Siebentes Kapitel.
Mitteilungen meines Vaters. III.
[91] Goethes alleinige Direktion (1805–1817): Neu-Aufführungen: »Die Laune des Verliebten«, »Othello«, »Lied von der Glocke«, »Stella«, »Torquato Tasso«, »Der zerbrochene Krug«, »Antigone«, »Hamlet«, »Götz von Berlichingen«, »Der 24. Februar«, »Der standhafte Prinz«, »Romeo und Julia«, »Das Leben ein Traum«, »Don Juan« usw.

Nachdem Goethe einigermaßen seinen Schmerz bekämpft hatte, nahm er sich wieder mit voller Tätigkeit des Theaters an. Das erste Stück, das er nach diesem traurigen Ereignis in Szene setzte, war »Die Laune des Verliebten«. Die mangelhafte Besetzung war schuld, daß das Stück nur wenig Beifall fand; erst als in späterer Zeit die Hauptrollen in den Händen der Jagemann und Wolff waren, fand das Stück großen Anklang und blieb auf dem Repertoire. Vor Schluß der Saison kam noch am 8. Juni das Riesenwerk Shakespeares, »Othello«, von Voß übertragen, zur Aufführung. Es war eine gelungene Vorstellung, besonders war Becker als Jago ganz vortrefflich; allein das Publikum nahm nicht das Interesse an dem Stück, das Goethe und die Weimarschen Kunstfreunde erwartet hatten. Teils war ihnen das Ganze zu graß, teils trug auch die steife, schwülstige Übersetzung dazu bei. Es wurde nur zweimal gegeben.

Am 12. Juni reisten wir nach Lauchstädt und verblieben daselbst bis zum 19. August. Erfurt und Rudolstadt waren für immer aufgegeben, da der pekuniäre Vorteil zu gering[91] geworden war, als daß man sich darum die Last der Reise hätte auferlegen mögen.

Zunächst beherrschten Schillersche Werke dies Jahr das Repertoire, und Goethe bereicherte es noch durch das »Lied von der Glocke«. Er hatte diese Perle deutscher Dichtkunst dialogisch für die Bühne eingerichtet und ließ das Gedicht von den' ganzen Personal darstellen. Schon in Weimar hatten mehrere Proben unter seiner Leitung stattgefunden und in Lauchstädt wurden sie fortgesetzt. Am 10. August fand die Aufführung statt und »Maria Stuart« folgte darauf. Das Publikum war so enthusiasmiert, daß auf allgemeines Verlangen die Vorstellung wiederholt werden mußte; das zweite Mal aber gab man statt der »Maria Stuart« den »Parasit« dazu.

Außerdem veranstaltete Goethe noch eine besondere Gedächtnisfeier Schillers.

In Weimar wurden nach der Heimkehr als Novitäten »Stella«, der »Cid«, nach Corneille von Niemeyer, und »Der Geizige«, nach Molière von Zschokke, ausgeteilt. Goethe liebte es überhaupt, alles anerkennungswerte Neue, was auf dem Gebiete der dramatischen Literatur erschien, auf seine Bühne zu verpflanzen. »Der Geizige« wurde noch vor Schluß des Jahres gegeben; »Stella« erschien zum erstenmal am 13. Januar 1806. Da Goethe in der freundschaftlichsten Beziehung zum Kanzler Niemeyer in Halle stand, bestimmte er die Aufführung des »Cid« zum Geburtstag der Herzogin Louise.

Auch Einsiedel war nicht müßig und hatte ein Werk von Plautus: »Die Gefangenen«, Lustspiel in fünf Akten, übertragen. Das Stück wurde am 28. April 1806 gegeben, blieb aber in seiner Wirkung weit hinter den »Brüdern« des Terenz zurück und fand bei der Wiederholung, die erst nach zwei Jahren erfolgte, ebenfalls keinen Beifall.

Schillers Todestag war herangekommen, und es wurden[92] am 10. Mai von »Wallensteins Tod« der zweite, dritte und vierte Akt gegeben. Hierauf folgte das »Lied von der Glocke«, ganz so, wie es in Lauchstädt dargestellt worden war, und den Schluß bildete ein Epilog von Goethe mit Chorgesang. Jedermann wußte, daß diese Vorstellung dem Andenken Schillers geweiht war, und eine allgemeine Rührung herrschte im Publikum und in noch höherem Grade bei dem darstellenden Personal; nur unter Tränen konnte die Jagemann den Monolog der Thekla zu Ende bringen. Es war auch ganz natürlich; der Unvergeßliche hatte ja in diesen Räumen mit uns gewirkt und jedem mit Rat und Tat beigestanden; alle konnten sich seines Wohlwollens und seiner freundlichen Nachsicht rühmen. Als der Vorhang gefallen war, entfernte sich das Publikum geräuschlos, nur eine mächtige Stimme (ein Student aus Jena) rief: »Schiller, du wirst in dem Herzen deines deutschen Volkes fortleben ewige Zeiten!«

In der Welt sah es sehr kriegerisch aus, und mit besorgten Herzen gingen wir diesmal nach Lauchstädt. Ende Juli wurde der politische Horizont immer trüber; die Einnahmen verminderten sich mehr und mehr, was ich pflichtschuldigst meldete; aber dennoch mußten wir bis Mitte August dort aushalten. Bei unserer Rückkunft lag nichts Neues vor, und so bildete man das Repertoire aus den vorhandenen Opern und Schauspielen.

Der 14. Oktober kam heran, und der Ausgang der unglückseligen Schlacht bei Jena gefährdete nicht nur unser Eigentum, sondern auch die Existenz des Theaters. Der Geheime Rat von Voigt, als Finanzminister, eröffnete Goethe, daß von seiten der Kammerkasse, aus welcher die Besoldungen der Hofdiener flossen, ferner kein Zuschuß mehr für das Theater gegeben werden könne.

Karl August war weit entfernt und seine Willensmeinung[93] nicht leicht einzuholen; Goethe hatte sich der traurigen Notwendigkeit zuletzt fügen müssen. Da trat der Geheime Hofrat Kirms, der von dem Vorhaben rasch unterrichtet worden war, wie ein Deus ex machina dazwischen. Er war Chef über die Hof- und Theaterkasse und eröffnete dem Minister Voigt, daß er keines Zuschusses von der Kammerkasse bedürfe, und wenn das Theater noch Monate geschlossen bleiben sollte. Weise Sparsamkeit hätte ihn in den Stand gesetzt, allen Verpflichtungen nachzukommen. Er sei überzeugt, daß Serenissimus sein Verhalten in dieser Angelegenheit gutheißen werde. Das Kapital, das sich in der Theaterkasse vorfände, hätten die Schauspieler im Schweiße ihres Angesichts in Lauchstädt, Erfurt und Rudolstadt verdient, folglich sollte es ihnen jetzt zugute kommen. Der Minister zog seinen Antrag zurück, und so blieb jeder von uns unangefochten in seiner Stellung.

Viele Schauspieler hatten oft, wenn Kirms um eine Elle dünnes Seidenzeug geizte, über seine Knickerei räsoniert und gespöttelt, aber nun erkannten alle, wie weise er gehandelt hatte, und daß das Herz bei ihm an der rechten Stelle saß.

Mit »Fanchon« war die Bühne am 13. Oktober geschlossen worden, mit einem Lustspiel: »Die Erben« von Frau von Weißenthurn, wurde sie Ende Dezember wieder eröffnet.

Nachdem durch Kirms' Energie die Existenz der Schauspieler gesichert war, beschlossen Oels, Wolff und Becker, die Damen Silie und Wolff, ohne Goethe davon in Kenntnis zu setzen, den »Torquato Tasso« unter sich einzustudieren, um den Dichter damit zu überraschen. Sie wollten Kirms auch ein Zeichen ihrer Ökonomie geben, und jeder schrieb sich seine Rolle selbst ab. Früher hatte ich mir erlaubt, Goethe zu fragen, warum er den »Tasso« nicht aufs Repertoire brächte; er war aber ganz gegen dessen Aufführung, und deshalb enthielt ich mich aller Einmischung bei diesem Unternehmen.[94]

Anfang Februar 1807 überraschten die obengenannten Mitglieder Goethe mit dem beendeten Studium dieses Werkes und wußten ihn zu bestimmen, daß er dessen Darstellung bewilligte. Am 16. Februar, dem Geburtstage unserer allverehrten Erbprinzeß Maria Paulowna, fand die erste Aufführung statt, welche mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. Goethe konnte wahrlich stolz auf seine Schüler sein, so vortrefflich war die Darstellung, die noch an Grazie und Schönheit gewinnen sollte, als später die Jagemann die Eleonore spielte.

Unsere Sommersaison sollte sich dies Jahr ganz anders gestalten. Der Magistrat von Leipzig hatte an Goethe geschrieben und die Weimarschen Hofschauspieler zu einem Gesamtgastspiel nach Leipzig eingeladen. Goethe war erfreut über diesen Antrag und schrieb zur Eröffnung dieses Gastspiels einen Prolog, der von Wolff ganz vortrefflich gesprochen wurde.

Die dortige Bühne wurde am 24. Mai mit »Don Carlos« eröffnet. Nachdem 25 Vorstellungen vorüber waren, gingen wir nach Lauchstädt, von da den 4. August wieder nach Leipzig, um einen zweiten Zyklus von 25 Vorstellungen zu geben. Der Andrang des Publikums war enorm, und die Mitglieder wurden mit Beifall überschüttet.

Als wir nach Weimar zurückgekehrt waren, ging ich zu Goethe, um ihm über alle Vorkommnisse Rapport abzustatten. Er empfing mich mit den Worten »Nun, ihr habt euch ja recht wacker gehalten und unsere Gesellschaft hat, wie ich von allen Seiten höre, Ehre eingelegt, besonders hat Mahlmann« – der damals erste Kritiker von Leipzig – »gewichtige Worte über unser Streben gesprochen. Der Mann hat vollkommen recht, Virtuosität muß von der dramatischen Kunst fern gehalten werden. Keine einzelne Stimme darf sich geltend machen; Harmonie muß das Ganze beherrschen,[95] wenn man das Höchste erreichen will. Darum laßt uns in unserem Streben so fortfahren, denn manches findet sich noch, was, besser ins Auge gefaßt, zu größerer Geltung gebracht werden kann. An Ausdauer von meiner Seite, gutem Willen und Fleiß von seiten des Personals fehlt es nicht, und so ist mit der Zeit das Beste zu erwarten.«

Bis zum Jahresschluß bestand unser Repertoire aus einigen neuen und guten alten Stücken.

Gegen Mitte Dezember kam Zacharias Werner nach Weimar und las uns sein dramatisches Werk: »Wanda, Königin der Sarmaten«, ein Trauerspiel in fünf Akten, vor. Goethe interessierte sich sofort sehr lebhaft für dieses Stück, und so wurde es rasch ausgeschrieben, verteilt und am 30. Januar 1808 zum erstenmal zur Darstellung gebracht. Das Mythische und Fremdartige verfehlte nicht seine Wirkung beim Publikum. Die Vorstellung ging gut, denn Goethe hatte das Ganze mit großem Fleiß in Szene gesetzt, und besonders ausgezeichnet waren die Wolff als Wanda und ihr Gatte als Fürst Rüdiger. Das Stück blieb auf dem Repertoire, solange das Wolffsche Ehepaar der Weimarschen Bühne angehörte.

Eine zweite Neuigkeit, »Der zerbrochene Krug« von Kleist, folgte am 2. März. Schon bei der ersten Vorstellung wurde dem Stück der Stab gebrochen, und es fiel unverdienterweise total durch. Hauptsächlich traf die Schuld des Mißlingens den Darsteller des Adam, der in seinem Vortrag so breit und langweilig war, daß selbst seine Mitspieler die Geduld dabei verloren. Trotz aller Rügen Goethes bei den Proben war er aus seinem breitspurigen Redegang nicht herauszubringen, und den kurzen Imperativ bei ihm anzubringen, wäre wahrlich ganz in der Ordnung gewesen, denn das Zerren und Dehnen war nicht zu ertragen. Bei der[96] Aufführung dieses Stücks ereignete sich ein Vorfall, der in dem kleinen Weimarschen Hoftheater noch nie dagewesen und als etwas Unerhörtes bezeichnet werden konnte: ein herzoglicher Beamter hatte die Frechheit, das Stück auszupfeifen. Karl August, der seinen Platz zwischen zwei Säulen, dicht am Proszenium, auf dem sogenannten bürgerlichen Ballon hatte, bog sich über die Brüstung hinaus und rief: »Wer ist der freche Mensch, der sich untersteht, in Gegenwart meiner Gemahlin zu pfeifen? Husaren, nehmt den Kerl fest!« Dies geschah, als der Missetäter eben durch die Tür entwischen wollte, und er wurde drei Tage auf die Hauptwache gesetzt. Den andern Tag soll Goethe gegen Riemer, der es mir mitteilte, bemerkt haben: »Der Mensch hat gar nicht so unrecht gehabt; ich wäre auch dabei gewesen, wenn es der Anstand und meine Stellung erlaubt hätten. Des Anstands wegen hätte er eben warten sollen, bis er außerhalb des Zuschauerraums war.«

Da das kleine Haus überhaupt nur wie ein Familientheater betrachtet werden konnte, so waren gute Sitte und Anstand unerläßlich, namentlich weil die Herzogin Louise das Theater stets mit ihrer Gegenwart beehrte. Auch die Beifallsspenden durften nicht über das Maß gehen. Nur die »Räuber« machten eine Ausnahme von der Regel, die waren vogelfrei; da durfte der Bruder Studio sich etwas erlauben, weil die hohen Herrschaften diese Vorstellung nie besuchten. Einmal aber überschritten sie doch das Maß der Schicklichkeit. Ein großer Teil der Studenten hatte die Röcke ausgezogen, die Bierflaschen kreisten umher; es wurde geraucht und gerade nicht die anständigsten Lieder wurden gesungen. Das war Goethe zu viel, er erhob sich in seiner Loge, die sich unter der fürstlichen im Parterre befand, und mit seiner Donnerstimme rief er: »Man vergesse nicht, wo man ist!« Die Studenten, denen oft Gelegenheit wurde, Goethe in Jena zu sehen,[97] wußten sogleich, daß dieser Zuruf nicht von einem Polizeileutnant kam, und hatten so viel Respekt vor dem Heros, daß sofort die Bierflaschen und Pfeifen verschwanden und die mangelhaften Kostüme in Ordnung gebracht wurden.

Im Jahre 1809, am 30. Januar, machte Goethe abermals den Versuch mit einer griechischen Tragödie: »Antigone«, nach Sophokles frei bearbeitet von Rochlitz. Das Stück war in drei Akte eingeteilt, und die Handlung begann mit dem Verbote Kreons, den Polyneikes zu begraben; für diejenigen aber, die in der griechischen Literatur nicht bewandert waren, hatte man auf der Kehrseite des Theaterzettels die ganze Fabel abgedruckt. Das Publikum war doch in seiner Bildung so weit vorgerückt, daß es solche Stücke mit ansah und mehr oder minder Beifall schenkte.

Auch »Hamlet« wurde wieder hervorgesucht, diesmal aber nach der Schlegelschen Übersetzung. Wolff hatte unter Goethes Anleitung sich schon längere Zeit mit der Rolle des Hamlet beschäftigt, aber obwohl seine Darstellung recht brav zu nennen war, so blieb doch noch manches zu wünschen übrig. Es ist eben eine so schwierige Aufgabe, daß ein Schauspieler sein Leben lang zu tun hat, wenn er diesen wunderbaren Charakter in allen seinen Tiefen erfassen und zur richtigen Anschauung bringen will.

Die neue Einrichtung des »Götz von Berlichingen« wurde am 23. Dezember 1809 gegeben. Wie schon bemerkt, nannte Goethe nun das Stück: »Adalbert von Weislingen, Götzens erster Teil«, den zweiten: »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand«.

Am 24. Februar 1810 kam ein Werk von Zacharias Werner, dessen Talent Goethe außerordentlich schätzte, aufs Repertoire, das trotz seiner Grobheit einen ungewöhnlichen[98] Eindruck aufs Publikum machte und mit großem Beifall aufgenommen wurde. Goethe hatte mit besonderer Vorliebe den »Vierundzwanzigsten Februar«, so hieß das Werk, in Szene gesetzt. Haide (Kunz Kuruth), die Wolff (Trude) und ihr Gatte (Kurt) waren so ausgezeichnet, als ob diese Rollen vom Dichter eigens für sie geschrieben wären. Man konnte gewiß den »Tasso« als eine der allertrefflichsten Vorstellungen nennen, aber diese Meisterbildung der Charakteristik, diese Wahrheit und Natur, mit der höchsten Kunst vereinigt, überflügelte alles, was noch je auf unserer Bühne dagewesen.

Goethe kam, was höchst selten geschah, nach der Aufführung auf die Bühne, um den Darstellern seine Zufriedenheit persönlich auszusprechen. Seine Züge drückten ein stolzes Bewußtsein aus, als er sagte: »Nun sind wir da angekommen, wohin ich Euch haben wollte; Natur und Kunst sind jetzt auf das engste miteinander verbunden.«

Dieser Ausspruch Goethes machte den besten Eindruck auf das gesamte Personal, und die Folge war, daß die Mitglieder mit noch mehr Fleiß und Aufmerksamkeit an ihre Aufgaben gingen und stets das Ganze dabei im Auge hatten.

Das Wolffsche Ehepaar stieg immer mehr in Goethes Gunst: Wolff errang sich nach und nach sein vollkommenes Vertrauen, und Goethe zog ihn öfters bei neuen Unternehmungen auf dem dramatischen Gebiete, namentlich in der Tragödie, zu Rate; diese war auch Wolffs eigentliches Feld, worin er als Darsteller das Beste brachte. Obgleich er auch im Lustspiel viel Gutes leistete, so fehlte ihm doch dazu ein frischer, natürlicher Humor, und wenn er ihn forcierte, wurde er stets krankhaft. Er gehörte nicht zu den genialen Schauspielern, aber sein bedeutendes Talent wurde durch wissenschaftliche Bildung und unermüdlichen Fleiß unterstützt.

Zu Schillers Todestag wurde abermals das »Lied von der Glocke« aufgeführt; Szenen aus der »Jungfrau von[99] Orleans«, »Tell« und »Braut von Messina« wurden dazu gegeben.

Unser Aufenthalt in Lauchstädt war diesmal etwas rentabler gewesen, als der vorjährige, aber doch nicht hinreichend, um die Mühen und Ausgaben genügend zu vergüten; darum wurde beschlossen, die Reisen dahin aufzugeben, sobald man des Kontrakts ledig wäre, der mit dem Jahre 1811 endete, um so mehr, als man bereits von Halle vorteilhafte Anträge erhalten hatte.

Nach unserer Rückkunft erfreute uns im September Iffland mit einem abermaligen Gastspiel. Ihm folgte im Dezember der Kammersänger Brizzi aus München, der mit außerordentlichem Erfolg auftrat und gewiß zu den besten europäischen Sängern jener Zeit gehörte, denn er war zugleich ein trefflicher Schauspieler, besonders was Plastik und Mimik anlangte. Seine Stimme war mehr wohlgebildet als stark und stach deshalb gegen die unseres Stromeyer, in der sich Kraft und Wohllaut vereinigten, bedeutend ab. Als Brizzi zum erstenmal Stromeyers Stimme hörte, sagte er: »Wenn ich dieses Mannes unvergleichliche Stimme hätte, ich sänge damit, wie Orpheus, Tote aus der Erde heraus.«

Die günstigen Resultate, die Goethes Schüler in der deutschen und auch englischen dramatischen Literatur errungen, bestimmten ihn, sich nun auch der spanischen zuzuwenden. Den »Standhaften Prinzen« von Calderon hatte er schon längst ins Auge gefaßt und mit Riemer, Wolff und auch mit mir darüber gesprochen. Ende 1810 wurden die Rollen davon verteilt und die ersten Leseproben in Goethes Wohnung abgehalten. Er war äußerst penibel dabei: Komma, Semikolon, Kolon, Ausrufungs- und Fragezeichen mußten bei der Rezitation streng eingehalten werden; er verlangte fast für jedes dieser Zeichen ein Zeitmaß und bezeichnete deren Länge bildlich so:[100]

–– , ––– ; –––– : ––––– ! –––––– ? –––––––.

Auf diese Weise erlangte er, daß einer wie der andere die Verse sprach, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Es war im Anfang ein fast automatisches Sprechen; als sich aber nach und nach diese Methode entwickelte, welcher Reiz, welch poetischer Schwung trat endlich in der Rhetorik hervor! Musik war sie zu nennen.

Nach vielen Lese- und Theaterproben kam dies treffliche Werk den 30. Januar 1811 zur Aufführung. Die Darstellung schuf ein abgerundetes, hochpoetisches Ganzes; das war der Ausspruch aller anwesenden Kunstkenner. Der Beifall des Publikums war allgemein. Auch die Ausstattung in Dekorationen und Kostümen konnte man würdig nennen. Goethe war über den wahrlich großartigen Erfolg hoch erfreut. –

Die Hallenser, der wackere Reil an ihrer Spitze, hatten schon längst den Wunsch ausgesprochen, die Weimarschen Hofschauspieler in Halle begrüßen zu dürfen. Da aber unsere Verbindlichkeiten mit der Merseburger Regierung erst dieses Jahr sich lösten, so wurde, um dem Wunsche der Hallenser nachzukommen, der Ausweg gesucht, daß wir von Ende Juni bis zum 6. August jede Woche drei Vorstellungen in Lauchstädt und eine in Halle gaben. Von da ab siedelten wir aber ganz nach Halle über und blieben bis zum 9. September daselbst.

Reil hatte das alte Theater, wo früher die Magdeburger Gesellschaft unter Fabrizius und Hostowsky Vorstellungen gegeben, ganz renovieren lassen, so daß es recht stattlich aussah. Unsere Schauspieler ernteten großen Beifall, und die Kasse reichen Gewinn. Lauchstädt bot gar keinen pekuniären Vorteil mehr, denn in 24 Vorstellungen hatten wir nur 1681 Täler eingenommen, hingegen in Halle bei 32 Vorstellungen 6411 Taler. Dadurch wurde unser Verlust, den wir in Lauchstädt erlitten, nicht allein ausgeglichen,[101] sondern wir brachten noch einen Überschuß von beinahe 4000 Taler zurück. –

Zum Geburtstag der Herzogin Louise wurde 1812 zum erstenmal »Romeo und Julia«, nach Schlegels Übersetzung von Goethe bearbeitet, zur Aufführung gebracht. Goethe ist wegen dieser Bearbeitung heftig angegriffen worden, und nicht mit Unrecht. Mir selbst war es ein Rätsel, was ihn veranlaßt haben konnte, eine so ganz einzige Explosion, wo das Publikum mit einem Schritt in der Handlung steht, sowie den Schluß zu ändern, für erstere ein unbedeutendes Dienerlied hinzusetzen, die letzte Szene zwischen Capulet, Montague und dem Prinzen zu streichen und den Bruder Lorenzo einen Epilog halten zu lassen. Aus dem genialen Mercutio hatte er im ersten Akt einen Dickwanst und Fresser gemacht; die meisterhafte Erzählung von der Fee Mab war weggestrichen, statt dessen seufzte Mercutio nach dem Abendessen; im zweiten Akt aber ließ er den Charakter in seiner Ursprünglichkeit stehen, so daß die ganze Zeichnung dadurch eine Doppelmaske wurde. Auch die höchst ergötzliche drastische Figur der Amme, deren Vorhandensein zum Verständnis des Charakters der Julia so unumgänglich nötig ist, ward in eine ernste, ganz gewöhnliche Dienerin umgewandelt. Aus sicherer Quelle erfuhr ich später, daß eigentlich nicht Riemer, den ich zunächst im Verdacht hatte, sondern hauptsächlich Wolff, auf dessen Urteil Goethe bei dergleichen Unternehmungen viel gab, ihn in der Ausführung dieser sonderbaren Bearbeitung bestärkt, sogar die Umwandlung der Amme und des Mercutio zuerst in Anregung gebracht habe, mit dem Bemerken, daß diese beiden Charaktere die Hauptrollen in den Schatten drängen und das hauptsächliche Interesse des Publikums auf sich ziehen könnten. Das wäre allerdings geschehen – denn Wolff paßte nicht zum Romeo, noch seine Frau zur Julia – wenn unsere vortreffliche Beck statt Fräulein Engels die[102] Amme in ihrer Ursprünglichkeit dargestellt und Unzelmann den Mercutio hätte spielen dürfen, wie ihn Shakespeare gezeichnet hat. Ferner wurde von der Kritik sehr getadelt, daß Goethe den Diener Romeos, Baltasar, in einen jungen Pagen umgewandelt hatte, den er eine lange Beschreibung von Julias Leichenbegängnis halten ließ, statt die einfache Nachricht ihres Todes, wie sie im Original steht, Romeo mitzuteilen.

Außer der Balkonszene im ersten Akt, den sprudelnden humoristischen Reden des Mercutio im zweiten Akt und den Monologen des Bruders Lorenzo, den Graff vortrefflich spielte, wurde nur wenig applaudiert.

Ein zweites Werk von Calderon kam am 30. März aufs Repertoire: »Das Leben ein Traum«, nach der Griesschen Übersetzung von Riemer bearbeitet; diese Vorstellung hatte sich eines weit größeren Beifalls zu erfreuen als »Romeo und Julia«. Vor unserem Abgang nach Halle kam noch Körners »Toni« zur Aufführung und fand bei dem Publikum vielen Anklang.

Als wir am 1. September von Halle nach Weimar zurückgekehrt waren, übergab ich Goethe ein allerliebstes, zweiaktiges Lustspiel von Dr. Müllner, welches mir dieser in Halle übergeben hatte, um es Goethe zur Aufführung zu empfehlen: »Die Vertrauten, oder: Die Braut vom Rock des Königs«. Müllner hatte den Stoff einer alten französischen Oper entnommen, jedoch in so allerliebste Verse eingekleidet, daß das Stück allgemein gefiel. –

Von dramatischen Werken lag nichts Neues vor, und so wurde diesmal (1813) zum Geburtstag der Herzogin die Oper »Agnese« von Pär in italienischer Sprache gegeben, worin die Jagemann als Agnese, Stromeyer als deren Vater und Deny als Irrenarzt ganz vortrefflich ihre Aufgaben lösten.[103]

Brizzi hatte durch sein Gastspiel im Jahr 1811 auf das männliche Opernpersonal sehr wohltätig gewirkt. Der Hof, weniger das Publikum, fand an italienischen Opern in ihrer Ursprache Geschmack, und man dachte daran, auch die Mozartschen Opern im Urtext zu geben. Mit dem »Don Juan« wurde der Anfang gemacht.

Eine abermalige Aufforderung rief uns auch dies Jahr nach Halle. Die Teilnahme des Publikums war aber trotz eines trefflichen Repertoires sehr gering, denn jedermann blickte mit großer Besorgnis in die Zukunft. Die Schlacht von Lützen war geschlagen, und die Franzosen hatten gesiegt. Obwohl man es an der alten Gastfreundschaft nicht fehlen ließ, so herrschte doch in allen Kreisen der Gesellschaft eine gedrückte Stimmung.

Nach Weimar zurückgekehrt, gaben wir am 4. September zum erstenmal den »Don Juan« in italienischer Sprache. Man hatte zum Studium dieser Oper die freien Sommermonate benutzt, und da die Jagemann und Stromeyer nicht liebten, zu Hause zu studieren, so wurden nicht weniger als 60 Klavierproben dazu verwendet. Die Besetzung war teilweise eine andere geworden. Statt Unzelmann sang Stromeyer den Don Juan ganz vortrefflich, spielte ihn aber schauerlich. Die hervorragendste Leistung war die der Jagemann, welche die Donna Anna ganz ausgezeichnet sang und spielte.


*


Hier schließe ich die Mitteilungen meines Vaters über diese drei Epochen und berichte, da ich bald selbst bei der Weimarschen Bühne als Mitglied eintrat, aus eigener Anschauung alle weiteren Vorkommnisse bis zum Jahre 1817, in dem Goethe von der Leitung des Weimarschen Theaters zurücktrat.[104]

Quelle:
Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Stuttgart 1919, S. 91-105.
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