Sozialreform, Spitzel und Anarchisten

Im Reichstage begann 1883 die Beratung der von Bismarck angekündigten Sozialreform, die aus dem Kranken- und Unfallversicherungsgesetz bestand. Wir waren mit dem Grundgedanken dieser Gesetze einverstanden, aber wir hielten die von der Regierung ausgearbeiteten Vorlagen für ungenügend und viele Bestimmungen für viel zu bureaukratisch. Im Interesse der Arbeiter machten wir den Versuch, die Gesetze zu verbessern, obwohl wir uns einer geschlossenen Mehrheit gegenüber befanden und nicht einmal zu der vorberatenden Kommission zugelassen wurden. Die Fraktion arbeitete zunächst zum Krankenversicherungsgesetz achtundsechzig Verbesserungsanträge aus, die als »Antrag Blos und Genossen« zusammengefaßt und eingereicht wurden.1 Sie wurden von der Mehrheit grundsätzlich abgelehnt, und als die Hälfte von ihnen unter den Tisch gefallen war, zog ich im Auftrag der stimmten dagegen, desgleichen die Fortschrittspartei. Die süddeutsche Volkspartei stimmte dafür.

Beim Unfallversicherungsgesetz ging es ähnlich zu. Wir stimmten auch gegen diese Vorlage.

Diese Abstimmung ist vielfach mißdeutet und mißverstanden und gegen uns die Beschuldigung erhoben worden, wir hätten Negation um jeden Preis getrieben und hätten die in den Vorlagen gemachten Zugeständnisse an die Arbeiter abgelehnt, nur weil eben diese Zugeständnisse von der Regierung gemacht worden. Dies war gänzlich falsch. In unseren Verbesserungsanträgen lag ja der Beweis, daß wir keine Politik der »reinen Negation« treiben wollten; auch hatten wir uns die sehr eifrig an der Beratung beider Gesetze beteiligt, und fast alle Fraktionsmitglieder hatten dazugesprochen. Zunächst hatten uns die bureaukratischen Bestimmungen, die wir vergebens zu verbessern oder auszumerzen versucht, abgestoßen. Die Fraktion hatte mich für die dritte Lesung der Gesetze beidesmal zum Generalredner bestimmt, und ich charakterisierte das Krankenversicherungsgesetz dahin, daß es von den Arbeitern viel weniger als eine hilfsbereite Handhabe, denn in vielen Fällen als eine Belästigung empfunden werden würde. Bei der dritten Lesung des Unfallversicherungsgesetzes wendete ich mich »vorwiegend gegen die besondere Gestalt dieser Sozialreform2, gegen die Organisierung der Unternehmer in den Berufsgenossenschaften unter gleichzeitiger Verweigerung und[85] Vernichtung jeder Arbeiterorganisation, gegen die einseitige Hervorkehrung der Versicherung vorübergehend oder dauernd Arbeitsunfähiger und Vernachlässigung des Arbeiterschutzes für die noch rüstigen Teilnehmer am Produktionsprozeß«, und am Schlusse charakterisierte ich die Stellung der sozialdemokratischen Fraktion mit den Worten:

»Wir hätten einer vollständigen und umfassenden Sozialreform mit dem größten Vergnügen unsere Unterstützung geliehen; allein sie hätte zunächst beginnen müssen mit etwas, was wir gar nicht genug betonen können, nämlich mit dem Normalarbeitstag. (Sehr richtig!) ... In den Massen faßt man eine Sozialreform gar nicht anders auf, denn als eine Beschränkung der Vorrechte der besitzenden Klassen. Wenn Sie diese Vorrechte beschränken wollen; so können Sie nicht Gesetze der Art, wie Sie sie jetzt gemacht haben, den Arbeitern darbieten, Gesetze, in denen schließlich die Vorrechte der besitzenden Klassen besser gewahrt sind, als die Interessen der arbeitenden Klassen selbst.«

Die Abstimmung gegen das Kranken- und das Unfallversicherungsgesetz ward uns aber erleichtert durch andere Umstände. Diese sozialpolitischen Gesetze sollten das »Zuckerbrot« sein, mit dem Bismarck die durch die »Peitsche« des Sozialistengesetzes getroffenen Arbeiter der Sozialdemokratie abspenstig machen wollte und für seine Politik zu gewinnen suchte. Dies gelang aber nicht, so sehr man auch die Arbeiter mit Schmeicheleien und Lockungen bedachte. Später, bei der Beratung des Invaliditäts- und Altersversorgungsgesetzes ging ein Minister so weit, daß er mit Emphase ausrief: »Liebet die Brüder!« Dabei war dieser Minister, Herr von Bötticher, während des Sozialistengesetzes einer der bösartigsten Verfolger der sozialistischen und klassenbewußten Arbeiter gewesen. Diese billigten daher unsere Abstimmung durchaus. Sie wollten ihr natürliches Recht auf Freiheit, auf Schutz gegen kapitalistische Ausbeutung und auf Emanzipation ihrer Klasse überhaupt nicht gegen das Linsengericht dieser »Bettelreform«, wie sie genannt wurde, verkaufen.

Trotz alledem war das Zustandekommen dieser Gesetze in erster Linie das Verdienst der verfolgten und geächteten Sozialdemokratie, welche unablässig staatliche Maßnahmen zum Schutze der Arbeiter gegen industrielle und agrarische Ausbeutung gefordert und betont hatte, daß die Arbeitskraft unseres Volkes sein kostbarstes Gut sei, das nicht durch kapitalistischen »Raubbau« gefährdet werden dürfe. In diesem Sinne hat auch Vollmar als Fraktionsredner bei der ersten Beratung des Unfallversicherungsgesetzes gesagt:

»Allerdings sind wir die Anstifter, denn ohne uns, ohne die hochgehende sozialistische Bewegung wäre es weder der Regierung, noch den Herren auf der linken Seite je eingefallen, sich überhaupt auf das Gebiet der Arbeitergesetzgebung zu begeben.«

Sogar Bismarck hat es öffentlich zugestanden, daß die sozialpolitische Gesetzgebung ihre Existenz der Sozialdemokratie verdankt und hat uns in diesem Sinne »ein ganz nützliches Element« genannt.[86]

Die großindustrielle Bourgeoisie nahm die Gesetze knurrend an, aber sie nahm Bismarck diese kümmerlichen Zugeständnisse an die Arbeiter sehr übel; sie behauptete später, sie sei durch dieselben in ihrer Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Auslande beschränkt worden, und die Gesetze hätten überhaupt nur die Sozialdemokratie gefördert. So hatte sich Bismarck mit seiner »Sozialreform« einstweilen zwischen zwei Stühle gesetzt. –

Die »milde Praxis« hörte bald auf. Dagegen trat der preußische Polizeiminister von Puttkamer bei der Verfolgung und Drangsalierung der Sozialdemokratie so brutal und gehässig auf, als nur irgend möglich. Dieser fossile Junker charakterisierte sein Polizeisystem selbst am besten durch den in seinem Strike-Erlaß enthaltenen Ausspruch: »Hinter jedem Strike lauert die Hydra der Revolution!« Ganz Deutschland wurde mit einem Netze von Spionage überzogen, dessen Fäden von Berlin ausgingen, wo sich der Mittelpunkt der Reichspolizei befand. Unter die Spitzel mischten sich zahlreiche agents provocateurs oder Lockspit zel, wie der Dichter Henckell dies Wort trefflich verdeutschte. Wer sich für die Details dieses Spionagesystems interessiert, der findet sie in dem von Auer verfaßten Schriftchen: »Nach zehn Jahren. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes.« Speziell über das Berliner Spitzelwesen enthält reichliches und erschöpfendes Material die Broschüre von Eugen Ernst: »Polizeispitzeleien und Ausnahmegesetze 1878–1910.«

Der spätere Geschichtsschreiber wird staunen, daß in einem mitteleuropäischen Lande im 19. Jahrhundert noch solche Dinge vorkommen konnten. Wir hatten nichts anderes erwartet. Bismarck und Puttkamer haben die Polizeiwirtschaft des alten Bundestages nicht nur ins Deutsche Reich herübergenommen, sondern sie weit übertroffen.

Nichts ist charakteristischer für jene Episode, als daß »Sozialreform« und Spitzelsystem, resp. Lockspitzel nebeneinander hergingen.

Hier sollen nur diejenigen Polizeiaffären eingehend behandelt werden, mit denen ich mittelbar oder unmittelbar in Berührung gekommen bin.

In Berlin konnten wir bald beobachten, daß wir Abgeordnete von einem Heer von Spitzeln umschwärmt waren. Es waren nicht etwa reguläre Polizisten, sondern zweifelhafte und korrumpierte Elemente, die sich für diesen traurigen Beruf anwerben ließen und dafür einen Taglohn von zwei Mark erhielten. Im Volksmund hieß man sie »Zwanziggroschenjungens«. Sie nisteten sich im Reichstagsgebäude – damals noch Leipziger Straße 4 – ein; sie schlichen auf den Korridoren und lauschten an den Türen der Fraktionszimmer. Auf den Tribünen saßen sie als Zuhörer oder »Journalisten«. Nach Schluß der Sitzungen erwartete ein Schwarm solcher Subjekte am Eingang des Reichstagsgebäudes die zu observierenden Abgeordneten und hing sich an ihre Fersen, um sie überallhin zu begleiten, auf Spaziergängen, in die Gasthäuser usw., bis die Betreffenden in ihren Wohnungen verschwanden. Verließen sie am[87] Morgen die Wohnungen, so standen die Spitzel schon in aller Frühe vor der Haustür und verfolgten die Abgeordneten bis zum Reichstagsgebäude. So standen wir von früh morgens bis spät abends unter Polizeiaufsicht.

Die Regierung tat als wisse sie von diesen Dingen nichts. Als der Abgeordnete Grillenberger darüber interpellierte, antwortete der Staatssekretär im Reichsamt des Innern, Herr von Bötticher, er könne darüber keine Auskunft geben; man möge ihm doch einen solchen Spitzel herbringen.

Übrigens wurden die polnischen Abgeordneten, sowie die Elsässer Protestler ganz so polizeilich überwacht wie wir.

Später, als einmal die Tribünen im Reichstage – namentlich die Journalistentribüne – gerade von einem Schwarm von Spitzeln besetzt waren,3 die nicht draußen warten wollten, erhob sich plötzlich der Abgeordnete Liebknecht, deutete hinauf und zeigte dem Reichstag den Unfug an. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Krähen verließen die Spitzel hastig die Tribünen und als jemand rief: »Sie sind fort!« antwortete Liebknecht: »So haben sie immer noch mehr Schamgefühl, als diejenigen, die sie hergeschickt haben!«

Der Reichstag geriet in lebhafteste Bewegung, aber ein Beschluß wurde nicht gefaßt. Dagegen nahm sich Herr von Levetzow, der Präsident des Reichstages, der Sache an. Er ließ die Spitzelgesellschaft hinausweisen. Der Bureaudirektor Knaack, ein ebenso frommen Mann, wie sein Verwandter, der »Sonnenschieber« Knaack,4 mag eine ansehnliche Nase von dem Präsidenten bekommen haben, weil er den Unfug geduldet hatte.

Dieser Knaack trat gegenüber den Sozialdemokraten und auch gegenüber anderen Oppositionsparteien sehr anmaßend auf, was der Reichstag duldete.

Auch ich, hatte natürlich einen speziellen Spitzel hinter mir, der schon in aller Frühe vor der Haustür lauerte, was meinem Hauswirt Veranlassung gab, sich spöttisch bei mir darüber zu bedanken, daß sein Haus so gut bewacht sei.

Diese Überwachung hatte den Zweck, ausfindig zu machen, wer in Berlin mit uns verkehrte. Da über Berlin der »kleine Belagerungszustand« verhängt war, so konnte die Polizei jedermann ausweisen, von dem sie »eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung« besorgen zu sollen glaubte. Diese »Sorge« zu erwecken reichte es aus, wenn man für die Sozialdemokratie tätig war oder mit bekannten Sozialdemokraten verkehrte. Wir Abgeordneten waren durch einen eigenen Beschluß des Reichstages vor der Ausweisung geschützt, da die Polizei so dreist war, zu versuchen, auf diesem Wege unsere Mandate unwirksam zu machen. Mit den Gründen für die Ausweisung machte es sich die Polizei[88] damals sehr leicht. So wurde ein Zigarettenarbeiter namens Stahl ausgewiesen, weil er in einer Wahlversammlung gesagt hatte: »Ich wähle Hasenclever!« Sogar die Nationalliberalen erschraken über diese Polizeiwillkür und Lasker erhob im Reichstage, freilich vergeblich, Beschwerde. Es läßt sich erklären, daß sich viele Leute, namentlich solche, die etwas zu verlieren hatten, vom Verkehr mit uns sorglich fernehielten. Aber es gab auch andere, die sich vor der Polizei nicht fürchteten und unsere Gesellschaft suchten. Verschiedene Wirte sahen es nicht gerne, wenn wir häufig bei ihnen verkehrten.

Dazu kam, daß sich verschiedene Lockspitzel an uns herandrängten und sich für eifrige Sozialdemokraten ausgaben. Wir konnten sie nicht immer gleich erkennen. Mit der Zeit wurden sie alle entlarvt. Aber es war doch sehr gut, daß später im Züricher »Sozialdemokrat« die »eiserne Maske« auftrat und die Spitzel an den Pranger der Öffentlichkeit nagelte. Diese Persönlichkeit, die durch ihre Stellung genau Kenntnis von den Vorgängen im Polizeipräsidium hatte, wurde uns mit der Zeit überaus nützlich. Wir erfuhren, daß die Spitzelei bis ins kleinste ging. So wurde uns eine Meldung nach dem Polizeipräsidium im Original gezeigt, welche lautete: »Herr von Vollmar soeben auf dem Anhalter Bahnhof angekommen.«

Mehrere Personen, mit denen ich erst arglos verkehrte, wurden zu meinem Erstaunen als Spitzel bloßgestellt. So ein gewisser Nix, der sich für einen Seemann, wenn ich mich recht erinnere, ausgab und in einem kleinen Zirkel von Berliner Parteigenossen verkehrte, wo Frohme und ich uns öfter einfanden. Er spielte den Biedermann und Schöngeist und las uns manchmal lyrische Gedichte harmlosester Art vor. Plötzlich führte ihn die »eiserne Maske« im »Sozialdemokrat« als wohlbestellten Spitzel vor, und da ihm sein Steckbrief plötzlich vor die Nase gehalten wurde, erschrak er dermaßen, daß er stotternd eingestand. Ein ehemaliger bayerischer Offizier namens Trautner ließ sich bei mir im Reichstage melden und teilte mir mit, daß er wegen Majestätsbeleidigung verfolgt werde und sich sehr in acht nehmen müsse. Zuerst erzählte er, daß er eine Audienz beim Kriegsminister nachgesucht habe, dem er das Modell eines neuen Armeerevolvers vorlegen wolle. Ich war so arglos, ihm abzuraten. Bald darauf schrieb ihn die »eiserne Maske« unter Angabe seines Sündenlohnes als Spitzel aus. Auch er gestand später. Ein gewisser Schwennhagen (eigentlich Schweinhagen), der viele Vorträge hielt, traf auch öfter mit mir zusammen. Er spielte den eifrigen Sozialdemokraten und hatte für seine Vorträge einen Preiskurant: Ein »altes Rom« = 10 Mk.; eine »moderne Gesellschaft« 12 Mk. usw. In Pforzheim gelang es ihm, die Parteigenossen dermaßen für sich einzunehmen, daß sie ihn ganz neu equipierten und ihm noch eine beträchtliche Summe in bar dazu gaben. In Braunschweig logierten wir einmal wegen Überfüllung des Hotels in einem Zimmer, und ich hätte niemals den Spitzel in ihm vermutet, als welcher er bald darauf entlarvt wurde. –[89]

Der Zentrumsabgeordnete Birkenmayer, Landgerichtsrat in Waldshut, mit dem ich aus meiner Studentenzeit bekannt war, machte eines Tages mit mir aus, daß wir ein Glas Bier miteinander trinken wollten. »Mit Vergnügen«, sagte ich, »aber Sie müssen meinen »Schatten« mit in den Kauf nehmen.« Lachend ging er darauf ein, und wir gingen in ein Münchener Bier-Restaurant. Ich stellte in Aussicht, daß ich den Spitzel »versetzen« werde; zu diesem Zwecke hatte ich ein Münchener Restaurant bestimmt, wo das Bier teuerer war. Es kam dort auch noch der demokratische Abgeordnete Retter von Ellwangen, ein sehr origineller Kauz, zu uns. Wir unterhielten uns gut, und der Spitzel, dem es draußen zu langweilig wurde, kam endlich herein und bestellte sich ein Glas Münchener. Die Kollegen amüsierten sich sehr ob seines »konfiszierten Gesichts«. Endlich nahm ich Stock und Hut und ging ab; der Spitzel stürzte eilig sein Glas hinab und folgte mir unter dem Gelächter der anderen. Nachdem ich mich ein Stückchen von dem Lokal entfernt, kehrte ich zurück und ging wieder hinein. Der Spitzel postierte sich nun am Eingang und wartete. Ich hatte vorausgesetzt, daß er nicht wieder hineingehen würde, weil ihm das Münchener Bier zu teuer war bei seinem Zwanziggroschen-Tagelohn. Das Lokal aber hatte, wie ich wußte, zwei Ausgänge, und ich verschwand nun durch den anderen. Als die beiden Kollegen weggingen, wartete der Spitzel immer noch geduldig. Birkenmayer sprach später manchmal von der Sache und wie amüsant es für ihn gewesen, auch einmal eine Stunde unter Polizeiaufsicht zu sein.

Aber es kam einmal auch anders. Mein leider so früh verstorbener Freund Dahms, damals Redakteur des »Bazar«, lud mich eines Sonntags ein, mit ihm eine bürgerliche Familie zu besuchen, deren Haupt ein alter Achtundvierziger namens Matern war und mich kennen lernen wollte. Er besaß ein Gütchen in Johannisthal, wohin er sich mit seiner Familie fast jeden Sonntag begab. Wir verlebten dort einen sehr schönen Nachmittag mit der Familie Matern. Der Alte, der in der Stadt eine Fabrik von Portefeuillewaren betrieb, konnte sehr interessant aus den Märztagen von 1848 erzählen, namentlich von dem in Berlin bekannten Barrikadenhelden Hesse, einem Tischler aus Halle, der so tapfer auf einer Barrikade am Alexanderplatz focht, aber seinen Ruhm sehr beeinträchtigte, indem er später Schutzmann wurde. 1884 lebte er noch und ward von Matern unterstützt. In alten Werken findet man ihn öfter mit einem Lorbeerkranz abgebildet, was daran erinnern soll, daß seine Kampfgenossen, von seiner Tapferkeit begeistert, ihm während des Gefechts einen Kranz aufs Haupt gesetzt hatten.

Matern fürchtete sich nicht vor der Polizei, obschon ich dem Alten mitgeteilt hatte, daß mein »Schatten« mich jedenfalls bis an die Tür des Gutes begleitet haben werde. Es war auch so, aber der Späher kümmerte sich nicht um die behäbig-bürgerlich aussehende Familie Matern, sondern nahm sich mei nen Freund Dahms aufs Korn, den er für einen gefährlichen Sozialisten hielt. Als wir uns trennten, schlich er hinter[90] Dahms her, um dessen Wohnung auszubaldowern. Dahms wohnte in der Naunynstraße bei dem sogenannten Buden-Engel, einem reichen Holzhändler Namens Engel, dem die Verkaufsbuden auf dem Dönhoffsplatze gehörten; daher sein Spitzname, den ihm die Marktfrauen gegeben. Dahms war Hauslehrer seines Sohnes.

Am anderen Morgen ging Dahms ahnungslos aus und war noch nicht lange fort, als der Polizeileutnant des Reviers erschien und der erstaunten Frau Budenengel ankündigte, er müsse in der Wohnung des bei ihr hausenden »sozialdemokratischen Agitators« eine Durchsuchung vornehmen. Obschon eine solche in Abwesenheit des Bewohners, wenn derselbe nicht entflohen, eigentlich unzulässig, wurden doch die Sachen von Dahms von den Schutzleuten gründlich durchwühlt. Zwar wurde nichts Verdächtiges gefunden, aber die Frau Budenengel war über den ausgestandenen Schreck so empört, daß sie Dahms die Hauslehrerstelle kündigte. Sie wollte nicht das »sozialdemokratische Gift« in ihrer Familie eingeschmuggelt haben.

Dahms war nicht weniger empört und ging sogleich zum Polizeipräsidenten Madai, den er persönlich kannte. Aber dieser antwortete achselzuckend: »Vermeiden Sie den Verkehr mit Sozialdemokraten; dann werden Ihnen solche Dinge nicht passieren.«

Dahms war ein feingebildeter und liebenswürdiger Mensch, der wie viele Berliner Journalisten innerlich mit dem Sozialismus warm sympathisierte, aber seinen Erwerb in der bürgerlichen Presse zu suchen genötigt war. Der Moloch der bürgerlichen Zeitungs-Industrie verschlang ihn in seinen besten Jahren. In seinem gastfreien Hause habe ich viele schöne Stunden verlebt, namentlich in den literarischen Gesellschaften, die er gab. Dort habe ich Sudermann, Frau Janitscheck, Frl. Marriot (Matajah), den Dramatiker Gensichen, Fritz Mauthner und viele andere interessante Erscheinungen der damaligen literarischen Welt Berlins kennengelernt.

Die feinsinnige Gattin Dahms', zu der ich noch heute in freundschaftlichen Beziehungen stehe, verstand es vortrefflich, diesen Zirkeln durch ihre häuslichen Tugenden eine wohlige Behaglichkeit zu verleihen. –

Eine sehr pikante Polizei-Affaire hatte ich im Jahre 1884. Ich gebe hier die Darstellung des Parteigenossen Eugen Ernst, die sich in seinem schon erwähnten Schriftchen über das Berliner Spitzelwesen findet.

Eines Tages, so erzählt Ernst, schlängelte sich der Kriminalbeamte Konrad (in Parteikreisen unter dem Namen »Alpenjäger« bekannt), an den Parteigenossen Adolf Hoffmann5 heran, um ihn für die Polizei als »Berichterstatter« zu gewinnen. Hoffmann, einem damals noch jungen Mann, juckte es mächtig in den Händen. Um aber der Polizei eine Blamage zu bereiten, ging er scheinbar auf das infame Angebot ein.[91]

Als der Versucher fortging, und Hoffmann sich versichert hatte, daß er nicht beobachtet wurde, ging er zum Genossen Wilhelm Grothe, der ihm riet, sich mit Hasenclever zu verständigen an dessen Stelle der Genosse Wilhelm Blos trat, da Hasenclever im Reichstag nicht anwesend war. Die Zusammenkunft zwischen Hoffmann und Konrad war auf einen Montagabend im Restaurant »Bellevue« in Rummelsburg verabredet. Dort erschien Konrad in Begleitung seines Vorgesetzten, des Polizeiwachtmeisters Weinert, damals wohnhaft Friedensstraße 22, den noch eine unbekannt gebliebene Persönlichkeit begleitete. Hoffmann verlangte nun eine Zusammenkunft mit dem Polizeiwachtmeister – der Mann ließ sich vorschußweise schon als Kommissär titulieren – ohne Zeugen und zwar in seiner – Hoffmanns – Wohnung, damals Ostbahnhof 18.

Die Zusammenkunft war auf Dienstag früh zwischen acht und neun Uhr angesetzt. –

Hier muß ich eine Ergänzung ein treten lassen. Ich erschien früh vor acht Uhr bei Hoffmann und machte den Vorschlag, daß ich im Schlafzimmer bei nur an gelehnter Tür die nebenan im Wohnzimmer stattfindende Unterredung mitanhören solle. Es war aber zu befürchten, daß der Polizeiwachtmeister sich erst versichern würde, ob niemand im Schlafzimmer verborgen sei. Um dem vorzubeugen, schlug ich vor. Frau Hoffmann solle sich im Negligé, resp. weißer Nacht-oder Morgenjacke im Wohnzimmer aufhalten und bei Eintritt des Wachtmeisters schamhaft erschreckt sich in das Schlafzimmer flüchten. Dann konnte der Wachtmeister nicht wohl wagen, ihr nachzufolgen. Ich hielt dies für zweckmäßig ausgedacht, und die anderen stimmten lachend zu. Aber gerade im entscheidenden Moment mußte Frau Hoffmann »einmal hinaus« und eben, als sie draußen war, kam der Wachtmeister. Er fragte gleich, ob niemand im Schlafzimmer sei, und ich gab die Überraschung schon verloren. Aber Hoffmann verneinte energisch, und der Wachtmeister kam nicht zu mir herein. Er war kein »Erfinder des Pulvers«.

Nun lasse ich Ernst fortfahren:

Der Polizeiwachtmeister stellte an Adolf Hoffmann das Ansinnen, der Polizei Spionen dienst gegen die Sozialdemokratie zu leisten. Dafür sicherte ihm der Herr Wachtmeister ein wöchentliches Honorar von 20 Mark und für jede besondere Leistung ein Extra-Honorar zu. Die Berichte sollten postlagend unter einer bestimmten Chiffre der Polizei übermittelt werden; auch sollte Hoffmann unter einem fingierten Namen über die empfangenen Summen quittieren. Es sei alles so schön eingerichtet, versicherte der Herr Wachtmeister, daß niemand kompromittiert werden könne; ein einflußreiches Mitglied der sozialdemokratischen Partei in Berlin leiste schon seit fünf Jahren solche Dienste und niemand ahne etwas davon. Auch freisinnige und sozialistische Mitglieder des Reichstages seien für Geld zu haben.[92]

Als Hoffman für diese infamen Verleumdungen Beweise verlangte, »bedauerte« Weinert, keine solchen »zur Hand« zu haben. Zur nächsten Reichstagswahl, fuhr er fort, gäbe es in Berlin für die Polizei sehr viel zu tun; sie müsse ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Wahlen richten und könne sich nicht darum kümmern, ob sechzig oder hundert Exemplare des Züricher »Sozialdemokrat« irgendwo zu finden seien; das lohne sich nicht. Die Bedenken Hoffmanns gegen seine Anträge suchte Weinert dadurch zu beseitigen, daß er wiederholt betonte, es werde niemand kompromittiert werden. Zuletzt zog er sein Portemonaie und erklärte sich bereit, zwanzig Mark einstweilen zu bezahlen; Hoffmann sollte aber erst eine »kleine Mitteilung« machen. Hoffmann ließ aber jetzt die Maske fallen. Er erklärte dem »Kommissär« lachend, daß er recht dumm in die ihm gestellte Falle gegangen sei. Mit den Worten: »Darf ich Ihnen auch eine kleine Mitteilung machen« trat in diesem Augenblick aus der Tür des Schlafzimmers, die nur angelehnt gewesen, sich mit spöttischer Verbeugung vorstellend, der Reichstagsabgeordnete Blos, der Zeuge dieser Unterredung gewesen war, auf die Hoffmann sich nur zum Schein ein gelassen hatte. In der Küche, deren Thür auch nicht ganz geschlossen war, hatte noch ein ins Vertrauen gezogener Kaufmann die Unterredung mit angehört.

Der Herr »Kommissär« wurde kreideweiß, während Hoffmann sagte: »Sie waren naiv genug, in diese Falle zu gehen, und werden einsehen, daß wir nichts mehr miteinander zu tun haben können.« Doch uneingedenk des alten Sprichworts, daß man im Unglück niemals ganz die Fassung verlieren soll, stammelte Weinert noch einige Worte die wie: »Bitte um Diskretion!« lauteten. »Wir werden sehen«, sagte Blos. »Sie dürfen uns nicht übel nehmen, wenn wir Leute Ihres Schlages einmal mit gleichen Waffen bekämpfen.« – »Ich habe Familie«, stotterte Weinert. »Ganz recht, mein Herr«, erwiderte Blos, »aber Sie schonen ja unsere Familien auch nicht. Was kümmert uns da die Ihrige?«

Der Kriminalwachtmeister Weinert verschwand mit möglichster Schnelligkeit.

Ich veröffentlichte den Bericht über diese Sache zuerst in der von Dr. Philipps geleiteten demokratischen Berliner »Volkszeitung«. Zwar erschien damals in Berlin schon der Vorläufer des »Vorwärts«, das von mir geleitete »Berliner Volksblatt«. Indessen fürchtete ich, die ob ihrer Überlistung ergrimmte Berliner Polizei möchte das »Volksblatt« verbieten, wenn dieses den Bericht zuerst brächte. Wir druckten den Bericht aus der »Volkszeitung« ab und vermieden so diese Klippe. – Die Sache machte großes Aufsehen.

Als ich am anderen Morgen über den Dönhoffsplatz ging, sah ich eine Menschenmenge um die Litfaßsäule stehen und hörte meinen Namen, sowie den Hoffmanns nennen. Die »Volkszeitung« hatte den Bericht öffentlich anschlagen lassen.[93]

Die Enthüllung eines Bestechungsversuchs, der so gut beglaubigt war, hatte insofern eine besondere Bedeutung, als die »Polizeispitzel« von der bürgerlichen Presse meist als »Erfindung der Sozialdemokratie« behandelt worden waren. Nun lag aber ein bündiger Beweis vor. Trotzdem schwieg die bürgerliche Presse meist »schamhaft« dazu; nur einige demokratische Blätter machten eine Ausnahme.

Damit vorläufig genug von solchen Spitzeleien. Auf andere komme ich später zurück. Die Verbindung mit den Berliner Parteigenossen konnte uns natürlich durch die Spionenwirtschaft nur beeinträchtigt, aber nicht abgeschnitten werden. Die Berliner Parteigenossen beschlossen dies auch der Polizei zu zeigen. Sie luden die Reichstagsfraktion zu einem Ausflug nach dem Grunewald ein. An einem bestimmten Orte fuhr ein großer Kremser6 vor, in dem alle dreizehn Abgeordneten Platz hatten. Mitten in Grunewald – es war an einem Sonntag – stießen wir auf große Schwärme von Parteigenossen, die sich in der Gegend von Schildhorn vereinigten und wieder trennten, je nachdem die überall schnüffelnde Polizei es zuließ. Es wurden Ansprachen gehalten, was die Polizei bei einem solchen Massenaufgebot nicht verhindern konnte. Man brachte uns zahlreiche Ovationen und drückte uns unbegrenztes Vertrauen aus. Ich sehe immer noch die Massen vor mir, wie sie den Wagen umdrängten, wie sie die Hüte schwangen und wie ein brausendes Hoch auf die Sozialdemokratie nach dem andern durch die Kiefern des Waldes hin erscholl. Es war ein erhebender Tag, der für den Augenblick alle Drangsale vergessen ließ. –

Der Anarchismus, mit dem wir um diese Zeit zu kämpfen hatten, konnte in Deutschland niemals rechten Boden gewinnen. Ihm standen die kräftigen Organisationen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften sowie der Geist des wissenschaftlichen Sozialismus entgegen, welcher das Klassenbewußtsein deutscher Arbeiter in die rechten Bahnen lenkte. Als durch das Sozialistengesetz die Sozialdemokratie größtenteils von der Oberfläche der politischen Welt verdrängt war, glaubten die Anarchisten auch in Deutschland ihre Zeit gekommen.

In den romanischen Ländern hatte sich der Anarchismus zu einer gewissen Macht entwickelt. Zwar hatte sich Bakunin, das Haupt dieser Richtung, 1870 in Lyon bei seinem Putsch behufs »Abschaffung des Staats« unendlich lächerlich gemacht. Aber die anarchistischen Wühlereien führten die Sprengung der alten Internationale herbei und richteten in der spanischen Revolution ein schreckliches Unheil an. Wir in Deutschland bekamen den Duft der Blüten Bakuninschen Geistes erst nur abgeschwächt zu verspüren. Nach den Verhandlungen des Haager Kongresses ließ Marx seine bekannte Broschüre gegen den Bakunismus erscheinen, durch welche die blutrünstige Phraseologie Bakunins in weiteren Kreisen bekannt wurde. Die bürgerliche Publizistik aber machte von diesen Veröffentlichungen,[94] durch die der Bakunismus bloßgestellt werden sollte, in gewohnter Perfidie einen ganz anderen Gebrauch, als man voraussetzen konnte. Die Phrasen Bakunins, daß der Revolutionär »den Teufel im Leibe« haben und nur auf »immerwährende unersättliche Zerstörung« bedacht sein müsse, daß der »einzig zuverlässige revolutionäre Faktor« das Lumpenproletariat sei usw. usw. wurden als Kundgebung derselben »sozialdemokratischen« Bewegung hingestellt, von welcher angeblich die Bakunisten den linken und wir den rechten Flügel darstellten. So habe ich auch des öftern, namentlich von nationalliberalen Professoren, den von Marx an die weitere Öffentlichkeit gezogenen »revolutionären Katechismus« Bakunins in Versammlungen verwenden hören. So energisch man widersprach und so scharf man den fundamentalen Gegensatz zwischen Sozialismus und Anarchismus betonte – es blieb immer etwas an jenen Verdächtigungen hängen und wurde von den Reaktionären ausgenutzt, um das Bürgertum zu erschrecken und es zu reaktionären Maßregeln geneigt zu machen.

Die ersten Anarchisten in Deutschland, allerdings nur von der Phantasie eines großen Dichters geschaffen, erschienen auf »den Brettern, die die Welt bedeuten.« Karl Moor in Schillers Räubern, der »seinen Willen nicht in Gesetze schnüren lassen« will, ist ein echter Anarchist, dessen ganzes Wirken in der »Propaganda der Tat« aufgeht. Schiller hat den künftigen Anarchismus vorausgeahnt und sogar seinen Fundamentalsatz ganz treffend formuliert.

Heute muß man die verschiedenen Spielarten des Anarchismus wohl unterscheiden. Es gibt einen bürgerlichen und einen proletarischen Anarchismus. Die Manchesterlehre der Bourgeoisie, welche das »freie Spiel der Kräfte«, eine Art wirtschaftlichen Faustrechts, fordert, ist nahe verwandt mit jenem proletarischen Anarchismus, welcher das Heil der Menschheit auch von der »Autonomie des Individuums« erwartet. Es ist daher kein Zufall, daß jüngst bei der deutschen Bourgeoisie ein so großes Interesse für den Propheten des neueren deutschen Anarchismus, für Max Stirner, erwacht ist. Stirner – eigentlich Kaspar Schmidt – gelangt in seinen geistreichen und verwegenen Schlußfolgerungen zu dem Satze: »Mir geht nichts über mich!« Solch ein Prophet muß der deutschen Bourgeois- und Kapitalistenwelt entschieden besser gefallen, als Fichte oder Hegel.

Die Bourgeois-Anarchisten nennen sich auch gerne »Edel-Anarchisten«, womit nicht bewiesen ist, daß sie zugleich immer edle Menschen sind. Es sind schon sehr seltsame Exemplare dieser Spezies aufgetaucht.

Als »Vater des Anarchismus« wurde seinerzeit Proudhon bezeichnet; wohl weil er dies Wort zuerst im modernen Sinne gebraucht hat. Er vertritt die kleinbürgerliche Richtung des Anarchismus. Er hat an der bürgerlichen Gesellschaft einschneidende Kritik geübt. Sein System des Mutualismus (Gegenseitigkeit) ist voller Widersprüche. Er fordert die Beseitigung jeder Regierung; dann aber will er wieder ein staatliches Organ, das den[95] Willen des Volkes vollzieht. Marx, der ihn in seinem »Elend der Philosophie« (Streitschrift gegen Proudhons Werk: »Philosophie des Elends«) kritisch vernichtet hat, sagt von ihm: »Er will als Mann der Wissenschaft über Bourgeois und Proletariern schweben; er ist nur der Kleinbürger, der zwischen Kapital und Arbeit, zwischen politischer Ökonomie und Kommunismus beständig hin und her geworfen wird.« Durch »revolutionäre« Phraseologie suchte er seine Schriften pikant zu machen und erschreckte das Spießbürgertum mit den an Rothschild adressierten Satze: »Eigentum ist Diebstahl!« Aber gerade dieser Satz ist nicht »Eigentum« Proudhons, sondern ein »Diebstahl« an dem 1793 guillotinierten Girondisten Brissot, von dem der Satz in Wirklichkeit herrührt. Der Proudhonismus ist auch in Deutschland verbreitet, allerdings nur wenig, und er wird von den Regierungen so wenig beachtet, daß sein Hauptvertreter, Dr. Arthur Mülberger, ungestört als königlich württembergischer Oberamtsarzt fungieren konnte.

Der proletarische Anarchismus hat zwei Richtungen, die friedliche, welche sich auf Diskussion der anarchistischen Theorien und auf die Agitation beschränkt. Die Diskussionen drehen sich um Abschaffung des Staats, um Auflösung der Gesellschaft in produzierende und konsumierende Gruppen, um Autonomie des Individuums und ähnliche Dinge. Wer einmal solchen Diskussion en zugehört und die trost-und hoffnungslose Verwirrung, die in jenen Köpfen herrscht, bemerkt hat, der kann sich nur über die Behörden wundern, welche diese Art von Anarchisten für »gefährlich« erachten. Es gibt aber noch eine andere Richtung, wo sich Fanatiker finden, die sich mit der »Propaganda der Tat« beschäftigen und mit Attentaten die Menschheit befreien wollen. An diese Leute drängen sich vielfach Lockspitzel heran und treiben sie zu Verschwörungen und Attentaten. Damit wurde das Bürgertum erschreckt und ihm die Notwendigkeit des Fortbestandes des Sozialistengesetzes plausibel gemacht. Indessen muß jeder einzelne Fall für sich beurteilt werden.

Es gab damals viele Arbeiter, welche durch den Druck des Sozialisten gesetzes dem Anarchismus in die Arme getrieben wurden. Daß der Anarchismus in Deutschland nicht mehr Boden gewann, ist einzig und allein das Verdienst der Sozialdemokratie, welche ihn überall bekämpfte und sein Eindringen in die große Bewegung der sozialistischen Arbeiter verhinderte, wozu weder eine Regierung, noch eine Polizei befähigt ist.

Die deutsche Sozialdemokratie erließ 1887 auf dem Parteitag von St. Gallen eine Erklärung gegen den Anarchismus, welche auch heute noch gültig ist. Sie lautete:

»Die anarchistische Gesellschaftstheorie, soweit sie die absolute Autonomie des Individuums erstrebt, ist antisozialistisch und nichts anderes als eine einseitige Ausgestaltung der Grundgedanken des bürgerlichen Liberalismus, wenn sie auch in ihrer Kritik der heutigen Gesellschaftsordnung von sozialistischen Gesichtspunkten ausgeht. Sie ist vor[96] allem mit der sozialistischen Forderung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der gesellschaftlichen Regelung der Produktion unvereinbar und läuft, wenn die Produktion nicht auf den Zwergmaßstab des kleinen Handwerks zurückgeführt werden soll, auf einen unlöslichen Widerspruch hinaus. Der anarchistische Kultus und die ausschließliche Zulassung der Gewaltpolitik beruht auf einem groben Mißverständnis der Rolle der Gewalt in der Geschichte der Völker. Die Gewalt ist ebensogut ein reaktionärer als ein revolutionärer Faktor; ersteres ist sogar häufiger der Fall gewesen, als das letztere. Die Taktik der individuellen Anwendung der Gewalt führt nicht zum Ziele und ist darum, in sofern sie das Rechtsgefühl der Masse verletzt, positiv schädlich und darum verwerflich. Für die individuellen Gewaltakte bis aufs äußerste Verfolgter und Geächteter machen wir die Verfolger und Achter verantwortlich und begreifen die Neigung zu solchen Gewalttaten als eine Erscheinung, die sich zu allen Zeiten unter ähnlichen Verhältnissen gezeigt hat und welche gegenwärtig in Deutschland von gewissen Polizeiorganen durch bezahlte Lockspitzel für die Zwecke der Reaktion gegen die arbeitende Klasse ausgenutzt wird«.

Das hinderte natürlich nicht, daß die Reptilienpresse uns noch ferner für die anarchistischen Attentate »moralisch« verantwortlich machte. –

Das Auftauchen des Anarchismus zur Zeit des Sozialistengesetzes in Deutschland knüpfte sich an den Namen Most.

Dieser tobte in seinem Blatte, »Freiheit« genannt, so fürchterlich, als ob er von einem Wutkrampf gepackt wäre. Die bürgerliche Gesellschaft wollte er mit Revolvern, Dolchen und Dynamitbomben zerstört wissen. Für uns, die deutschen Sozialdemokraten, war ihm kein Schimpfwort zu gemein, und in zahlreichen Artikeln forderte er zu Mord und Totschlag gegen uns auf. An viele bekannte Sozialisten schickte er Todesurteile, die uns allerdings zur Erheiterung dienten. Er brachte es auch in dem »gelobten Lande der Preßfreiheit«, in England fertig, längere Zeit ein gesperrt zu werden. Später ging er mit seinem Blatte nach Amerika und setzte dort sein elendes Treiben fort.

Uns war er in der letzten Zeit in Deutschland als eine komische Figur erscheinen. Wir wußten ohnehin, daß er nicht an Überfluß von Courage litt, und wir lachten darum bei seinen Wutausbrüchen. Unsere Auffassung von seiner Persönlichkeit ward in der Folge mehrfach bestätigt. Ein Augen- und Ohrenzeuge, eine durchaus vertrauenswürdige Persönlichkeit, erzählte mir, daß einst in Paris eine Anarchistenversammlung stattgefunden, zu welcher er aus Neugierde gegangen sei. Die Versammlung sei vor der Polizei geheim gehalten worden. Most sei der Hauptredner gewesen. Als er gerade dabei gewesen, sämtliche Potentaten Europas zu vertilgen, sei am Eingang des Saales der Wirt erschienen und habe den Zeigefinger hochgehalten. Darauf habe Most seine Rede sofort abgebrochen und sei hinter Tischen und Schränken im Hintergrunde des Saales verschwunden. Der Wirt aber habe ganz erstaunt gefragt, was denn los sei; er habe nur[97] mitteilen wollte, daß ein frisches Faß Bier angestochen sei. Worauf Most wieder hervorkam und bekannte, daß er geglaubt, die Polizei sei im Anzuge.7

In Amerika sollte einst eine Zusammenkunft von Anarchisten stattfinden, die sich nach Mosts Anweisung in der von ihm herausgegebenen »revolutionären Kriegswissenschaft« im Anfertigen von Dynamitbomben unterrichten wollten. Most sollte die leere Bombe, ein anderer das einzufüllende Dynamit bringen. Als nun Most mit der leeren Bombe im Zuge saß, fuhr dieser über eine lange eiserne Brücke. Das verursachte ein Rasseln und Donnern, daß der arme Most Angst bekam und so verwirrt wurde, daß er glaubte, die leere Bombe könnte doch losgehen. In seiner Aufregung schleuderte er sie zum Fenster hinaus in den Fluß.

So sind mir diese Dinge mitgeteilt worden; die Bomben-Affaire kam nachher auch in die Zeitungen und wurde viel belacht. Mag einzelnes übertrieben sein – jedenfalls war Most der größte Maulheld, der seit langer Zeit in der Öffentlichkeit erschienen ist.

Das Mostsche Treiben wuchs sich indessen gefährlich aus, als sich die Polizeispitzel an ihn herandrängten, die gleich erkannten, daß mit diesem Manne etwas für sie zu machen sei. Bald saßen sie in den Bureaux der »Freiheit«. Als deren Korrespondenten füllten sie das Blatt mit den ungeheuerlichsten Lügen über die deutsche Sozialdemokratie, die dann von der Reaktion in Deutschland entsprechend ausgenutzt wurden. Auch in Majestätsbeleidigungen schwelgten sie.

Most hatte einige Anhänger im Rhein- und Maingau gewonnen. Zu diesen sandte er seinen Freund Davé, einen belgischen Anarchisten, der übrigens der friedlichen Richtung angehörte und Most öfter von seinen Tollheiten abzumahnen suchte.8 Er sollte die deutschen Anarchisten sammeln und die anarchistische Agitation in Deutschland ausbreiten. Die Frankfurten Anarchisten hatten nichts »Hervorragendes« geleistet, aber man sandte einen Spitzel unter sie, der sie aushorchte und sie alsdann wegen eines »hochverräterischen Unternehmens« denunzierte. Die Angeklagten, unter ihnen Davé, wurden verurteilt.

Da um diese Zeit auch Most in London zu 16 Monaten Zwangsarbeit verurteilt worden war, so mußte man die »Freiheit« in Schaffhausen drucken lassen; die Züricher Polizei stellte später fest, daß ein Spitzel, der im Dienst der Berliner Polizei stand, die Druckkosten für die »Freiheit« bezahlte. Ich komme geeigneten Orts darauf zurück.

Unter den Anarchisten befanden sich die verschiedensten Elemente; neben bloßen Wirrköpfen sah man kalte Fanatiker und tolle Schwarmgeister,[98] welche die Menschheit mit einem Schlage von ihren Fesseln befreien zu können glaubten, sowie Opfer des Größenwahns à la Nobiling welche ihren Namen um jeden Preis in das Buch der Weltgeschichte einzutragen beabsichtigten. Man kann sich denken, welch günstigen Boden die Lockspitzel hier für ihr Treiben vorfanden.

Eine vom Größenwahn eingegebene Tat war das Unternehmen des Schriftsetzers Reinsdorf, der schon vor dem Sozialistengesetz als Anarchist von der Sozialdemokratie ausgeschlossen worden war. In Elberfeld sammelte er einige Anhänger, die wie er zu Attentaten entschlossen waren. Sie beschlossen, am 27. September 1883, dem Tage der Enthüllung der Niederwald-Denkmals, die dort, anwesenden Fürsten durch Dynamit in die Luft zu sprengen. Die Zündschnur versagte. Reinsdorf war sicher kein Polizeispitzel; er wurde mit einem anderen Teilnehmer der Verschwörung, dem Schriftsetzer Küchler, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aber der Weber Palm, der die Kosten für die Vorbereitung des Attentats aufgebracht hatte, wurde nicht mitangeklagt, sondern nur als Zeuge vernommen, verweigerte die Auskunft über die Quelle, aus der die Mittel geflossen und tat nachher Spitzeldienst. Allerlei geheimnisvolle Umstände waren mit diesem Attentate verbunden.

Die anarchistische Agitation hatte indessen keine oder nur geringe Erfolge aufzuweisen und die Kassen blieben leer. Da traten unter den Anarchisten Leute auf, welche durch die sogenannte revolutionäre Expropriation Geldmittel zu beschaffen sich erboten. In Zürich trat eine Anarchistenkonferenz zusammen, welche beschloß, die Raubmord-Taktik, wie sie der Polizeiagent Peukert in einem Pester Anarchistenblatt empfohlen hatte, durchzuführen. An der Konferenz nahmen auch die Polizeispitzel Kaufmann und der oben schon genannte Schröder, welcher den Druck der »Freiheit« in Schaffhausen bezahlte, teil. Die Rolle der »revolutionären Expropriateure« übernahmen die österreichischen Anarchisten Kammerer und Stellmacher, welch letzterer Redakteur der »Freiheit« gewesen; ihnen gesellte sich noch der Schlosser Kumitsch zu. Die anderen Teilnehmer an den nun folgenden Verbrechen sind nicht bekannt geworden.

Schon im Juli 1882 war in Wien der Schuhfabrikant Merstallinger von Anarchisten mit Chloroform betäubt und um tausend Gulden beraubt worden. Einer der Anstifter dieser Tat flüchtete nach Amerika, ohne daß die österreichische Regierung seine Auslieferung verlangte, obschon die Unionsregierung dazu bereit war. Es folgten nun der Raubmord in Straßburg an dem Apotheker Lienhard und an einer Schildwache in Straßburg am 22. Oktober 1883, und gleich darauf, am 21. November das Raubmordattentat auf den Bankier Heilbronner in Stuttgart.

An diesem Tage verbreitete sich in der Stadt die Schreckenskunde, daß das Heilbronnersche Bankgeschäft in der Kronprinzstraße überfallen und beraubt worden sei, wobei der Chef Heilbronner und sein Kommis Oettinger schwere Verletzungen davon getragen hätten. Die Raubmörder, hieß es,[99] seien Anarchisten gewesen. Wir waren es gewohnt, daß die anarchistischen Untaten ausgenutzt wurden, um die Sozialdemokratie mit der »moralischen Verantwortlichkeit« zu belasten. Indessen verhielt sich die Presse jetzt objektiv.

Die Raubmörder waren nach verschiedenen Seiten entflohen. Es waren ihrer vier gewesen und das Justizministerium setzte 1500 Mark Belohnung für ihre Festnahme aus.

Einer der vier Verbrecher wurde in Pforzheim festgenommen und alsbald erschien im »Neuen Tagblatt« zu Stuttgart in dessen Nummer 270 folgende Bekanntmachung:

»Königl. Landgericht Stuttgart. Raubmord-Anzeige. Dritter Nachtrag.

Der wegen Raubmords an J. A. Heilbronner hier verhaftete angebliche Ernst Baum aus Chemnitz bekennt sich jetzt als der Schreiner Michael Kumitsch aus Cernik in Slavonien, der im Mai dieses Jahres wegen sozialdemokratischer Umtriebe ausgewiesen bis vor kurzem in St. Gallen gearbeitet habe; er bezeichnet auch seine Genossen als Sozialdemokraten und die Tat als zu sozialdemokratischen Zwecken ausgeführt. Dies wird behufs weiterer Fahndung nach den noch nicht beigebrachten Missetätern und mit der Aufforderung zu etwaigen sachdienlichen Mitteilungen an den Unterzeichneten bekannt gemacht. 26. Nov. 1883. Der Untersuchungsrichter.«

Die Mitteilung, daß der Raubmord von Sozialdemokraten und zu sozialdemokratischen Zwecken unternommen sei, wurde von den meisten Blättern mit Fragezeichen versehen; nur einige reaktionäre Winkelblätter taten, als nähmen sie die Sache ernst. Der durchschnittliche Stuttgarter Spießbürger glaubte natürlich steif und fest an die »sozialdemokratischen Raubmörder«. Darum erschien im »Neuen Tagblatt« Nr. 278 die nachstehende


»Erklärung.


Der Herr Untersuchungsrichter des Kgl. Landsgerichts Stuttgart erläßt in Nr. 276 des ›Neuen Tagblatt‹ eine Raubmordanzeige, worin u.a. mitgeteilt wird, daß der wegen des bekannten raubmörderischen Überfalls in der Kronprinzstraße. Verhaftete sich als einen Schreiner Michael Kumitsch aus Cernik in Slavonien bezeichne und daß er angegeben habe, er sei ein aus Wien ausgewiesener Sozialdemokrat, seine Genossen seien ebenfalls Sozialdemokraten und das Verbrechen sei ›zu sozialdemokratischen Zwecken‹ ausgeführt worden.

Zunächst finden wir es seltsam, daß diese Angaben des Verbrechers amtlich veröffentlicht werden, bevor man sich die Beweise verschafft hat, daß der Verbrecher wirklich die Persönlichkeit ist, für die er sich ausgibt. Es ist ferner für denkende Menschen vollständig klar, daß die Sozialdemokratie Deutschlands aus einem solchen Verbrechen erfließende Geldmittel[100] mit dem denkbar größten Abscheu zurückweisen würde. Kein Mensch hat jemals den Mut gehabt, ihr ein solches Anerbieten zu machen.

Im übrigen sei darauf hingewiesen, daß alle diejenigen Arten des Erwerbs von Geld und Gut, welche Gesetz und Sitte der heutigen Gesellschaft verpönen, von den Grundsätzen unserer Partei gleichfalls verworfen werden, wohingegen viele Erwerbsarten heute als moralisch zulässig passieren, die vor der höher stehenden Moral des Sozialismus nicht Bestand haben.

Wenn jenes uns selbstredend gänzlich unbekannte Subjekt sich dennoch für einen Sozialdemokraten ausgibt, so kann er dafür nur zwei Gründe haben. Entweder will der Verbrecher sich dadurch über das Niveau eines gemeinen Verbrechers erheben, ein Versuch, der ihm zweifellos mißlingen muß, oder er gehört zu jener Partei, die sich selbst als anarchistisch bezeichnet und solche Verbrechen für zulässig hält, die man aber fälschlich mit uns zusammenwirft. Denn wir stehen dem verächtlichen und gewissenlosen Treiben dieser Partei eben so prinzipiell feindlich gegenüber wie die anderen Parteien.

Der amtlichen Publikation gegenüber erschien uns diese Erklärung geboten; den Verdächtigungen einer gewissen Sorte von Preßorganen gegenüber haben wir nur das Schweigen der Verachtung.


Stuttgart, 28. November 1883.

Wilhelm Blos, Reichstagsabgeordneter für Reuß älterer Linie,

J. H. W. Dietz, Reichstagsabgeordneter für Hamburg II,

Bruno Geiser, Reichstagsabgeordneter für Chemnitz.«


Bald wurde auch Näheres über den gefangenen Kumitsch bekannt. Im Züricher »Sozialdemokrat« wurde berichtet, daß einige Zeit zuvor in St. Gallen eine Versammlung stattgefunden habe, in welcher der Reichstagsabgeordnete Grillenberger sprach. Dieser lehnte energisch die anarchistische Theorie ab, wonach durch die »Propaganda der Tat«, durch Dynamitattentate und dergleichen die Menschheit aus ihren Fesseln befreit werden soll. Ihm trat der Schreiner Kumitsch, eben der genannte Attentäter, entgegen. Grillenberger hatte seine Ausführungen mit historischen Beweisen belegt. Darauf antwortete Kumitsch:

»Wos geht uns Geschichte an? Dös worn ja früher andere Verhältnisse. Wos Wissenschaft! Is ja olles Schwindel! Hilft uns nix als Dynamit und Petrol!«

In dem Pester Anarchistenblatt wurde mit blutiger Rache gedroht, wenn Kumitsch etwas geschehen würde.

Indessen wurde Kumitsch zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Er wurde in dem alten Zuchthause zu Stuttgart untergebracht. Der Direktor Justizrat Eggert, der bekannte katholische Dichter; wendete ihm seine besondere Aufmerksamkeit zu, wie er mir öfter erzählte. Kumitsch war ganz gebrochen und wurde fromm. Vor einigen Jahren wurde er auf Verwendung Eggerts begnadigt. Der Mann wäre am liebsten in ein Kloster gegangen, wenn ihn eines hätte aufnehmen wollen.[101]

Die Anarchisten Stellmacher und Kammerer, die an dem Stuttgarter Raubmordattentat beteiligt waren – was erst später ermittelt wurde – begingen bald darauf in Wien den Raubmord an dem Bankier Eisert und seinen zwei Knaben und Stellmacher erschoß einen Polizeisekretär. Nach einiger Zeit wurden diese beiden Helden der »Propaganda der Tat« verhaftet; von ihren Mitschuldigen konnte außer Kumitsch keiner ermittelt werden. Stellmacher klagte in seiner Verteidigungsrede die bürgerliche Gesellschaft an, daß sie schon Kinder dem Hungertode preisgebe – an sich war das gewiß richtig – und er schien dabei bis zu Tränen gerührt. Und doch hatte er kurz zuvor die Kinder des Bankiers Eisert grausam niedergeschlagen und getötet! Solch einen Charakter, gemischt aus Größenwahn. Grausamkeit und Rührseligkeit, hätte kaum die Phantasie eines Shakespeare zu er dichten gewagt.

Der bekannte Wiener Staatsanwalt Graf Lamezan verspottete in diesem Prozeß die »gemäßigten Revolutionäre im Schlafrock« und behauptete, nur die Leute der »Propaganda der Tat« seien von Bedeutung; den höchst verdächtigen Anarchisten Peukert, welcher alle wilden Instinkte im Volke entfesseln wollte, nannte er »einen intelligenten, wissensreichen Mann«.

Stellmacher und Kammerer wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Zu welchen Albernheiten sich überdies die österreichische Polizei von ihren Lockspitzeln brauchen ließ, mag man aus folgendem ersehen. Eines Tages wurde in der Umgebung von Wien eine Anzahl Arbeiter verhaftet, die sich von Lockspitzeln hatten zu einer anarchistischen »Verschwörung« beschwatzen lassen. Einige der Lockspitzel ließen sich mitverhaften und bei der polizeilichen Untersuchung fand man auf der Innenseite ihrer Röcke große Haken angebracht. Bei der Vernehmung mußten dann die Spitzel aussagen, die Haken hätten zum bequemen Tragen der Dynamitbomben dienen sollen. Ob die armen Teufel, die auf diese Weise zu Dynamit-Attentätern gestempelt wurden, verurteilt wurden, weiß ich nicht. –

Kein vernünftiger Mensch wird die nur theoretischen Anarchisten wie den berühmten Geographen Elisée Reclus, welcher ein Anhänger Proudhons ist, oder den Fürsten Peter Krapotkin mit der »Propaganda der Tat« in Zusammenhang bringen oder gar dafür verantwortlich machen wollen. Aber die Art, wie unter dem Sozialistengesetz einzelne anarchistischen Gruppen gegen uns auftraten, mußte auf das schärfste bekämpft werden.

Nachdem das Sozialistengesetz gefallen, ist die anarchistische Bewegung in Deutschland wieder so unbedeutend geworden wie früher.

Karl Marx sagt in seiner Schrift gegen Bakunin, es werde gewiß noch dahin kommen, daß die Menschen sich so hoch entwickelten, um an Stelle der Regierungsfunktionen bloße Verwaltungsfunktionen setzen zu können, daß wir aber nun einmal noch nicht so weit sind. –[102]

Fußnoten

1 Da Auer und Bebel nicht gewählt waren, kam mein Name gemäß der alphabetischen Reihenfolge an die Spitze.


2 Nach Schippels Reichstags-Handbuch.


3 Sie benutzten den Reichstag, wie die »Kriminalstudenten« die Gerichtssäle benutzen.


4 Ein pietistischer Prediger, der behauptete, daß die Sonne sich um die Erde drehe, weshalb der Berliner Volkswitz ihn »Sonnenschieber« taufte.


5 Der heutige bekannte Abgeordnete, im Volke auch Zehngebote-Hoffmann genannt, von seiner Schrift über die zehn Gebote.


6 Vielsitzer-Mietswagen für Landpartien.


7 Uebrigens verkroch sich auch der furchtbare Revolutionär und Anarchist Peukert in London in ein heimliches Gemach – für Damen, als er glaubte, es sei Polizei in der Nähe, was aber gar nicht der Fall war. Unter dem Hohngelächter der benachteiligten Damen wurde der Held aus seinem Versteck ausgetrieben.


8 Die »Mission« des Davé wurde von dem Spitzel Neumann, der in der Expedition der »Frei heit« saß, der preußischen Polizei verraten und Davé wurde verhaftet.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 103.
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