In St. Petersburg.

[27] Einer Einladung der allverehrten Großfürstin Helena folgend, begab ich mich zu Anfang des schicksalschweren Jahres 1870 nach der russischen Haupt- und Residenzstadt. Ich sollte dort eine Reihe von Concerten nach deutscher Art leiten, die sich der besondern Gunst und Unterstützung jener hochherzigen Frau zu erfreuen hatte. – Ein schöner Saal, ein vortreffliches Orchester, ein wohlklingeder Chor, ausgezeichnete Solisten, ausreichende Proben – alles lief glatt und glücklich ab. Auch sind es keineswegs jene musicalischen Thaten, die mich veranlassen, die Feder zu ergreifen, ebensowenig will ich von der vielbeschriebenen Stadt und ihren Herrlichkeiten sprechen – die Erinnerung an so manche eigenthümliche Menschen und Erlebnisse ist es, die mich zur Mittheilung reizte, und unwiderstehlich wurde die Anregung durch das Wiedersehen eines der liebsten Freunde, die mir dort geblieben, des vortrefflichen Tonkünstlers, des unübertrefflichen Violoncellisten Karl Davidoff, der in den letzten Tagen hier durch seine vollendeten Leistungen alle Welt begeisterte und mir jene interessanten Tage aufs lebhaftes zurückrief.

Die eminente Frau, deren freundlicher Ruf mir so viel Gutes und Schönes brachte, ist nicht mehr unter den Lebenden. Wie viele[28] nie aufhören werden, ihren Hingang zu beklagen, ihrer in dankbarer Liebe zu gedenken! – Tausende und Abertausende. Unermüdlich war sie in ihrer Güte – eben so leidenschaftlich bemüht, Leid zu lindern als Edles zu fördern. Einer wohlthätigen Fee gleich, hauste sie in ihrem Zauberschlosse – nichts lag ihr zu fern, nichts übersah sie in der nächsten Nähe – die Anmuth ihrer Aufmerksamkeit hatte etwas geradezu Bestrickendes. Täglich (ich wohnte im Schlosse) hatte ich Gelegenheit, es zu beobachten, andern und mir selbst gegenüber.

Schon bei meinen Eintritt ins russische Reich empfand ich ihren wohlwollenden Einfluß. Von Königsberg bis zur Grenzstadt, Wirballen, wo Paß- und Zollvisitation, war ich allein im Waggon – ich fühlte mich sehr vereinsamt und dachte mit Sehnsucht nach Hause. Kaum war ich eingetreten in die stattliche, mit sauber uniformirten Beamten angefüllte Halle, als aus der Mitte der Zollrevisoren mein Name aufgerufen und mir von einem netten jungen Herrn mitgetheilt ward, Ihre Kaiserliche Hoheit die Großfürstin Helena lasse mich wissen, daß am folgenden Abend ein Wagen bereit stehen werde, um mich nach den Palais zu bringen. Er sei beauftragt, zurück zu telegraphiren – was? frug ich – »ob oder daß ich angekommen sei.« Mein großer Koffer wurde mit ehrerbietiger Scheu leicht beklebt, jenseit der Zollschranke getragen, die Beamten wichen mir fast aus vor lauter Respect und ich war längst im Wartesaal an dem luxuriösen Buffet beschäftigt, als die andern Reisenden noch kaum zu ihren Habseligkeiten gelangt gewesen sein mögen. Privilegien sind sehr angenehm für die, die ihrer theilhaftig; deshalb erregen sie auch solchen Widerspruch. Kein Zweifel, daß der so weithin wirkende, Ehrfurcht gebietende Einfluß jenes Hofequipagentelegramms ein beabsichtigter war – ich empfand ihn doppelt dankbar. Während der folgenden vierundzwanzigstündigen Fahrt wurde ich weder müde noch ungeduldig (es ist ja hauptsächlich die Ungeduld, die ermüdet!) und fand bei meiner Ankunft nicht nur den angekündigten Wagen, sondern auch den Secretär der Fürstin, Herrn Freimann, und den Secretär des Conservatoriums, Herrn Klimtschenko. Wir fuhren nach dem Palais Michael, wie er bezeichnet wird nach dem Namen des verstorbenen[29] Gemahls der Fürstin, Bruder des Kaisers Nikolaus. Ich fand eine Wohnung, wie ich sie nicht erwarten durfte – reich ausgestatteter Salon, Musikzimmer mit einem Bechstein'schen Flügel, Arbeitscabinet u.s.w. »Die Großfürstin habe alles persönlich geordnet,« sagte Herr Freimann, der mein Abendmahl theilte. Bis gegen Mitternacht leisteten mir die freundlichen Herren Gesellschaft und ich fühlte mich heimisch, ehe ich noch eine Straße betreten hatte.

Am folgenden Tage empfing mich die Großfürstin. Schon in vorgerückten Jahren zeigte sie, trotz allem Herzeleid, das sie erfahren, die unvertilgbaren Züge ihrer einst so gefeierten Schönheit. Bestechend durch die freundliche Milde ihrer lebhaften Physiognomie, deren heiterem Ausdruck oft eine Dosis feiner Ironie beigegeben war, imponirte sie durch die hohe Haltung ihrer schlanken, ungebeugten Gestalt. Ihr Gang hatte etwas Schwebendes, ihre Bewegungen waren weich trotz der Entschiedenheit ihres Wesens – die weiße feine Hand erinnerte in ihrer Durchgeistigtheit an die des Heilandes auf dem Zinsgroschenbilde Titian's. Wie es in jenen Kreisen vielfach üblich, bediente sie sich abwechselnd des Deutschen und Französischen – sie sprach mit großer Lebendigkeit – wenn sie aber auf Gegenstände kam, die sie tiefer berührten, erhielt ihre Ausdrucksweise etwas eigenthümlich Nachdenkliches, – zuweilen hatte sie Töne, die einem gepreßten Herzen zu entströmen schienen. – In so vielfachen Beziehungen sie mir ein huldvolles Wohlwollen bezeigte, nichts hat eine so dankbare Erinnerung in mir hinterlassen, als die Stunden, in welchen sie mir erlaubte, allein ihr gegenüber mich ihres Gespräches erfreuen zu dürfen. Sie erging sich dann über alles Mögliche – und oft fielen mir seitdem die Worte ein, mit welchen sie eines Tages die Unterhaltung beendigte: »so unendlich viel ist zu thun bei uns!«

Eine allgemein und aufrichtig empfundene Verehrung war ihr geweiht – wie hoch und tief ihr segensreicher nachhaltiger Einfluß gehe, wurde mir oft von hochstehenden Persönlichkeiten angedeutet. Leider war ihr Gesundheitszustand nicht der beste und oft war sie genöthigt, sich zurückzuziehen oder auch geplante Veranstaltungen fallen[30] zu lassen, weil sie sich der Ermüdung derselben nicht gewachsen fühlte. Wo sie aber war, ging sie mit der Lebhaftigkeit ihrer Theilnahme, ja, mit dem Enthusiasmus, den namentlich Musik bei ihr erweckte, Allen voran.

Sie hatte den Ruf, äußerst wählerisch zu sein betreffs ihrer Umgebung und der Personen, die sie zu sich berief – der frivolere Theil der Petersburger Gesellschaft schien ihren Kreis als einen etwas prüden, blaustrümpfigen anzusehen, während Parteilose behaupteten, er enthalte das Beste vom Besten dessen, was sich in der Hauptstadt befinde. Große Gesellschaften schien sie nicht zu lieben – eine kleinere Anzahl Gäste sah sie oft, sowohl zu Tische als am späten Abend. Oft wurde, wenn auch nie allzuviel, musicirt. Um es Andern und sich selbst zu erleichtern, war die liebenswürdige, schon betagte Palastdame, Fürstin Levoff, angewiesen, allwöchentlich einen Empfangsabend abzuhalten, wo man noch zu später Nachtstunde eintreten durfte und auf welchem die Großfürstin, je nachdem, kürzere oder längere Zeit, auch wohl gar nicht erschien – man bewegte und unterhielt sich dort in, wenn auch leise auftretender, doch höchst schlichter, ja, gemüthlicher Weise. Ich bin nicht sicher, ob es sich schickt – aber ich wage es immerhin, hier zweier weiblichen Gestalten zu gedenken, die jene Kreise zierten, ja, verherrlichten – die junge Baronesse Edith von Rahden, die rechte Hand der Großfürstin, anmuthig, geistreich, von vielseitigster Bildung und edelster Herzensgüte, – die Prinzessin Katharina von Mecklenburg, Tochter der Großfürstin, von strahlender Schönheit und bezaubernder Leutseligkeit.

Die einzige echte Hoffeier, der ich im Palais Michael beiwohnte, hatte am Geburtstage der Großfürstin statt. In den großen Prachtgemächern bewegte sich eine unübersehbare Zahl von besternten Uniformen, die sich, als die Ankunft der Großfürstin verkündet wurde, in Reihe und Glied stellten – jedoch ohne alle besondere Anordnung, was schon daraus hervorgeht, daß ich neben den Kriegsminister zu stehen kam. Die Fürstin schritt an den langen Linien langsam vorüber – die Hand zum Kusse reichend und einige Worte an den[31] Einen oder Andern richtend. Von da begab man sich in einen Saal, von welchem aus der Einblick in die nebenanliegende Capelle ermöglicht war – es erschien dort die ganze kaiserliche Familie und die Messe wurde gefeiert. Nach dem Ende derselben verschwand die Großfürstin, von dem Zaren und den Seinen begleitet, ins Innere der Gemächer, die Gratulanten aber vertheilten sich an den Tischen im Speisesaal, an welchen jeder sich nach Herzenslust stärkte in Gesellschaft derer, die Zufall oder Wahl ihm nahe brachten. Nirgends kann es ungezwungener zugehen, wenn man nicht unter Ungezwungenheit Ungebundenheit versteht.

Man weiß, wie viel die Großfürstin für Anton Rubinstein gethan – sie hat aber auch viel Freude von ihm gehabt und an ihm erlebt. Nie habe ich ihn schöner spielen hören, als eines Abends, kurz nach meiner Ankunft, an welchem seine hohe Gönnerin einen glänzenden Kreis bei sich versammelt hatte, um ihm, vor seiner nahen Abreise ins Ausland, noch einmal zu huldigen. Wenige Tage vorher hatte der geniale Künstler sein Abschiedsconcert – es war mein erster Ausgang gewesen. Manche Vereinigungen in der künstlerischen wie in der vornehmen Welt fanden vor seiner Abreise statt, und ich konnte sehen, wie hoch man ihn hielt. Auch einem sehr heitern Balle wohnte ich bei, den er im Hôtel Demuth der für ihn schwärmenden Jugend zum Besten gab.

Im Schlosse wohnten gar manche im Hause der Fürstin in vielfacher Weise thätige Persönlichkeiten, mit einigen derselben wurde ich näher bekannt. Der schon genannte Secretär Freimann, ein prächtiger, lebendiger Mann, der seinem Namen Ehre machte – auch zum Friedensrichter war er kürzlich gewählt worden und hatte gerade damals dem Diener Wieniawski's gegen seinen Herrn recht gegeben, zur großen und lustigen Unzufriedenheit des letztern, – der kenntnißreiche Dr. Becker, Bibliothekar der Großfürstin, – ein paar jugendliche, gewandte, gesprächige und anziehende Vorleserinnen – der junge fertige Pianist Jos. Rubinstein, mit dem ich zuweilen musicirte (er ist in den letzten Jahren durch seine Beziehungen zu R. Wagner bekannt geworden). – Ueber Allen der Arzt Dr. Eichwald,[32] durch Geist und Beredsamkeit imponirend, jetzt an der Spitze der deutschen medicinischen Schule in Petersburg stehend. Am häufigsten verkehrte ich mit einem sehr jungen Diener, Theodor, der mir verliehen worden war, weil er ein paar Dutzend französischer Wörter auswendig gelernt hatte – mit Hülfe derselben und möglichst klarer Pantomimen gelang es mir, mich hinreichend mit ihm zu verständigen; ein allerliebster, gewandter Bursche, den ich immer gern in mein Zimmer treten sah.

Von der vorsorglichen, zarten Aufmerksamkeit der Großfürstin muß ich wenigstens eine kleine Geschichte erzählen. Bekanntlich sind Einladungen kaiserlicher Persönlichkeiten Befehle, und die hohe Gesellschaft in Petersburg, wo es fast ein Dutzend derselben gab, weiß davon zu erzählen. Die Einladungen zur Tafel erfolgten damals zumeist erst zu später Stunde, für denselben Tag – und oft genug mußten gastfreundliche Aristokraten ihre Gäste sich selbst überlassen, um dem Rufe eines der Fürsten Folge zu leisten. Als der Kreis meiner Bekannten sich vergrößert hatte, erschien eines Morgens ein ungeschmückter Kammerdiener bei mir und frug mich gemüthlich, ob ich für den Tag zu Tische geladen sei – ich bejahte seine Frage. Am folgenden Morgen wiederholte sich das kurze Zwiegespräch. Als nun am dritten Tage ein ähnliches Kundschaften statt hatte, antwortete ich, nicht ganz der Wahrheit gemäß, ich sei frei. Nach Verlauf einer Viertelstunde kam nun der uniformirte Hoffourir, um mich zur Tafel zu laden. Die Fürstin wollte nicht störend eingreifen in meine Beziehungen, und nun brachte mich der Zufall mit vier russischen Fürsten zusammen – für einen städtischen Capellmeister eine höchst exclusive Gesellschaft. – Während meines Aufenthalts erschien auch im Schlosse ein Landschaftsmaler M., welcher seit zehn Jahren in Italien gelebt und gearbeitet hatte – er verdankte der Hochherzigkeit der Fürstin die Mittel zur Ausbildung seines Talentes. Das Deutsche schien seine Muttersprache und wir verkehrten als Künstler und Landsleute mit einander. Wie sehr war ich verwundert, als er eines Abends in aufgeregter Stimmung seinem ganzen Hasse gegen die Deutschen der Ostseeprovinzen Luft machte! Er war ein geborener[33] Lette, und für die Begebenheiten, die in diesen letzten Zeiten sich in jenen Landen abspielen, erscheinen mir jetzt seine fanatischen Aeußerungen fast prophetisch.

Durch die gütige Vermittlung der Großfürstin und des wohlwollenden Prinzen Reuß, damals Gesandter am russischen Hofe, erhielt ich eine Einladung zu einem Hofball im Winterpalast. Ein glanzvolleres Fest ist kaum denkbar. Die Größe und Pracht der Säle, die strahlende Beleuchtung, die von Gold strotzenden Uniformen – die kostbaren Gefäße, die auf der kaiserlichen Tafel prangten – es hatte etwas Berauschendes. Dazu kam, daß ich Sensation machte – es gibt so viele Arten, sich auszuzeichnen! – ich war nämlich der einzige Mensch in schwarzer Kleidung! Das Außerordentlichste war, daß für sämmtliche Eingeladenen (es waren deren zwischen zwölf-und dreizehnhundert) Tafeln bereit waren, an welchen man das Souper sitzend einnahm. Der Gerichte waren nicht sehr viele, sie waren aber auserlesen – unter andern Leckerbissen wurden Spargel servirt – Spargel für 1200 Menschen, in Petersburg, im Januar! Der größere Theil der Gäste nahm Platz, wo er welchen fand – ich folgte einer großen Anzahl von Generälen und andern höhern Officieren, die sich nach einer endlosen Galerie begaben, deren Wände von den Bildnissen militärischer Größen bedeckt, speciell den Männern des Krieges gewidmet zu sein schien. Dort nahmen mich ein paar Generäle freundlich in ihre Mitte. Gegen Schluß des Mahles bemerkte ich am äußersten Ende der Galerie große Bewegung – ich konnte aber Näheres nicht unterscheiden und frug meinen Nachbar nach dem Grunde. »Es ist der Kaiser,« wurde mir erwidert, »der seine Gäste begrüßt.« Langsam schritt der Zar, Alexander II., die Galerie herauf, ohne irgendwo zu verweilen – man erhob sich, wenn er sich näherte und blieb stehen, bis er vorüber – es mochten immer einige zwanzig Männer auf jeder Seite sein, die zu gleicher Zeit ihre stumme Huldigung darbrachten. Des Kaisers edle Züge hatten einen leidenden, fast melancholischen Ausdruck – er hielt das Haupt geneigt, sah nach den Gästen hin, ohne, wie mir schien, Einzelne auszuzeichnen – am obern Ende der[34] Galerie angelangt, verschwand er, wie eine Erscheinung aus einer andern Sphäre. Mir machte dieses Schauspiel vorwiegend einen ernsten Eindruck. – Heiter berührte mich jedoch am folgenden Tage die Gratulation, die mir seitens Wieniawski's gebracht wurde. Meine Vorstellung beim Kaiser und meine Gegenwart auf dem Balle, die er in der Zeitung gelesen, waren, seiner Aussage nach, unerhörte Dinge bei einem Tonkünstler. Ich frug mich leise, ob es für einen Musiker nicht schmeichelhafter sei, zum Spielen als zum Tanzen berufen zu werden, wenn ich mir auch den Genuß des letztern nicht gestattet hatte.

Noch muß ich auf Tonkünstlerisches innerhalb der höchsten Kreise zurückkommen – vor Allem auf eine Matinée bei dem Großfürsten Konstantin, der ein gewandter Violoncellist ist und es nicht verschmäht, im Orchester seinen Platz einzunehmen. An jenem Morgen wurde in seinem Musiksaal die Messe von Rossini, welche damals in der Mode war, aufgeführt, mit vollem Chor und Orchester – unter den Solisten befand sich Adeline Patti. Die Anzahl der Zuhörer mochte den vierten Theil der Ausübenden erreichen – ein Verhältniß, das selten eintritt; unter den erstern befand sich die Kaiserin, die Großfürstin Helena und andere Glieder der kaiserlichen Familie – unter den letztern sah man den Großfürsten Konstantin als einzigen Dilettanten. Da die Messe zu jener Zeit auf dem Repertoire der italienischen Oper stand, konnte sie ohne Proben leicht gegeben werden – immerhin mag die Aufführung das Zehnfache gekostet haben von dem, was seine Missa solemnis Beethoven jemals eingetragen hat.

Bei der Großfürstin wurde, wie schon erwähnt, öfters im kleinsten Kreise musicirt – ich spiele dort mit den trefflichen Freunden Auer und Davidoff, die hochbegabte Lawrowsky sang, wohl die erste russische Vocalistin. Eines Abends gab der deutsche Gesangverein, von tüchtigen Begrow dirigirt, eine Reihe von Chören zum Besten – aber hier muß ich noch einer lustigen Geschichte gedenken.

Jeden gesellschaftlichen Talents ermangelnd, habe ich mir durch eine lange Reihe von Jahren durchgeholfen mit dem pianistischen Begleiten recitirter Gedichte; es amüsirt die Leute, denn sie errathen[35] Tact für Tact, was die Musik ausdrücken soll. Auch bei der Großfürstin hatten wir mehrfach Versuche dieser Art gemacht – ein paar Mal war es Dr. Becker, am öftersten jedoch Baronesse von Rahden, welche die Freundlichkeit hatte, den declamatorischen Theil zu übernehmen. Sie las vortrefflich, mit dem wohlklingendsten Organ, mit Geist und Empfindung – aber selbstverständlich wählte sie vorzugsweise rein lyrische Stücke – die dramatische Ballade wollte sie sich nicht zutrauen. Um jene Zeit war der begabte Fritz Devrient, ein Sohn der unvergeßlichen Schröder-Devrient, am deutschen Theater in Petersburg angestellt. Nach einer etwas stürmischen Jugend in Wiesbaden hatte er sich in der russischen Hauptstadt der lobenswerthesten bürgerlichen Tugend zugewendet, eine behagliche Witwe geheirathet und ein ruhiges Leben begonnen. Talentvoll, wie ein Devrient, jung und schon durch seine Erscheinung anziehend, hielt ich ihn für ganz besonders geeignet, mir beizustehen. Er kam zu mir, wir verständigten uns aufs Beste – leicht überwand ich auch ein kleines Bedenken der Fürstin. Doch ich hatte mich leider getäuscht. Der gute Fritz, angeregt durch den kleinen, aber auserlesenen Zuhörerkreis, wollte allzusehr sein Bestes thun und that des Guten zu viel. Sich stimmlichen Kraftausbrüchen hingebend, wie wenn er als Karl Moor zu seinen Räubern spräche, machte er die Wände des kleinen Saales erbeben und das kleine Publicum hüllte sich in tiefes Schweigen. »Mir gefiel es mit der Rahden besser,« lispelte die Großfürstin – »auch mir, Hoheit,« erwiderte ich etwas beschämt.

Mein Bericht wird leider bei dem armen Fritz keine unangenehme Erinnerung erwecken – denn er ist längst nicht mehr. Seine Petersburger Tugend bekam ihm schlecht, er kränkelte und verschied nach wenigen Jahren.

Der russische Kirchengesang oder besser die Kaiserliche Capelle ist durch ihre Leistungen berühmt. Der Chef, nicht Dirigent derselben, Baxmetieff, lud mich ein, einer Probe beizuwohnen, bei welcher ich ausschließlich der Musik mich widmen konnte. Die Leute sangen vortrefflich in jeder Beziehung – eine eigenthümlich wirkende Kraft liegt in den ultratiefen Baßstimmen, die im Verhältniß der[36] Contrabässe zu den Violoncellen, wenn auch nicht in solcher Ausdehnung, die normalen Singbässe vielfach in der Octave verdoppeln – das Contra C hört man, rein und voll, von einem halben Dutzend Sarastros angeschlagen. Noch feiner, ausgearbeiteter, reicher an Schattirungen, sang die Privatcapelle eines der reichsten Unterthanen des Zaren, die des Grafen Cheremetieff. Auch hier waren die Zuhörer sparsam vertreten, Herr Zaremba, Director des Conservatoriums, und meine Wenigkeit. Mit echt russischer Gastfreundschaft hatte der Graf eine Morgenmusik für uns beide in seinem großartigen Hôtel angeordnet. Leider ist diese musicalische Zierde Petersburgs seitdem verschwunden – die Capelle ist, aus mir unbekannten Gründen, aufgelöst. Leben wir doch in einer Zeit der Auflösungen, und leider sind es nur allzu oft Consonanzen, die sich in Dissonanzen verwandeln.

Erstaunlich viel geschieht bekanntlich in der russischen Hauptstadt für das Theaterwesen, das einen kosmopolitischen Charakter trägt und aus der kaiserlichen Staatscasse enorme Subventionen erhält. Es finden sich dort italienische und russische Oper, deutsches, französisches und russisches Schauspiel, das Ballet nicht zu vergessen. Während die italienische Oper, wie überall in nördlicheren Regionen, ein hocharistokratisches Gepräge trägt, konnte man sich im deutschen Theater in eine kleine Stadt des Vaterlandes versetzt träumen – es sah da recht bescheiden, ja, spießbürgerlich aus – jedoch befanden sich unter den Mitgliedern manche ausgezeichnete Mimen. Die russische Oper zog mich natürlich am meisten an, und doch gelang es mir nur zwei Mal, sie zu besuchen – das erste Mal unter einigermaßen erschwerenden Umständen. Ich hatte schon (es war am ersten Tage meines Aufenthalts) ein Concert Rubinstein's, ein großes Künstlerbankett beim Pianofabricanten Becker und allerlei drum und dran durchgemacht, als man mir vorschlug, die Oper Rogneda von Seroff zu hören – ich war zu Allem bereit. Aber darauf war ich nicht vorbereitet, daß der Zufall mir den Componisten zum nächsten Nachbar bescheren werde. Kaum läßt sich etwas Unbehaglicheres denken, als ein Werk neben dem Autor desselben anzuhören – vielleicht wäre[37] es das, ein eigenes in der unmittelbaren Nähe einer Autorität zu genießen. Doch muß ich Seroff das Lob spenden, daß er mir meine Aufgabe nicht allzusehr erschwerte. Er war nicht mehr jung (etwa ein Fünfziger) – eigentlich Staatsrath oder dergleichen, wie die meisten russischen Componisten – freundlich, wenn auch von ernstem Wesen, beredt und gewandt. Vielfach als Kritiker thätig, hatte er als Componist sich der Wagner'schen Weise zugewendet, was denn auch in seiner Musik hervortrat, nicht zum Vortheil derselben. Man mag Richard Wagner noch so hoch stellen – er ist zu individuell, um Schule zu machen. Ohne Talent war Seroff sicherlich nicht – die Eindrücke, die ich vielleicht gehabt hätte, wurden jedoch zu sehr durchkreuzt durch seine Erklärungen und die fremde Sprache. Besser erging es mir bei der Aufführung von Glinka's berühmter Oper: »Das Leben für den Zar,« die einige Stücke enthält, welche auch den Nichtrussen erfreuen und ergreifen können. Nur wirken die vielen nationalen Gesänge, russische wie polnische, auf den Ausländer ermüdend. Die Aufführung war, namentlich was den vocalen Theil betrifft, vorzüglich, und ich konnte mich überzeugen, daß die russische Sprache sich dem Gesange vortrefflich eignet. Ob nun die neurussische Schule, deren rühmenswerthe Tendenzen Herr Cäsar Cui, Oberst im Generalstabe, in seinem Buche »Die Musik in Rußland« verkündet hat, sich eine Stelle in der allgemeinen musicalischen Welt erobern werde, bleibt abzuwarten. Was ich später in einem Concert der slawischen Gesellschaft unter Leitung des feurigen, energischen Balakireff gehört, enthielt zwar manches Wirkungsvolle, schien mir aber selbst für avancirtere musicalische Seelen als die meine nicht leicht verdaulich.

Unter den der kaiserlichen Familie angehörigen hohen Persönlichkeiten war es der deutsche Prinz Peter von Oldenburg, der sich mit nachhaltigem Eifer deutscher Dichtung und Tondichtung widmete – für letztere hatte er an dem eminenten Clavierspieler und Componisten Ad. Henselt einen unermüdlichen Rathgeber, eine Art von musicalischem Factotum gewonnen. Von den Compositionen des Prinzen ist eine sehr große Anzahl veröffentlicht worden und Mancher[38] wird sich erinnern, zur Zeit auf den Programmen der deutschen Curortsconcerte seinen Namen gefunden zu haben, namentlich wenn er anwesend war. Nicht leicht wird man aber einem Manne begegnen von größerer Herzensgüte – von verbindlicherem Wohlwollen – stets bereit, zu thun, was Andern angenehm sein konnte; manches interessante Erlebniß habe ich ihm zu danken. Er war, ich weiß nicht mehr, unter welchem besondern Titel, den Universitäten, den Kaiserlichen Erziehungsanstalten, Hospitälern und was allem noch vorgesetzt. Das Clavierspiel wird in den Kaiserlichen Pensionaten mit ganz besonderer Vehemenz gepflegt – die Oberaufsicht darüber war schon damals und liegt noch heutigen Tages in den Händen Henselt's. Im Nikolai-Institut fand ich eine unendliche Reihe nur für die Clavierübung angelegter Zellen – siebenzig Flügel waren dort aufgestellt – auch in der Waisen-Erziehungsanstalt (für die Töchter von Officieren und höhern Beamten) waren ähnliche Vorkehrungen getroffen. Wie viel Talent die Russinnen für diesen Zweig musicalischer Ausübung besitzen, davon wissen unsere deutschen Concertgesellschaften zu erzählen. Eine höchst anmuthige Erinnerung ist mir von dem Besuche eines in einiger Entfernung von Petersburg sich befindlichen weiblichen Erziehungsinstituts geblieben, das in den Räumen eines kolossalen Klosters, Smolna genannt, seinen Sitz hat. Prinz Peter führte mich dort ein – die Vorsteherin, Frau Leontiew, eine uralte, aber noch lebendige, gesprächige, ja, vornehme Dame, machte die Honneurs. Im großen Saale wimmelten einige Hunderte junger Mädchen, worunter viele reizende Gestalten. Man spielte allerliebst Clavier – fesselnd aber war es, eine Anzahl slavischer Volkslieder zu hören, die, für weiblichen Chor gesetzt, so frisch und rein gesungen wurden, daß es herzstärkend wirkte.

»Würde es Sie nicht interessiren, unser neuestes Krankenhaus, das Alexander-Hospital, in Augenschein zu nehmen? Wir haben in demselben alle Verbesserungen und Einrichtungen der neuesten Zeit benutzt,« sagte der Prinz eines Abends zu mir. Es versteht sich, daß ich die Frage bejahte, und zwar nicht nur, weil sich das von selbst verstand. Und doch muß ich noch heute lächeln, wenn ich[39] mir jenen Besuch vergegenwärtige. Der Prinz hatte sich ansagen lassen – wir fuhren in ziemlich früher Morgenstunde hin – die Angestellten erwarteten Seine Hoheit im vollsten Glanze ordensbedeckter Uniformen. Er stellte mich vor, und mein Doctortitel ließ den Herren keinen Zweifel, daß sie es mit einem angesehenen Arzte zu thun hätten. Ich durfte sie der Höhe dieser Anschauung nicht entreißen und führte meine medicinale Besichtigung, wie mir schien, mit der nöthigen Würde durch, hier und da eine nicht compromittirende Frage und Bemerkung an den Einen oder Andern richtend. Uebrigens mußte die Einrichtung auch einem Laien imponiren – namentlich setzte mich die Ventilation in Erstaunen, denn auf einem langen Gange, auf welchem man fortwährend in die offenen Schlafstätten der Genesenden blicken konnte, athmete man die reinste, lindeste, eine wahre Frühlingsluft.

Henselt war mit mir in einigen jener Institute, deren musicalische Thätigkeit unter seinem Scepter sich entfaltet. Seit seinem ersten großen Triumphe in München, vor etwa fünfzig Jahren, hatte ich ihn nicht wieder gesehen. Eigenthümlich hatte er sein Leben geführt. Gegen Ende der dreißiger Jahre gab er in Petersburg Concerte mit so außerordentlichem Erfolg, daß sie für seine Zukunft entscheidend wurden – im Hände-Umdrehen oder besser im Hände-Umgarnen, -Umstricken hatte er sich die glänzendste Stellung erobert. Im Gegensatz aber zu andern Eroberern hielt er sich von erneuten Kriegszügen fern und verzichtete auf alle Kunstreisen, Concertveranstaltungen und dergleichen – ich glaube kaum, daß er je wieder öffentlich aufgetreten ist. Lehrer am kaiserlichen Hofe, befreundet mit dem Prinzen von Oldenburg, für den er viel gethan und der es ihm dankbar lohnte, von seinen zahlreichen Eleven geliebt und bewundert, begnügte er sich damit – zu leben, wie es ihm gefiel, was schließlich gar nicht so übel. »Es sei eben so schwer, ihn zu sehen wie zu hören«, wurde mir gesagt – ich habe das glücklicher Weise nicht gefunden – doch von allem öffentlichen Musikleben hält er sich gänzlich fern. Am frühen Morgen und am späten Abend heilgymnastischen Studien obliegend, füllt er die Zwischenzeit aus, wie[40] es seine Stellung erheischt und seine Neigungen es ihm wünschenswerth machen. Die Petersburger russo-gallische Eleganz hat ihn nicht berührt – er ist sehr das geblieben, was wir, wenn auch allzuhäufig ohne Grund, deutsch nennen, nämlich schlicht, wahr und möglichst unabhängig. Der, leider nur allzu seltene, Verkehr mit ihm war mir künstlerisch und persönlich aber so angenehm wie interessant – sein großes Talent bewunderte ich mit Freuden. Unter vier Augen kamen wir zu sehr in gegenseitiges Musiciren – einen vollständigen Eindruck gewann ich erst, als er, nach einem Diner im Familienkreise des Prinzen Peter, sich ans Piano setzte und mehr als eine Stunde an demselben verweilte. Der schöne volle, gesättigte Ton, die edle Vortragsweise, das Verschwinden jeder Frage nach der Technik, alles das und vieles, was noch hinzuzusetzen wäre, wirkte wahrhaft wohlthuend auf mich – es ist beklagenswerth, daß der Genuß eines derartigen Talents der musicalischen Welt, seit sie daran genippt, entzogen worden ist. Sollten diese Zeilen den trefflichen Künstler vor die Augen kommen, so betrachte er sie als einen herzlichen Abschiedsgruß – schwerlich werden wir uns diesseits nochmals begegnen.

Wer sollte glauben, daß Petersburg, das doch seine Tonkünstler großartiger belohnt als irgend eine andere Weltstadt, ihnen, wenigstens zeitweilig, den Wunsch gäbe, sich zurückzuziehen. So hatte auch der eminente Violoncellist Davidoff, vor seinem gegenwärtigen Besuche Deutschlands, sich ein neunjähriges Schweigen auferlegt. Er hatte freilich auch seine Laufbahn mit Schweigen begonnen. Zum Mathematiker erzogen, dem aber die angewandte Mathematik der Töne über Alles ging, war er, halb ein Jüngling, nach Leipzig gekommen, um sich zu M. Hauptmann in die Lehre zu begeben. Vom Concertmeister David gelegentlich befragt, ob er sich keinem Instrumente gewidmet, gestand er seinen Cultus des Violoncells ein – und als er dann bei jenem sich einfand, um anspruchslos zu musiciren, merkten die Anwesenden, daß man einen der ersten lebenden Virtuosen vor sich hatte – es war das heiterste Erstaunen, das sich denken läßt. Zwanzig Jahre später, während meines Aufenthaltes in der Newastadt,[41] durfte ich mich vielfach seines freundschaftlichen Umganges erfreuen – sein Talent und sein Wesen sind gleichmäßig edel, sympathisch, anziehend und eigenthümlich – die Bescheidenheit des letztern läßt die Bewunderung nicht immer laut werden, die das erstere hervorruft. Auch der jetzt wieder in seinem Vaterlande weilende vorzügliche Pianist Leschetizki trat, so viel ich weiß, während seines Aufenthaltes in Rußland selten in die Oeffentlichkeit – sein Lehrertalent stand aber in dem hohen Ansehen, das es reichlich verdient. Gerade während ich in Petersburg war, verließ Fräulein Esipoff das Kaiserliche Conservatorium, wo sie unter Leitung ihres jetzigen Gatten ihre Studien vollendet hatte – als die vollendete Virtuosin, als welche sie jetzt allgemein anerkannt ist. Hier muß ich noch einer andern Schülerin Leschetizki's gedenken, eines Fräulein Vollberth, die seitdem leider das Zeitliche gesegnet hat. Einer angesehenen Familie angehörig, Dilettantin, war sie eine eben so hervorragende Tonkünstlerin, als es allzu viele von der Gilde nicht sind, die, im schwächlichen Sinne, Dilettanten waren und bleiben.

Auch Henri Wieniawski, der polnische Violinist, verweilte damals noch in Rußland, wo er seit etwa zehn Jahren als Kaiserlicher Sologeiger angestellt war. Seinen Ruf als außerordentlicher Virtuose hatte er schon in seinen Jünglingsjahren gegründet – als Erzähler (als mündlicher) hatte er mich von jeher ergötzt wie kaum ein Anderer. Es mag wohl sein, daß er, wie seine nächsten Freunde behaupten, hier und da seiner Phantasie etwas zu sehr die Zügel schießen ließ – doch konnte man's seinen Geschichten nicht anmerken – sie klangen nicht allein wahrscheinlich, sondern auch sehr unschuldig – der Reiz derselben lag vor Allem in der trocken-lebendigen, fließenden, humoristisch gefärbten Weise, mit welcher er sie vorbrachte. Ich kann mich nicht enthalten, eine derselben wiederzugeben, um so mehr, als sie in Petersburg spielt. Bekanntlich sind den russischen Kunstinstituten, auch der Oper und dem Ballet, meistens Generäle vorgesetzt, ein sicheres Mittel, die strengste Disciplin aufrecht zu erhalten. Nun begab es sich, daß ein Tänzer, der zu gleicher Zeit ein geschickter Geiger war, in einer Pantomime auftreten sollte – zum Vortrag[42] eines darin befindlichen Violinsolos war Wieniawski berufen. Er kam zur Probe, fand aber, daß sein Solo eine Art von Duo mit dem tanzenden Instrumentalvirtuosen sei, weigerte sich zu spielen und verließ das Orchester. Sofort verklagt, ward er zum gestrengen Intendanten befohlen, der ihn zornig empfing: »Wie können Sie sich Ihren Verpflichtungen zu entziehen wagen?« brach er aus. »Sie sind als Sologeiger angestellt und verweigern Ihr Solo auszuführen? Das wollen wir doch sehen!« – »Erlauben Excellenz,« begann Wieniawski im ruhigsten Tone – »was heißt Solo? Solo heißt allein – nie werde ich verweigern, ein Stück allein vorzutragen – das in Frage stehende aber ist ein Duo und soll zu zweien gespielt werden – zu zweien, nicht solo – und das liegt gänzlich außerhalb meiner Verbindlichkeiten.« »Zu zweien?« rief der Intendant aus – »zu zweien? das hat man mir nicht gesagt – dann sind Sie vollkommen im Rechte ...« »Und Sie,« herrschte er den eintretenden Tänzer an, »Sie wagten es, ihn zu verklagen? Solospielen heißt allein spielen, nicht zu zweien, wohlverstanden – allein, allein – begreifen Sie?« und verläßt in höchster Aufregung den Saal. Erstaunt sieht der Tänzer den Geiger an und sagt nach einer Pause: »Sie haben ohne Zweifel Ihre Studien auf dem Pariser Conservatoire gemacht?« »So ist's,« erwiderte Wieniawski, indem er seinem Gegner die Hand bot; dieser ergriff sie lachend – sie gingen zum Frühstück in den nächsten Restaurant und – wurden die besten Freunde.

Es war ein ruheloses Leben, das Wieniawski geführt – der echte Spielmann! – nur hätte er nicht heirathen dürfen. Fern von seiner liebenswürdigen, ihn innig liebenden Gattin, starb er vor zwei Jahren in Moskau. Erschöpft und einsam, vom Hospital aus, trat er seine letzte Reise an. –

Leopold Auer, der sein schönes Talent schon als frischer Knabe offenbart und seitdem eine so erfolgreiche Bahn, ohne alle Reclame, durchschritten hat, war zu jener Zeit auch schon in Petersburg angestellt und ist jetzt daselbst im Vollbesitz aller Functionen eines ersten Geigers, als einer der ersten Geiger. Es gehört zu den besten[43] Vorrechten des Alters, so manches begabte Menschenkind zur glücklichen Entwicklung seiner Kräfte und zur Erlangung der ihm gebührenden Stellung fortschreiten zu sehen – leider kommt es nicht so oft vor, als man wohl glaubt es hoffen zu dürfen.

Noch manche tüchtige Collegen lernte ich in Petersburg kennen, wo sie, in verschiedenartiger Weise thätig, für ihre Kunst arbeiteten – und dabei nicht zu kurz kamen: Czechen, Polen, Dänen, Deutsche befanden sich darunter. Und dankbar gedenke ich des Wohlwollens, das sie mir bezeigten. Ich kann hier nicht so viel von ihnen sagen, als ich möchte – Manche haben seitdem Rußland, einige Wenige haben diese schöne Welt, wie man sie zu nennen pflegt, verlassen. Zaremba, Naprawnick, Czerny, Winterberger, Petersen, Johannsen, Wurm, Weickmann, Gerke, Salomon und Frau. Auch den achtzigjährigen freundlichen Geiger Maurer, den Componisten des Viergeigenconcerts, habe ich dort noch gesehen – er erreichte ein Alter von nahezu neunzig Jahren und schien, kräftig und wohlerhalten, sich seines Lebens zu freuen. Die Meisten der Besprochenen und Genannten, und noch manche Andere versammelte ich kurz vor meiner Abreise zum Mittagsmahl im Schlosse – und zwar auf den Wunsch der Großfürstin, die dabei als unsichtbare aber nicht als ungekannte Wirthin waltete – wir waren unbeschreiblich heiter und ich dachte nicht, daß ich nur die Wenigsten der Anwesenden wiedersehen sollte.

Von vielen interessanten Beziehungen muß ich hier schweigen, von anziehenden, musicalischen, ja, sehr talentvollen Frauen, klugen, hochstehenden, welterfahrenen Männern – aber einer Bekanntschaft muß ich noch Erwähnung thun, obschon ich damit eine Geschmacklosigkeit begehe. Ich schleuderte eines Tages, trotz großer Kälte, in meinen Pelz gehüllt nach der Newa. Als ich auf dem mächtigen erstarrten Strome stand, fielen mir in einiger Entfernung ein paar Gebäulichkeiten auf, die eher kolossalen umgestülpten Körben als menschlichen Wohnungen glichen – eigenthümliche dunkle Gestalten bewegten sich vor denselben hin und her. Es waren Samojeden, deren alljährlich eine kleine Anzahl nach Petersburg kommt, sich auf der Newa anzusiedeln. Man könnte sagen, daß es Kunstreisen[44] sind, die diese Leute machen, wenigstens insofern sie den Zweck haben, sich und ihre Besonderheiten in der Fremde zu produciren und damit Geld zu gewinnen. Als ich mich näherte, holte einer der Männer in aller Eile einen dicken, dunkeln Gegenstand hervor und begann sich damit zu bekleiden, indem er mit dem Kopf hinein fuhr. Nach wenigen Secunden war er ganz unkenntlich geworden in seinem aus Bärenfällen zusammengesetzten Paletot, der seine kleine Figur gänzlich verbarg – unmöglich wäre es gewesen, zu bestimmen, welcherlei Art Geschöpf man vor sich hatte. Pantomimisch lud mich ein Anderer ein, in den mit Rennthieren bespannten Schlitten mich zu verfügen, was ich auch, angezogen durch die Seltenheit des Gespannes, augenblicklich that. Zum Sitzen waren keine Vorkehrungen getroffen – man mußte sich der Länge nach ausstrecken. Aber wehe! welche Fahrt. Lag es am Fuhrwerk oder am Führer, am Eise oder an den Thieren, nach wenigen Minuten war ich kläglich zerschlagen und gewann die beschämende Ueberzeugung, daß ich zum Nordpolfahrer gänzlich unfähig sein würde. –

Die Stunde der Abreise war gekommen – Freunde hatten sich auf dem Bahnhofe eingefunden, und der gütige Secretär Freimann übernahm Alles zu ordnen, was Noth that, zu welchem Zwecke ich ihm Schlüssel, Geld, Brieftasche und Paß überreichte. Nicht ohne schmerzliche Bewegung trennte ich mich von den mir liebgewordenen Männern. Nach einer Stunde Fahrens, ein kleine Beschäftigung suchend, revidirte ich den Inhalt meiner Taschen und gewahrte zu meinem Schrecken, daß mir – nicht das Geld – wohl aber der Paß fehlte. Man kann jedoch eben so wenig Rußland verlassen als betreten, ohne ein Zeugniß seiner Existenz vorzulegen, und ich fragte mich, nicht ohne einige Sorge, wie das werden würde. Doch schon in Plozk fand ich ein beruhigendes Telegramm, und an der Grenze war von Petersburg aus alles Nöthige angeordnet worden, um mir ebenso leichten Austritt zu bereiten, als mein Einlaß von günstigen Auspicien begleitet gewesen war.

Indem ich Einzelnes aus den Einzelheiten jenes Aufenthaltes im Palais Michael dem nachsichtigen Leser berichte, glaube ich mehr[45] Geträumtes als Erlebtes zu beschreiben. – »Das Leben ein Traum« gilt jedoch nicht nur als Titel eines berühmten Dramas.

Die Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten würden sich in eine Reihe von Schattenbildern auflösen, wenn wir nicht in allen einen hervortretenden Punct wiederfänden, den wir als unser Ich erkennen – er erscheint in mannigfachster Beleuchtung – aber auch im tiefsten Schatten bleibt er für uns derselbe. Und unausgesetzt strahlend hat ihn wohl kein Sterblicher, rückschauend, gefunden.

Quelle:
Hiller, Ferdinand: Erinnerungsblätter. Köln 1884, S. 27-46.
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