Dietrich von Bern

[119] Dietrich von Bern ist der beliebteste Held der deutschen Volkssage im Mittelalter. Sein Schicksal liegt in folgenden Zügen: Auf Anstiften des ungetreuen Rates Sibich vertreibt der König Ermenreich von Rom seinen Neffen Dietrich aus Bern; dieser flüchtet an Etzels, des Hunnenkönigs, Hof, wo ihn u.a. das Nibelungenlied vorfindet. Etzel giebt ihm darauf ein Heer mit, sein Land wieder zu erobern; mit dessen Hilfe besiegt er das Heer Ermenreichs in der Rabenschlacht (Schlacht bei Ravenna) und gewinnt sein Reich wieder. Die erhaltenen Dichtungen, die sich an die Schicksale dieses Helden anschliessen, sind das altdeutsche allitterierende Hildebrandslied, in mittelhochdeutscher Sprache die unstrophischen Gedichte Biterolf und Dietleib vom Verfasser der Nibelungen Klage, erzählt einen grossen Turnierkampf Attilas und der Seinen, Dietrich voran, um 1225 geschrieben; Dietrich und Wenezlan, ein Bruchstück, das den Zweikampf mit dem Polenkönig Wenezlan erzählt; Dietrichs Ahnen und Flucht oder daz buoch von Berne von Heinrich dem Vogler, und Luarin oder der kleine Rosengarten. Strophische Dichtungen sind: Alpharts Tod, der grosse Rosengarten, die Rabenschlacht, Sigenot, Ecke, Goldemar, Dietrichs Drachenkämpfe, Etzels Hofhaltung.

Die Entstehung und Bedeutung der Dietrichssage unterliegt den mannigfaltigsten, zum Teil widersprechendsten Ansichten. Der Name Dietrich, der Ort, wo die Sage spielt, Verona, Ravenna, Rom, liessen es früher als selbstverständlich erscheinen, dass der Held der Sage nichts anderes als das epische Bild des Ostgotenkönigs Theoderich des Grossen sei; vergleicht man jedoch den Lebensinhalt beider Dietriche, so stimmt nichts miteinander überein, und man kam deshalb zu der Ansicht, die Sage sei älter als der historische Gotenkönig, wobei dann eine zweite Frage sich aufdrängte: ist in diesem Falle die Sage dennoch historisch, oder ist sie mythisch? Das letztere fände darin einen Halt, dass mit der Dietrichsage die mythische Wielandssage durch dessen Sohn Wittig, tiroler Zwergsagen, der Mythus vom getreuen Eckhardt und Züge des alten Donnergottes verbunden sind. Stimmen übrigens die Lebensschicksale der beiden Dietriche nicht miteinander überein, so scheint die allgemeine Bedeutung, das Ansehen, das der historische Dietrich genoss, um so eher in der Sage sich wiederzuspiegeln, wenn man annimmt, dieselbe sei bei den Alemannen ausgebildet worden; die Alemannen verdankten[119] Theoderich die Schonung, mit welcher die Franken sie behandeln mussten; Breisach, wo die Sage von den Harlungen spielt, liegt in Alemannien, und an vielen Orten Schwabens wird Dietrich als Bekämpfer schädlicher Ungeheuer genannt, wie denn auch eine Menge Ortsnamen seinen Namen tragen. Karl Meyer, die Dietrichsage in ihrer geschichtlichen Entwickelung. Basel 1868.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 119-120.
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