Sechzehntes Kapitel

Ruhiges und stetes Weiterschreiten

Kleinarbeit

[100] Wie in jeder Bewegung eine Zeit ruhigen und steten Fortschritts kommen muß, so waren auch wir jetzt da angelangt, wo die Formen der Arbeit schon zur Gewohnheit geworden waren. Viele Bewegungen gehen an solcher Zeit der Ruhe zugrunde. Die innere Kraft unserer Bewegung war aber zu stark, und die äußeren Hemmnisse entfachten den Widerstand stets aufs neue. Auch die Zahlen, die aus jenen Jahren vorliegen, erzählen von tüchtiger gemeinsamer Arbeit.

So hatten wir es in den wenigen Jahren auf 190 weibliche Vertrauenspersonen im ganzen Reiche gebracht. In den deutschen Staaten, in denen die Vereinsgesetze es gestatteten, waren schon etwa 4000 Genossinnen politisch organisiert. An anderen Orten, wo das nicht möglich war, hatten die Frauen unpolitische Bildungsvereine geschaffen, und es waren etwa 3000 Frauen und Mädchen, die sich hier zusammengefunden haben. Diese Zahlen geben aber bei weitem nicht die ganze Zahl der Frauen wieder, die zur Partei gehörten und für sie tätig waren. Es sind nicht allein die Bestimmungen der verschiedenen einzelstaatlichen Vereinsgesetze, welche der einheitlichen festen Organisation der Genossinnen entgegenwirkten, auch die Handhabung der Gesetze tat dies. Nach den Erfahrungen, welche die Genossinnen in dieser Hinsicht gemacht haben, würden die Behörden jedem Frauenverein rasch das Lebenslicht ausgeblasen haben, der nur entfernt sozialdemokratische Tendenzen gezeigt hätte.

Um die nötigen Gelder für die Agitation aufzubringen, wurden von der Zentralstelle 5-Pfg.-Bons an die einzelnen Vertrauenspersonen gesandt, von deren Erlös der Kasse der Vertrauenspersonen Deutschlands 2 Pfg. zuflossen, während für die örtliche Agitation 3 Pfg. verblieben. Auch der Ärmsten war es damit ermöglicht, ab und zu ein Scherflein für die gemeinsame Sache zu opfern. Um unsere Parteizugehörigkeit[101] aber auch äußerlich zu dokumentieren, hatten wir, gemäß dem § 1 unseres damaligen Parteistatuts:


»Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei dauernd durch Geldmittel unterstützt.«


Quittungskarten über freiwillig geleistete Beiträge eingeführt (monatlich 10 Pfg.). Diese Einrichtung wurde von den Genossinnen freudig aufgenommen.

Anfang 1905 wurden durch den Beirat für Arbeiterstatistik Erhebungen angestellt über die Arbeitszeit der in Wäschereien und Plättereien beschäftigten Arbeiterinnen, ebenso über die Arbeitsbedingungen in den Fischräuchereien und Konservenfabriken. In diesen Betrieben sind überwiegend Frauen beschäftigt. Das Verfahren bei dieser Erhebung war so, daß Fragebogen verteilt wurden, und zwar in der Hälfte der befragten Betriebe nur an die Arbeitgeber, in der anderen Hälfte nur an die Arbeitnehmer. Es kam also für den Betrieb nur eine Partei zu Wort. Eine Beeinflussung bei der Beantwortung war natürlich sowohl von seiten der Behörden, die die Erhebung leiteten, wie auch von Privatpersonen ausgeschlossen. Es unterlag aber keinem Bedenken, daß sachverständige Frauen den Plätterinnen und Wäscherinnen bei der Beantwortung der Fragen behilflich waren. Wie dringlich die Arbeiterinnen gerade in diesen Betrieben einer Regelung der Arbeitszeit und weitergehender gesetzlicher Schutzbestimmungen bedurften, das war uns ja zur Genüge bekannt, und es kamen durch unsere Mitarbeit schlimme Zustände ans Tageslicht, deren Kenntnis für die Agitation von großem Werte war.

Jahrelang hatten unsere Genossinnen sich für einen geregelten Mutter- und Säuglingsschutz als Aufgabe der Kommunen eingesetzt, wie er auf unseren Frauenkonferenzen gefordert worden ist, bis endlich in Berlin ein Anfang gemacht wurde. Zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit wurden vier städtische Fürsorgestellen errichtet, in denen den Müttern ärztlicher Rat über die Pflege und Wartung der Säuglinge erteilt wurde, in denen auch sachgemäß zubereitete Milch unentgeltlich ausgegeben wurde. Auch stillende Mütter erhielten Unterstützung. Das war durchaus keine Armenunterstützung, sondern ein Recht, welches ausgenutzt werden mußte, um noch viel mehr zu erreichen. Die Berliner Genossinnen verbreiteten auf ihre Kosten ein Flugblatt,[102] durch welches die Arbeiterfrauen zu starker Inanspruchnahme dieser Fürsorgeeinrichtung veranlaßt werden sollten.

Eines unserer wichtigsten Propagandamittel war neben dem gesprochenen das gedruckte Wort. So wurde die »Gleichheit« vom Verlag jeder Vertrauensperson unentgeltlich zugestellt. Meine Aufgabe war es, die leitenden Genossinnen laufend mit Agitationsmaterial zu versorgen. Ich sandte ihnen z.B. »Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie« von Kautsky und Schönlank, Parteitagsprotokolle, Führer durch Kranken-, Unfall-, Invalidenversicherungsgesetze, die preußische Gesindeordnung, das Vereins-und Versammlungsrecht, die Reichs- und Staatsverfassung, dann das »Kommunistische Manifest«, »Lohnarbeit und Kapital« von Karl Marx, »Zum Frauenwahlrecht« von Clara Zetkin, sodann das für die Kinderschutzkommission so wertvolle, von dem Rixdorfer Lehrer Agahd verfaßte Buch über die Erwerbsarbeit schulpflichtiger Kinder, ferner eine Reihe von Heften aus der sozialdemokratischen Gesundheitsbibliothek und viele andere Schriften. Über besonders wichtige Frauenfragen wurden Merkblätter herausgegeben, so z.B. das von unserem Genossen, dem Frauenarzt Dr. Kurt Freudenberg kurz vor seinem Tode erschienene: »Zur Verhütung und Heilung des Gebärmutterkrebses«, welches in vielen Tausenden von Exemplaren in Deutschland verbreitet wurde.

Für die »Gleichheit« wurde in jeder Versammlung Propaganda gemacht, in zahlreichen Orten in mühevoller Hausagitation Abonnenten geworben, den Genossinnen aber wurde zur Pflicht gemacht, mit den neuen Abonnentinnen über den Inhalt der »Gleichheit« zu sprechen und etwa nicht Verstandenes zu erläutern. Diese Arbeit trug reiche Früchte, denn im Laufe von zwei Jahren hatte sich die Abonnentenzahl von 23000 auf 46000 erhöht. Die Ausgestaltung der »Gleichheit« ohne Preiserhöhung mit einer vierseitigen Beilage, welche den Interessen der Mutter und Hausfrau und deren Allgemeinbildung gewidmet war, hat natürlich auch auf die Verbreitung günstig eingewirkt, sie bot jetzt auch den abseits vom politischen Kampf stehenden Frauen viel Belehrendes.

Als mit dem Ende des Jahres 1905 die Ausnahmebestimmungen des Kinderschutzgesetzes von 1903 aufgehoben wurden, gingen wir daran, Kinderschutzkommissionen zu gründen. So manches arme Kind wurde durch die nachgehende Arbeit unserer Genossinnen der Ausbeutung entzogen, mancher Fall von Mißhandlung und anderem Kinderelend[103] wurde dabei entdeckt und konnte abgestellt werden. So gab es für unsere Frauen Arbeit an allen Ecken, und meistens ist es die oft unbeachtete, aber doch so sehr notwendige Kleinarbeit gewesen.

Aber auch in der Gesamtheit tauchten immer noch Fragen auf, die der Klärung bedurften, auf immer neuen Gebieten harrten der Frauen zahllose Aufgaben. Die Frauenkonferenzen waren die Marksteine in unserer Bewegung. Hier wurden Schlaglichter geworfen auf die bisher gegangene Wegstrecke, aber auch auf den Weg, der vor uns lag. Hier wurden wir uns klar darüber: was ist von unserem Wollen erreicht worden – was bleibt uns zu tun –, welches sind die nächsten, aber auch die neuen Aufgaben, die unserer warten! Hier wurde unseren weiteren Schritten die Richtung gewiesen.

In Mannheim tagte im September 1906 vor dem Parteitag unsere vierte Frauenkonferenz, die für eine Reihe solcher neu auftauchender Fragen uns Weisungen geben sollte. Auf unserer Tagesordnung stand zunächst hinter den notwendigen Berichten mit ihrem Rückblick geleisteter Arbeit die Frage des Frauenwahlrechtes. Waren wir uns auch bewußt, daß die Erfüllung dieser Forderung noch weit in der Zukunft lag, so durften wir doch die Agitation für diese alte Forderung unseres Programms nicht vernachlässigen. Wir mußten den breiten Massen der Arbeiterkreise, Frauen und Männer, zeigen, daß die politische Gleichberechtigung eine soziale Notwendigkeit für die Frauen ist, und wir hatten auch in dieser Frage die Rolle der treibenden Kräfte zu übernehmen.

Zur Agitation unter den Landarbeiterinnen sprach auf der Mannheimer Frauenkonferenz Luise Zietz und über die Dienstbotenbewegung Helene Grünberg. Die Arbeiterinnen auf diesen Arbeitsgebieten waren für unsere Bewegung besonders schwer zu erfassen. Die Agitation unter ihnen, vor allem für den gewerkschaftlichen Zusammenschluß, war aber um so notwendiger, als gerade sie nicht nur wirtschaftlich und sozial am schlechtesten gestellt waren, sondern auch am rechtlosesten waren.

Zu der Schwangeren- und Wöchnerinnenfürsorge sprach die Genossin Käte Dunker. Hatten wir bei unseren Forderungen für gesetzlichen Schutz der Arbeiterinnen immer schon den Schutz der Mutterschaft besonders betont, so erkannten wir doch immer wieder, daß gerade hier noch viel weitergehende Forderungen für eine durchgreifende Mutterschaftsfürsorge zu stellen waren. Für die proletarischen Frauen[104] kam es ein mal darauf an, die Frauenarbeit so zu gestalten, daß sie die Frauen nicht daran hindert, gesunde Mütter gesunder Kinder zu werden. Zum anderen aber galt es, Einrichtungen zu schaffen, die den Frauen die Last der Mutterschaft erleichterten. Zu diesen beiden Grundfragen wurde eine Reihe direkter Forderungen aufgestellt.

Als nun zur Neuwahl der Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands geschritten werden sollte und meine Person allein wieder vorgeschlagen war, erhob eine Genossin aus Essen dagegen Widerspruch, indem sie sagte: »Nicht als Vertrauensperson, sondern als Parteimutter wollen wir sie wählen, denn sie hat uns geleitet und uns mit Rat und Tat beigestanden, wie es nur eine Mutter kann.« Das war der schönste Lohn, den man sich für die aufgewandte Mühe und Arbeit nur denken konnte.

Die immer umfangreicher werdende Arbeit der Zentralvertrauensperson machte jetzt auch die Einrichtung eines Büros sowie die Einstellung einer besonderen Hilfskraft notwendig.

Bald darauf setzte die Auflösung des Reichstages die politischen Kreise in Bewegung. Es kam die Winterwahl in Eis und Schnee. Wegen der Kürze der Zeit haben wir dieses Mal von dem Recht, Wahlvereine der Frauen zu gründen, keinen Gebrauch gemacht. Daß wir aber trotz der Ungunst des Wetters uns von der helfenden Arbeit nicht zurückhalten ließen, versteht sich von selbst.

Quelle:
Baader, Ottilie: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Auflage, Berlin, Bonn 1979, S. 100-105.
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