Wahrscheinlichkeit

[689] Wahrscheinlichkeit (probabilitas) heißt der mittlere Grad der Gewißheit. Die Wahrscheinlichkeit liegt zwischen der Wirklichkeit und Möglichkeit und schließt den Eintritt des Gegenteils nicht aus. Sie hat selbst verschiedene Grade der[689] Gewißheit, je nach dem Gewicht der Gründe, auf denen sie beruht. Man unterscheidet mathematische und philosophische Wahrscheinlichkeit; jene nennt man auch die reale, diese die logische Wahrscheinlichkeit. Jene bezieht sich auf Verhältnisse des gewöhnlichen Lebens und wird bestimmt durch das Verhältnis der Anzahl der einer Erwartung günstigen Fälle zur Anzahl aller möglichen Fälle, wenn alle Fälle gleich möglich sind. Die einfachsten Fälle der Wahrscheinlichkeit kommen z.B. beim Spiel (Karten, Lotto u. dgl.) vor. So fragt man, wie wahrscheinlich es ist, in einem Zahlenlotto eine Ambe zu erraten. In den 90 Nummern liegen 4005 Amben; 5 Nummern werden jedesmal gezogen, in denen 10 Amben liegen. Hier habe ich also von 4005 Fällen 10 Fälle für und 3995 gegen mich. Die Wahrscheinlichkeit verhält- sich also zur Gewißheit wie 10:4005 oder sie ist, die volle Gewißheit = 1 gesetzt, = 10/4005. Die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln einen Pasch zu werfen, ist = 1/6 der Gewißheit; für einen bestimmten Pasch aber = 1/36. Voraussetzung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, daß alle Fälle ganz gleichartig sind und daß man sie übersehen und ihr Größenverhältnis bestimmen kann. Daher wird im allgemeinen nur der Unternehmer eines Geschäfts (für Leibrenten, Witwenkassen, Lotterien) gewinnen, der Einzelne aber stets aufs unsichere hin wagen. Mit der einfachen mathematischen Berechnung kann sich in anderen Fällen auch die Erfahrung zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit verbinden. So lehrt z.B. die Erfahrung, daß sich die Geburten von Knaben zu der von Mädchen wie 22 zu 21 verhalten, folglich Wird die Wahrscheinlichkeit, daß eine Mutter bei der Geburt einen Knaben zur Welt bringen werde, sich ebenso verhalten. – Bei der philosophischen Wahrscheinlichkeit schließt man entweder geradezu von der Vielheit der Fälle auf die Einheit der Regel und sucht also die Regel selbst zu begründen, oder man setzt doch voraus, wiewohl nicht mit voller Gewißheit, daß die Regel allgemein gelte. Hier hat man das Bewußtsein, es gebe feste Regeln der Entscheidung, wenn man sie auch noch nicht kennt, und hier schließt man nicht auf Grund der Größe, sondern durch Induktion, Analogie und Hypothese.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 689-690.
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