Cultur

[576] Cultur (v. lat.), 1) Bebauung des Feldes (Agricultur); 2) Verbesserungen des Bodens; entweder die Herbeiziehung bisher gar nicht od. schlecht benutzten Bodens zu Zwecken der Landwirthschaft u. die zu diesem Behuf damit vorzunehmenden Umgestaltungen u. Verbesserungen (Urbarmachung) od. nur die mechanischen Verbesserungen von Ländereien, die bisher schon zu diesen Zwecken dienten, z.B. Abtragung u. Auffüllung des Landes, Beseitigung der Stein- u. Kieshorste, Auffahren passender Erdarten, Begrünung der Sandflächen etc.; 3) Ausbildung einer Naturanlage durch das Streben u. die Thätigkeit des Menschen. Die allgemeine menschliche C. od. der geistige Bildungsproceß der Menschheit od. eines Volkes wird dargestellt in der Culturgeschichte. Die Geschichtsschreibung hat erst im 19. Jahrh. sich die höhere Aufgabe gestellt, das intellectuelle u. materielle Fortschreiten der Völker neben den politischen Schicksalen derselben darzustellen, sowie auch über den Zusammenhang u. die Wechselwirkung Licht zu verbreiten, in welcher die historischen Begebenheiten zu der Bildung der Völker stehen. Nebenbei sind in neuerer Zeit die einzelnen Zweige der C., die Wissenschaften, die Künste, die industrielle Thätigkeit der tieferen historischen Forschung unterworfen u. in ihrer stufenweisen Entwickelung dargestellt worden. Den letzten Grund der C. bildet das Streben des Menschen nach Verbesserung seiner materiellen Lage; diese war zunächst abhängig von dem Boden, den er bebaute, u. die Bearbeitung desselben zur Erzielung einer reicheren Production, als sie die Natur von selbst gewährte, war somit der erste Anfang aller C. Mit dem Beginn der C. trat der Mensch aus der Abhängigkeit von der Natur heraus u. stellte seine geistigen Fähigkeiten den elementaren Gewalten entgegen, indem er einestheils deren schädlichen Einfluß auf seine Existenz möglich unschädlich, anderntheils die vorhandenen Naturkräfte zur Verbesserung seiner Lebensverhältnisse nutzbar zu machen wußte, Völker, welche in völliger Abhängigkeit von der Natur verharrten u. keine Befähigung zur C. besitzen, bezeichnet man daher als Naturvölker, im Gegensatz zu den Culturvölkern. Abgesehen von den Einflüssen, welche die Natur eines Landes auf die Entwickelung der geistigen C. seiner Bewohner übt, bedingt das materielle Wohlbefinden zunächst den culturhistorischen Fortschritt; denn der zum Denken u. Erfinden angeregte Geist wird, wofern er sich der Sorge für die Bedürfnisse des Lebens überhoben sieht, seine Thätigkeit rein geistigen Gebieten zuwenden können. Indem er die Außenwelt nicht mehr von dem Gesichtspunkte ihrer Nutzbarkeit betrachtet, sondern darin ein von gewissen Gesetzen beherrschtes Ganze erkennt, geht er zur Untersuchung dieser Gesetze, zur philosophischen Forschung, zu den Anfängen der Wissenschaft über, während das Wohlgefallen an den Formen, die sich ihm in der Natur darbieten, den Trieb zur Nachahmung, den ersten Keim künstlerischen Schaffens, in ihm erweckt. Wie aber die geistige C. auf die materiellen basirt ist, so ist in der Folgezeit die erstere wieder ein mächtiger Hebel der letzteren, u. den angewandten Wissenschaften hat namentlich in neuerer Zeit die Industrie ihren mächtigen Aufschwung zu danken. Indem sie Naturkräfte zur Verrichtung der sonst von Menschenkräften verrichteten Arbeit zwang, verringerte sie den Stand der Arbeiter u. vermehrte folgerecht die Klasse der Gelehrten u. Künstler u. aller derer, welche ihre Thätigkeit geistigen Interessen zuwenden. Die Culturvölker der alten Wort kannten nur nationale C-en, da sie mehr od. weniger sich gegen Fremde (Barbaren) abschlossen; die moderne C. der europäischen Völker trägt einen menschheitlichen Charakter u. strebt darnach, sich den noch auf niedriger Stufe der C. stehenden od. Naturvölkern mitzutheilen. Das Interesse für Culturgeschichte ist in Deutschland 1857 durch die Stiftung des Vereins Deutscher Culturhistoriker bes. angeregt worden. Die erste Versammlung derselben fand Anfang September 1857 zu Weimar Statt. Vgl. Civilisation u. Bildung.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 576.
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