Herrenfahrer

[109] Sengend scheint die stechende Frühjahrssonne auf die weißglühenden Straßen, die sonst um diese Zeit verödet liegen und heute widerhallen vom Stampfen der Pferde, den Klängen der Musik, dem Lärmen der Menschen. Unter Fanfarenstößen knirscht eine lange Reihe von Gefährten aller Art auf dem gelben Kies, durch weißgestrichene Gitter von den Zuschauern getrennt, vorüber, wie eine Riesenschlange, die sich über den Meeressand schlängelt. Die riesige Mailcoach der spanischen Diplomaten hinter dem Phaeton des chilenischen Baumwollenhändlers, der ungeschlachte Fünferzug des russischen Großfürsten und das zierliche Dogcart der Kokotte aus Rom. Ab und zu taucht grüßend, nickend in dem Blumenmeer ein schöner Frauenkopf auf – jede Nation scheint ihre schönsten Vertreterinnen gesandt zu haben. Da ist die aschblonde Angelsächsin und die tiefschwarze Jüdin aus Lodz, die australische Tänzerin und die Lady aus der 5. Avenue. Orchideen, Narzissen, Veilchen, Tuberosen, Mimosen erfüllen mit betäubendem Duft die Luft. Das Wiehern der Pferde mischt sich mit den Hupen der Autos, den Trompetentönen der Mailcoachführer. Tiefe Furchen ziehen die Räder durch den bunten Teppich, den Konfetti und Blumen gewebt.


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Überall erklingt das helle Lachen der Frauen und Kinder, die[110] brausende Musik, das Rauschen der Papiergeschosse, die Wagen, Pferde, Insassen mit bunten Papierschnitzeln übersäen. Wie reizend ist doch das Bild schöner Gespanne mit rassigen Pferden im Geschirr, von eleganten Menschen gefahren. Leider können wir damit noch keine Bilder herausstecken. England und Frankreich[111] sind uns darin über. Und doch hat seit den rasenden Wettfahrten der Quadrigen in den Zirkussen Roms und Konstantinopels die Fahrkunst immer Anhänger gefunden. Bis zu den Tagen Ludwig XIV., wo es die elegante Welt bedeutend bequemer fand, sich in goldstrotzenden Karossen von bepuderten Kutschern, mit noch gepuderteren Perücken fahren zu lassen, als etwa selbst einen Zügel in die feine Hand zu nehmen. Nur im englischen Landadel hat sich von jeher die Sitte erhalten und von hier aus auch zahlreiche Anhänger auf dem Kontinente erworben. Wir haben eine große Zahl Luxusfahrzeuge. Da ist zuerst die Mailcoach, ein riesiger, meist – und mindestens – vierspännig gefahrener Kasten, der lebhaft an die alten Postkutschen erinnert.


Herrenfahrer

Auf dem Verdeck sind, ungerechnet die beiden Sitze auf dem Kutschbock, Plätze für 8 bis 14 Personen. Früher saß die Dienerschaft in dem geschlossenen Raum, der jetzt meist leer bleibt. Oben auf dem Trittbrett hinter dem Verdeck stehen zwei Diener in Stulpenstiefeln, die langen Posaunen die bekannten Fanfaren entlocken und beim Halten die Treppe anlegen, den Korbröhren Säbel und Stöcke entnehmen, die Pferde halten.


Herrenfahrer

Die Mailcoach wird meist nur von Herren gefahren. Als vorschriftsmäßiger Dreß gilt ein heller, dicker (dem ungeschlachten Wagen angepaßter) Fahrmantel und ein – meist grauer – Zylinder. In London existiert der bekannte »Four-in-hand-Club«, dessen Mitglieder auf ihren zahlreichen Drags, Breaks, Road Coaches regelmäßige Fahrten durch den Hyde Park veranstalten, wobei die Fahrer sich abwechseln. Dem »Four-in-hand« gehörte der unlängst verstorbene, hervorragendste Vertreter englischer Fahrkunst, der Earl of Ancaster an. Auch Paris hat einen ähnlichen Klub, der alljährlich das »Marathon-Rennen für Viererzüge« veranstaltet,[112] das nach dem 20 Kilometer entfernten Boulogne geht und in dem die bekannten Sportsmen Baron de Zuylen, Comte Yanville, de Barros siegten.

Der Diener am Pferdekopf gibt die Zügel frei. Ein leises Schnalzen und schnurgerade traben die beiden Hackneys hintereinander in die Bahn. Der schlanke Mann im hellen Paletot sitzt ein klein wenig vornübergebeugt. Straff laufen die Zügel über die Hände, die in braunen Fahrhandschuhen stecken. Leicht am Zügel stehend traben die Hackneys. Jetzt heißt es um die weißen Kegel, die Hindernisse, herumkommen. Das Vorderpferd stutzt in der Biegung eine kleine Sekunde, das hintere will unruhig werden – paff – knallt die Peitsche über den Hals des Tieres, und ohne sichtbare Störung biegen in schlankem Trabe die Pferde um die Ecke. Ein lautes »Bravo« tönt von den Tribünen herüber. Noch manches schwere Hindernis folgt. Da jetzt eben will einer der weißen Kegel fallen. Das Vorderrad wird ihn stürzen. Eine Sekunde noch – da knallt wieder die Peitsche wie ein dünner weißglänzender Faden – wie ein verbindendes und doch wie ein libellenartiges kaum sichtbares Seidengesponn wirkend –[113] über die Pferdehälse. Ein Ruck, so kräftig, wie man ihn nicht erwartet hätte, reißt die Pferde zurück, der Kegel steht. Ein Strafpunkt weniger. – Schaum- und schweißbedeckt hält das Gespann vor den Preisrichtern und beglückt heftet der Gewinner die silberne Schleife an die Brust, die der weißhaarige General ihm auf den Zehenspitzen heraufreicht. Ein Pfiff, das Gespann fährt ab.


Herrenfahrer

Fast lautlos. Ganz leise knirscht der Staub unter den schmalen Gummirädern und das einzige Geräusch ist das Klappern der vernickelten Geschirringe.

Einer der vornehmsten englischen Clubs, der »Four-in-hand-Club« in London, veranstaltet alljährlich ein »Marathon-Rennen« für die Viererzüge seiner Mitglieder. Dieser Coach-Tag ist für London eine kleine Sensation, denn das an und für sich große sportliche Interesse erhält durch die Beteiligung amerikanischer Milliardäre und der bekannten Pariser Sportsmen eine wesentliche Steigeröng. Die »Coaching Season« in London wird durch eine Rundfahrt im Hyde-Park eröffnet, die ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges ist, und endet mit der kilometerlangen Tourenfahrt des Marathon-Rennens, das oft nach so entlegenen Orten führt, wie nach dem Seebad Brighton.

Imposant ist die Auffahrt und der Start der riesigen Wagen, auf deren hohem Verdeck außer dem Fahrer oft noch sechs bis acht Personen Platz finden. Der Fahrer trägt meistens grauen Gehrock und grauen Zylinder, auf den Knien die buntgemusterte Fahrdecke, die Zügelenden hängen korrekt neben dem linken Schenkel. (Fährt ein Kutscher, so hängt dieser die Zügelenden an den kleinen Finger, damit der Diener beim Abspringen nicht hängen bleibt.) Fast alle Pferde vor den schweren Kästen sind kupierte Hunter oder Pferde im Huntercharakter. Die Stangenpferde tiefe, kurzbeinige, gedrungene Gesellen, die Vorderpferde leichter und rassiger. Die meisten Gespanne sind fast gleichmäßig in der Farbe. Vanderbilt fährt meist Schimmel in schwerem Park-drag-harneß, die leichteren Wagen gehen in Road-Coach-Geschirr. Die Aufhalterketten sind aus poliertem Stahl, die Zügel aus hellem Leder, weder doppelt genäht, noch mit angesetzten Handstricken. Die englischen Herrenfahrer sind in der Befolgung dieser Vorschriften viel penibler als die deutschen, trotz der unermüdlichen Arbeit des deutschen Meisterfahrers, Herrn Benno v. Achenbach.

Quelle:
Koebner, F. W.: Der Gentleman. Berlin 1913, [Nachdruck München 1976], S. 109-114.
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