Epos

[155] Epos ist wie für die übrigen indogermanischen Litteraturen, so auch für die deutsche die natürliche Dichtungsart der ältesten Periode; der besonderen Entwickelung der deutschen Litteratur und Bildung gemäss hat hier das Epos nach Form und Inhalt eine ganze Reihe von Entwickelungsstufen durchgemacht, bis es nach zähem Leben aufhörte oder einem neuen Kunstepos Platz machte.

1. Vom Epos der ältesten Zeit sind nur wenige Nachrichten und Überreste erhalten. Tac. Germ. 3 berichtet von Liedern, welche die alten Deutschen auf Herkules (Donar), Thuisko, Mannus und dessen Söhne gesungen hätten; sie besassen alte mythische Lieder und genealogische Lieder, die von den Ahnherren der Menschen und der besonderen Stämme erzählten. Über die Form dieser ältesten Lieder ist nichts erhalten; dass sie gesungen wurden, liegt im Wesen der ältesten Poesie, begleitet wurde das gesungene Wort mit der Harfe. Ohne Zweifel war die metrische Form hier schon die allitterierende; man erschliesst das besonders daraus, dass die Namen der Söhne des Mannus: Ingo, Isco und Jrmino, und ebenso andere Namen der nordischen und angelsächsichen Sage, Hengest und Horsa, Skyld und Skeaf allitterieren. Die Sänger gehörten keinem besonderen Stande an; es sang, wer die Gabe dazu besass (siehe den Artikel Dichter). Auch aus der Zeit unmittelbar nach der Völkerwanderung sind die Nachrichten über das germanische Lied spärlich; der Gote Jornandes berichtet 551, dass Lieder über die[155] Wanderzüge der Goten noch gesungen wurden, über den gefallenen Hunnenkönig Attila und ähnliches. Die ältesten erhaltenen Lieder sind die sog. Merserbuger Zauberlieder auf den verrenkten Fuss eines Pferdes und auf die Fesseln eines Kriegsgefangenen, das Hildebrandslied und der Anfang des Wessobrunner Gebetes. Noch Karl der Gr. liess eine schriftliche Sammlung der deutschen Heldenlieder, worin die Thaten und Lieder vorzeitlicher Könige gesungen wurden, aufzeichnen.

2. Das Epos im 9.–10. Jahrh. Hätte sich das deutsche Epos von fremden Einflüssen der Religion und Bildung ungestört entwickeln dürfen, so wäre ihm wohl mit der Entwickelung der Schreibekunst ein natürlicher Fortgang zur Epopöe auf den Grundlagen seiner alten Natur so gut als dem indischen und griechischen Epos vergönnt gewesen. Aber die Art und Weise, wie das Christentum in Deutschland auftrat, seine priesterliche Abneigung nicht bloss gegen die heidnische Religion, sondern gegen alles, was volksmässig und deutsch war, liess die Sammlung Karls d. Gr., die leider auch nicht erhalten ist, das letzte sein, was uns von den alten Liedern in echter alter Form überliefert ist. Hatte es doch der persönlichen Liebe Karls zu seiner angestammten Volksart bedurft, dass er überhaupt jene Lieder noch aufschreiben liess; schon lange vor ihm brachte die allein schreibkundige Geistlichkeit dem Volksgesang nicht bloss, wie es später in Skandinavien geschah, ihre Teilnahme nicht entgegen, sondern sie hasste und verfolgte die heimische Dichtung.

Dass sich zwar die allitterierende Form noch einige Zeit erhielt, beweist das dem 9. Jahrh. angehörige Gedicht Muspilli, der Heliand aus demselben Jahrhundert und die erst im 10. Jahrh. aufgeschriebenen Zauberlieder. Sonst trat jetzt an die Stelle der Allitteration der Endreim (siehe Reim), ein Wechsel im Geschmacke, der für sich allein der Fortdauer der alten Lieder in hohem Masse im Wege stand. Zwar vermittelte jetzt die kirchliche Bildung die Erscheinungen zweier Epopöen, des Otfriedischen Evangelienbuches und des Heliand, das erstere dem Einzellied insofern sich annähernd, als es sich aus einzelnen, zum Singen bestimmten Abschnitten zusammensetzt. Es sind Epopöen, insofern es geschriebene Dichtungen grösseren Umfanges sind, dem Umfang der Evangelien entsprechend, aber aus dem lebendigen Volksgesang sind sie nicht hervorgegangen, und spätere Wirkung ist von ihnen abgesehen von der Reimform Otfrieds, nicht ausgegangen.

Der von der neuen Bildung zwar nicht unterstützte, aber keineswegs ausgelöschte epische Volksgesang erhielt sich in den Händen fahrender Leute, Spielleute aus den unteren Ständen; diese bewahrten teils die alten Sagen von Dietrich von Bern, Siegfried, Attila, den Burgundern, nach ihrem roheren, den äusseren Thatsachen mehr als dem inneren Leben zugewandten Gehalte, dem durch das Christentum zumal die höhere religiöse Weihe entzogen worden war, teils sangen sie neue Lieder auf Ereignisse der Gegenwart, auf Erzbischof Hattos Verrat an Adelbert von Bamberg, 904, auf die Niederlage der Franken bei Heresburg, 915, auf die Wunderthaten des heiligen Ulrich, bis 973. Dass sogar in Klosterräumen, aber freilich nur in solchen, in welchen der Geist Karl d. Gr. noch fortlebte, wie in St. Gallen, die alte Volkssage noch überaus lebendig war, zeigt das Lied von Walther und Hiltgunt und der Ruodlieb, beide in lateinischer Sprache gedichtet, aber darum nicht minder deutsch empfunden und dargestellt.

3. Das Epos der höfischen Zeit.[156] Es war nicht das Christentum allein, das der alten Epik entgegenstand; was ihr den Lebensnerv nicht minder angriff, war der Übergang aus dem freien Volksstaat in den Lehnsstaat: die alten freien Sänger verschwanden mit dem freien Gesamtvolke, der Unterschied der unteren und oberen Stände drängte die volksmässige Bildung in den untern Stand zurück, und es ging Jahrhunderte lang, bis der obere Stand der Ritterbürtigen zu einer selbständigen Bildung emporwuchs. Als dies mit dem Beginn des 12. Jahrh. endlich geschah, trat auch eine neue Periode der epischen Dichtung ein. Voraus geht eine durch die Erneuerung des kirchlich-religiösen Lebens im 11. Jahrh. hervorgerufene Reihe geistlicher Dichtungen verschiedensten Stiles und Umfanges, eine wirkungslose Reaktion gegen die aufkommende weltliche Dichtung des höfischen Standes. Ihr folgen gleichzeitig die beiden Gattungen des volksmässigen Epos und des höfischen Kunstepos, beide in der Form geschriebener, künstlerisch wirksam ausgearbeiteter Epopöen, beide noch insofern an das alte Epos erinnernd, als die Dichter immer noch, wenigstens in der Regel, des Schreibens unkundig sind, also diktieren müssen, während von seiten der geniessenden Partei nicht gelesen, sondern einem Vorlesenden zugehört, wird. Woher das volksmässige Epos seinen Stoff schöpfte, ist mit Sicherheit nicht auszumitteln; er muss von fahrenden Sängern der unteren Stände erhalten worden sein, zumeist ohne Zweifel in dem vom höfischen Leben unberührten, noch mehr in alter Volkskraft und Volkserinnerung lebenden Norden Deutschlands; denn von hier wurden dieselben Stoffe im 13. oder 14. Jahrh. nach Skandinavien getragen und hier als Wilkina-Saga abgeschrieben. Aus Norddeutschland brachten Fahrende diesen Stoff nach Süddeutschland, als auch hier die Teilnähme dafür wieder erwachte. In Österreich, wo am Wiener Hofe französisches Wesen nicht ebenso ausschliesslich herrschte wie im Westen Deutschlands, sind dann von unbekannten Dichtern das Nibelungenlied, Gudrun und die übrigen Lieder des Heldenbuches entstanden (siehe diese Artikel), alle in der Form der Nibelungenstrophe oder Abarten derselben.

Das höfische Kunstepos empfängt dagegen von Frankreich Anstoss, Stoff, Form, Auffassung, Umfang. Der Vers ist das Reimpaar, die Hauptstoffe Alexander, Äneas, Karl und seine Tafelrunde, Artus und seine Tafelrunde, Graal; daran schliessen sich byzantinische Stoffe, z.B. von Herzog Ernst, einheimische Rittersagen, z.B. Otto mit dem Barte, und durch die ganze Zeit hindurch natürlich Geistliches, mit Vorliebe die Legende.

Eine weitere Entwickelung hat das alte Epos kaum mehr gehabt. Mit dem Verfall der höfischen Bildung verfällt auch ihre Dichtung, für das nationale Leben ein schmerzlicher Verlust; wäre die angestammte Sage in ihrer mittelalterlichen Gestalt Eigentum des ganzen Volkes gewesen, es hätte sich wenigstens bis ins 16. Jahrh. retten mögen, vielleicht den Wechsel der Zeiten ganz überdauert; so aber war es Eigentum der Höfe und des Rittertums und ist mit diesen Elementen in dasselbe Schicksal mit hineingerissen worden. Dantes göttliche Komödie ist nur wenig mehr als 100 Jahre jünger, als das Nibelungenlied; während aber dieses schon im 15. Jahrh. vergessen war, lebt Dantes Dichtung noch heute. Bloss einzelne untergeordnete volksmässige Epen hatten sich bis in die Zeit des Buchdrucks gerettet und wurden von Bänkelsängern noch teilweise gesungen und geleiert. Manches, Deutsches sowohl als Französisches, kam als Prosaroman wieder auf den[157] Markt, wie der hürnene Siegfried, die vier Haimonskinder (siehe den Artikel Volksbücher). Wie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. die ältere Litteratur wie der erweckt wurde und allmählich neue Keime trieb, gehört nicht hierher. Vgl. den Art. Heldensage.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 155-158.
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