichte in vielen Beispielen zeigt, die Grenzen des Staats u. der Nationalität keineswegs nothwendig zusammenfallen, so kann doch einestheils eine gesunde Entwickelung des Staatslebens, wie z.B. in England, volksthümlich verschiedenartige Bestandtheile in eine sehr starke Nationalität verschmelzen, anderntheils kann, wo die vorhandene Staatsordnung in den volksthümlich verschiedenen Bestandtheilen eines Staats statt der Befriedigung Mißbehagen u. Unzufriedenheit erregt, der Gegensatz der Nationalitäten Ursache einer Erkrankung u. Zerrüttung des Staatslebens werden, wie die Geschichte in den Fällen lehrt, wo entweder gewaltsam unterjochte, durch dynastische Interessen in eine unnatürliche Einheit hineingezwängte N-en das sie umstrickende Band zu sprengen, od. durch ähnliche Verhältnisse von einander getrennte Theile einer u. derselben N. die ihren Bedürfnissen entsprechende Staatseinheit zu erlangen streben. Für die hieraus hervorgehenden Ereignisse sind aber auf den höhern Culturstufen blos äußerliche Naturverhältnisse wiederum nicht das allein Entscheidende, sondern es wirkt dabei[705] zugleich die ganze Summa der geistigen Bedürfnisse u. Interessen mit, welche in den Formen des politischen Lebens das Gebiet ihrer Befriedigung suchen. Insofern endlich mehrere N-en neben einander bestehen, bilden sich unter ihnen, wie unter Individuen nicht blos Verhältnisse des äußeren Verkehrs, sondern auch innere der Zuneigung u. Abneigung; N-en ziehen sich je nach ihrer Eigenthümlichkeit einander an u. stoßer einander ab; Nationalverwandtschaft u. Nationalhaß erzeugen freundliche u. feindliche Beziehungen zwischen ihnen, u. in Nationalkriegen, in denen jedes Individuum der einen N. jedes der andern als Feind betrachtet, hat dieser Nationalhaß oft furchtbare Wirkungen gehabt. Das friedliche Verhältniß, in welches N-en zu einander treten, ist oft erst nach langen Nationalkämpfen eingetreten. Bei wachsender Verfeinerung der Sitten u. steigender Entwickelung des ökonomischen Lebens stumpft gewöhnlich zuerst die Einsicht in die gegenseitigen Vortheile eines friedlichen Verkehrs solche schroffe Feindseligkeiten ab; erst den höheren Graden u. der allgemeineren Verbreitung geistlicher u. sittlicher Cultur ist es vorbehalten, die Erkenntniß hervorzurufen, daß die Zähigkeit u. Beschränktheit nationaler Einseitigkeiten kein Hinderniß sein soll für die gemeinsame Anerkennung dessen, was in dem Adel der Sitte, der Achtung vor dem Rechte, in Kunst u. Wissenschaft seinem Werthe nach von der Individualität der Einzelnen wie der Völker unabhängig ist, u. indem jede N. sich die Aufgabe zu stellen hat, innerhalb der Grenzen u. Bedingungen ihres natürlichen Daseins alle ihr zugänglichen Richtungen einer ehrenhaften Thätigkeit zu verfolgen, wird jede dazu beitragen, daß die Einseitigkeiten der Nationalcharaktere in der Gesammtentwickelung der Menschheit sich ausgleichen u. ergänzen, u. so die schroffen Conflicte u. Gegensätze der Nationalitäten sich allmälig immer mehr mildern. Über die Bedeutung des Wortes N. auf Universitäten u. im Johanniterorden vgl. die eigenen Artikel.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 705-706.
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