XXII. Schwerste Zeiten.

[250] Wohl war unser Heim, das »Sonnig Heim«, wie sie es nannten, noch immer die freundliche Stätte geblieben, wo sich im Sommer als Gäste Verwandte und Freunde zusammenfanden, und wo zu unserer Herzensfreude die Tochter und Pflegetochter mit Männern und Kindern für Wochen weilten, aber immer dunkler zogen die schweren Wolken herauf, die unseren Lebenshimmel umdüsterten. Die angestrengte Tätigkeit im Abgeordnetenhause, verbunden mit den Reisen zu Wahlreden, vor allem aber die sorgenreiche Arbeit für den Steinbruch, der auf unserem Gut eröffnet war, das alles stürmte auf die Gesundheit meines Mannes ein. Seine Nerven, die schon soviel durchgemacht hatten, litten darunter immer bedenklicher. Die Folgen der Kopfhiebe 1866 und des Hufschlags vom Pferde 1873 machten sich traurig bemerkbar. Frau Sorge warf ihre grauen Schleier um manch sonniges Bild und hüllte die Zukunft in Dunkel. Greifbar deutlich aber traten für mich immer ernstere Aufgaben heran. Das Wort, das mich schon als Mädchen zum Nachdenken gebracht hatte, zog mir wieder und wieder durch den Sinn: »Die Umstände, die uns umgeben, gleichen den Hieroglyphen Gottes, aus denen wir lesen sollen, was unsere persönliche Pflicht ist.«

Für mich galt es jetzt, in Gottvertrauen den Kopf oben zu behalten, frisch in der Arbeit zu bleiben und meinem Manne, wie den lieben alten Herrschaften, meinem Vater und meiner Schwiegermutter, so viel Sonnenschein zu bringen, als ich zu geben imstande war.

Eine zunehmende Schwerhörigkeit machte es meinem Vater, der ein sehr treuer Kirchgänger war, unmöglich, der Predigt zu folgen. Das empfand er sehr schmerzlich, vertiefte sich dann aber zu Hause in sein Andachtsbuch. Mit welchem Nachdenken er darin las, beweisen dort die vielen angestrichenen Stellen, die zugleich einen deutlichen Beweis davon geben, wie sein Herz voll Dank erfüllt war gegen Gott, der ihn so gnädig durch das Leben geführt hatte. Auch einer kurzen Notiz, die ich unter seinen Papieren fand und die seine Seelenstimmung so recht zum Ausdruck bringt, möchte ich hier gedenken.

»So kann ich denn, im Vertrauen auf des Herrn Gnade, meinem Ende mit Vertrauen entgegensehen und möchte, daß es mir vergönnt wäre, an jedem Tage wenigstens einem Menschen eine kleine Freude zu bereiten.«[251]

Am 23. April, dem Tage der Kämpfe von Schleswig und Kolding, wurde ihm noch eine große Freude durch ein gnädiges Telegramm des Kaisers im Jahre 1898: »Dem unverzagten Helden und wackeren Teilnehmer an den Kämpfen in Schleswig-Holstein entbiete ich an dem heutigen 50jährigen Gedenktage der Schlacht von Schleswig, in dankbarer Erinnerung an die so oft von Ihnen bewiesene Tapferkeit, Meinen königlichen Gruß.

Wilhelm R.«


Ein Jahr später, an demselben Tage, langte folgende Depesche an: »Ich sende Ihnen, als dem tapferen Kämpfer von Kolding, bei der 50jährigen Wiederkehr dieses Tages Meinen königlichen Gruß. Es gereicht mir zur besonderen Freude, Ihnen gleichzeitig ein Patent Ihres Dienstgrades zu verleihen.

Wilhelm R.«


Diese Zeichen eines gnädigen Gedenkens seines vielgeliebten Königlichen Herrn bewegten meinen Vater tief. Er ließ die Depeschen einrahmen, um sich täglich durch einen Blick auf diesen freundlichen Königlichen Gruß zu erfreuen.

Ebenso beglückte ihn das Wohlwollen, das der Prinz Friedrich Karl, der ihm seine Büste und sein Bild mit einer den alten Herrn hocherfreuenden Widmung schenkte, ihm bewiesen hatte. Auch die große Photographie des Bildes vom Schlachttag von Le Mans, auf dem der Prinz meinen Vater anscheinend als Hauptfigur hatte hinstellen lassen, verdankte er der Huld des Hohen Herrn1.

Schon im Frühjahr 1897 traten bei dem sonst so rüstigen Greise als erste Zeichen einer ernsten Krankheit Schlaflosigkeit und Atembeschwerden auf. Wenn sich auch im Sommer der Zustand besserte, so daß er noch eine Reise zu seinen Verwandten nach Ostpreußen unternehmen konnte, so wurde doch im Winter das Herz- und Nierenleiden immer bedenklicher. Nur mit Hülfe des Stockes, von seinem Diener oder von mir geführt, konnte er sich mühsam fortbewegen. Seine Stimmung blieb dabei aber immer freundlich und dankbar für jeden kleinen Dienst. Von nah und fern wurde ihm die aufrichtigste Teilnahme entgegengebracht, und besonders wetteiferten darin die Familien der umliegenden Güter.

Im Februar schien das Ende herangekommen zu sein. Freudig und getrost sah der teure Vater dem Tod in die Augen, nahm mit meinem Manne und mir das Abendmahl und gab sich in glaubensvollem Vertrauen in die Hand seines Gottes. Gegen alles menschliche Erwarten trat aber dann eine Besserung ein, so daß er noch einen leidlich guten Sommer verlebte.[252]

Doch das Leiden meines geliebten Mannes wurde immer ernster. Die verschiedenen ärztlichen Autoritäten, bei denen wir waren, verschwiegen mir – wohl um mich zu schonen – die Wahrheit und stellten Besserung in Aussicht, wenn er alle Arbeit niederlegte und völlig ausruhte nach seiner vielbewegten Tätigkeit.

So legte er denn seine Stelle als Abgeordneter und alle seine Ämter nieder, und wir beide lebten in vollster Zurückgezogenheit in Sproitz. Die erhoffte Besserung trat aber nicht ein, die Narben der Kopfwunden von 1866 übten allmählich einen Druck auf das Gehirn aus, und die schweren Folgen davon meldeten sich unabwendbar. Frau Sorges Schleier wurden nach jeder Richtung hin immer dichter und dunkler. Aber das Licht von oben durchbricht sie doch, es leuchtet nur heller, je dunkler die Nacht wird, und das gibt Kraft auch in den schwersten Tagen.

Meinem Vater, obgleich er wiederholt mit Rückfällen zu kämpfen hatte, erlaubte seine Gesundheit doch noch immer, das gesellige Leben mit der ihm so lieben Nachbarschaft fortzuführen. Trotzdem täuschte er sich nicht über seinen Zustand, das beweist eine Notiz in einem seiner Bücher vom Neujahrstag 1899. Er schreibt darin: »Also habe ich nun doch die Schwelle dieses Jahres überschritten! Nach meiner schweren Krankheit konnte ich das kaum erhoffen. Nur die große Gnade des Allmächtigen hat mich wieder gesund gemacht. Allerdings betrete ich dieses Jahr als ein lebensmüder, schwacher Greis. Wie lange werde ich noch hier auf Erden wallen? Das steht dort oben geschrieben. Ich will den allgütigen Vater nur anflehen, daß er mir ein seliges Ende schenken möge!«

Im April des Jahres ging es meinem Vater so gut, daß er zu seiner großen Freude die Einladung der schleswig-holsteinschen Vereine annehmen und nach dem ihm so teuren Lande reisen konnte. Körperlich und geistig wunderbar frisch, feierte »der Trommler von Kolding« unter dem begeisterten Jubel seiner treuen Kampfgenossen dort die Wiederkehr des 50jährigen Koldingtages. Es war für ihn eine unvergeßlich schöne Zeit, die er noch einmal in dem meerumschlungenen Lande verleben durfte. Eine Zeit, die einen herrlichen Schlußstein auf alle die Erinnerungen legte, die für ihn mit dem Namen Schleswig-Holstein verbunden waren.

Der Mai kam, der Wonnemonat mit seinem Sonnenschein, seinen frischen Keimen und Knospen, seinem hoffnungsfrohen Erwachen zu neuem Leben, mir aber nahm er den letzten Hoffnungsschimmer, an dem ich mich noch bis dahin gehalten hatte. Nun wußte ich, es gab keine Besserung mehr für den, der mir das Liebste war auf der Welt, für meinen geliebten Mann. Was sich lange vorbereitet hatte, ließ sich jetzt nicht mehr verhehlen. Die Nacht brach an – die dunkle Geistesnacht! –[253]

Es gibt einen Schmerz, der ist so groß und tief, daß man keinem Menschen, nur seinem Gott das unermeßliche Weh klagen kann, das auf das arme Herz einstürmt. Es war namenlos bitteres Leid, das sich für mich in jener Zeit anhäufte. Leise – leise decke ich Schleier darüber, die Wunden sollen nicht von neuem bluten. Ich habe damals nicht geklagt, ich tue es auch heute im Rückblick auf jene Zeiten nicht. Mein Leben war so voll Sonnenschein und Glück gewesen, nun stand mir auch nicht das Recht einer Klage zu, wenn mir jetzt viel – ja namenlos viel genommen wurde! Und was wäre ein Glauben, der nur in lichten Tagen aushielte, aber im Wettersturm zusammenbräche! Von den Sternen in jener Nachtzeit will ich reden, an die ich oft noch denke voll innigen Dankes. Das war die treusorgende Liebe meiner Kinder und der Geschwister meines Mannes, die mich aus der Ferne umgab. In der Nähe aber war die feste und treueste Stütze für meinen kranken Mann und mich der bewährte Freund unserer Familie, Herr von Martin auf Rothenburg. Der stand mir unermüdlich zur Seite und setzte es durch, daß mir die Ärzte meinen geliebten Kranken ließen und ihn nicht in eine Anstalt brachten. Rührend zeigten sich in jener Zeit unsere Leute, mit denen wir noch in einer Art von patriarchalischem Verhältnisse lebten, sie standen alle schon jahrelang in unserm Dienst, und das feste Band, das sich zwischen Gutshaus und Dorf, zwischen uns und unseren Hausleuten wie den Sproitzern geknüpft hatte, bewährte sich jetzt als dauerhaft.

Als es Herbst wurde, meldeten sich bei meinem Vater die Krankheitserscheinungen in verstärktem Maße und wollten keinem Mittel weichen. Wohl fuhr der liebe Vater noch täglich spazieren, aber die Treppe mußte er von seinem Kutscher und Diener, die unermüdlich in seiner Pflege waren, heraufgetragen werden.

Meine 90jährige Schwiegermutter hatte ihre Tochter, meines Mannes vielgeliebte Schwester, im Sommer abgeholt und zu sich genommen, damit ich meine Zeit uneingeschränkt meinen anderen Pflichten widmen konnte. So hatten mich meine beiden Schwerkranken jetzt ganz für sich. Den Kopf durfte ich nicht hängen lassen, denn wie hätte das mein Mann empfunden! Der bedurfte mehr als je der Sonne, die er nur bei der suchte, die ihm, wie in Bräutigamstagen, noch jetzt bei schwindender Geistesklarheit das Ein und Alles war, und die gelobt hatte, ihm in guten wie in bösen Tagen unverzagt und freudig zur Seite zu bleiben. Daß das ging, und daß auch die körperlichen Kräfte nicht versagten, war eine Gnade Gottes, der den Schwachen Kraft gibt zu den Aufgaben, die er von uns fordert.[254]

Die Neigung zum Schlafen nahm bei meinem Vater immer mehr zu, und nur stundenweise kehrte die belebte Frische seines Geistes zurück. Die Predigt am Totenfeste war das Letzte, was ich ihm noch vorlesen konnte. Voll Aufmerksamkeit war er den Worten gefolgt und dankte mir warm dafür. Als er am Abend des 27. November, den Stock in der Hand, auf seinen Diener gestützt, sich anschickte, in sein Schlafzimmer zu gehen, nickte er mir zu: »Nun kommt der große Parademarsch!«

In der darauffolgenden Nacht erlitt er einen leichten Schlaganfall, so daß am Morgen die Sprache kaum verständlich war, ihn auch seine beiden Leute stützen mußten, um ihn in sein Wohnzimmer zu führen. Wie ich es seit seiner Krankheit immer tat, brachte ich ihm selbst sein Frühstück und leistete ihm dabei Gesellschaft. Dann ließ ich ihn auf das Sofa legen, wo er jetzt immer ein Morgenschläfchen zu halten pflegte.

Er schien einzuschlafen. Doch während ich im Nebenzimmer meinem kranken Mann die Morgenandacht vorlas und auf die röchelnden Atemzüge des geliebten Vaters lauschte, setzten diese plötzlich aus. In demselben Augenblick war ich bei ihm und kniete neben dem Sofa nieder, um ihm in das teure Antlitz zu sehen, das, umrahmt von dichtem silberweißem Haar, so unendlich lieb und friedvoll aussah. In meinen beiden Händen hielt ich seine Rechte – noch ein paarmal ging der Atem ruhig und gleichmäßig – dann – ein leiser Seufzer – und das Leben war entflohen. Ein schönes reiches Leben, das viel Liebe gegeben und viel Liebe und Verehrung empfangen hatte. In treuer Erinnerung wird der Heimgegangene bei allen denen weiterleben, die ihn hier gekannt und geliebt haben.

Von allen Seiten wurden Kränze und Widmungsschleifen dem teuren Entschlafenen gesandt. Se. Majestät ließ durch den damit beauftragten Flügeladjutanten einen Lorbeerkranz am Sarge niederlegen, und so stand, unter Blumen gebettet, der Sarg in der Sproitzer Halle. »Siehe, ich habe dich gesegnet und du sollst ein Segen werden«, lautete das Textwort bei der Rede zur Totenfeier. Ein Wort, das diesem inhaltreichen Leben einen köstlichen Abschluß gab und das Gepräge aufdrückte.

Eine Deputation des Infanterieregiments 85, bei dem mein Vater à la suite stand, und zahlreiche Deputationen von Kriegervereinen bildeten Spalier, als der Sarg zum Begräbnisplatz getragen wurde.

Ein Abschiedsgruß, den die Kieler Zeitung meinem lieben Vater nachsandte, gibt Zeugnis davon, wie man dort seiner gedachte. Es heißt darin: »Nun hat auch ›der Trommler von Kolding‹ dem Rufe ins Jenseits folgen müssen! Mit dem Verstorbenen schied wieder einer der Alten aus der gewaltigen, großen Zeit, einer jener Männer, deren Gedächtnis[255] nicht erlischt mit ihrem Tode, weil unser eigenes Leben uns täglich erinnert an das, was sie uns erwarben – das Vaterland. Ein tapferer Soldat war Karl Wrangel, ein hervorragend tüchtiger Offizier, mehr war er Schleswig-Holstein.

Wer ihn in den letzten Jahren gesehen, dem mußten unwillkürlich die Worte ins Gedächtnis kommen, die einst von Blücher gesungen worden sind: ›So frisch blüht sein Alter wie greisender Wein.‹ So ist er, der uns so teuer war, denn auch hingeschieden, ohne Siechtum, ohne lange Krankheit. Mit Matthias Claudius darf heute Schleswig-Holstein sprechen:


Ach, sie haben

Einen guten Mann begraben,

Und mir war er mehr!«


Der Druck auf das Gehirn meines Mannes, den die Narben der Kopfwunden aus dem österreichischen Feldzug ausübten, wurde immer stärker, zeigte sich immer schwerwiegender.

Ein stiller Winter verging, eine weltabgeschlossene Zeit, die ich mit meinem kranken Liebling allein in Sproitz verbrachte. Er sollte, so bald wie möglich, in eine andere Umgebung kommen, aber ohne mich konnte er nicht anderswo sein, und für mich war es nicht möglich, vor dem Verkauf das Gut zu verlassen. Im März kam es so weit, und sobald alles abgewickelt war, reisten wir fort. Über den Abschied nur ein kurzes Wort. Mich wunderte, daß ich so ruhig dabei blieb, denn wieviel Liebe, wieviel Arbeit hatten wir an dies Fleckchen Erde verwandt, das uns Jahre hindurch eine teure Heimat gewesen! Ich glaube, das kleine Menschenherz kann nur ein bestimmtes Maß von Schmerz in sich aufnehmen, was darüber hinausgeht, ist kaum noch zu empfinden. In dem großen Schmerz, den die letzten Zeiten über mich gebracht hatten, ging alles andere unter.

In liebender Fürsorge hatte mein Schwiegersohn und meine Tochter geraten, daß wir nach Langfuhr bei Danzig, wo mein Schwiegersohn Brigadekommandeur war, ziehen sollten. Sie hatten dort für uns schon eine Wohnung in ihrem Nebenhause gemietet. Still wie der Winter gewesen, so zog der Sommer vorüber. Mit kurzen Spaziergängen wechselte stundenlanges Vorlesen. Wenn mein armer Kranker nicht mehr dem Gelesenen folgen konnte, so war es für ihn ein beruhigendes Gefühl, immer meine Stimme zu hören. Er klagte nie, und wenn ich wohl einmal seufzte: »Armer Liebling«, dann meinte er: »Warum arm? Gott hat es geschickt, darum muß es gut sein. Ich habe dich, was brauche ich mehr?«[256]

Wie dankbar war ich, daß ich hier meine Tochter und meinen Schwiegersohn zur Seite hatte, die mir mit Rat und Tat halfen, für meinen Kranken zu sorgen. Rührend ist mir aus der Zeit noch die Erinnerung an die große Liebe, die unser junger Enkel dem Kranken brachte. Wenn auch die Geistesumnachtung immer tiefer wurde, war sie doch nie imstande, an seinen Glauben und seine Liebe zu rühren, die blieb unangetastet, wie durch alle Jahre unseres Zusammenlebens.

Da kam die dunkelste Zeit. Einen Tag vor Heiligabend verschlimmerte sich der Zustand meines geliebten Kranken derartig, daß der Arzt erklärte, es nicht mehr verantworten zu können, wenn er ihn mir länger ließe. So mußte denn noch dieser letzte – mir so namenlos schwere – Schritt geschehen. Schon am andern Tage begleiteten wir ihn zu der etliche Meilen von Langfuhr gelegenen Anstalt.

Die Ärzte wollten nicht gestatten, daß ich während der ersten Wochen meinen Mann besuchte. Er, der seit über zwei Jahren gewohnt war, mich Tag und Nacht jede Stunde um sich zu haben, mußte unter dieser Trennung mehr leiden, als die Ärzte ahnen konnten. Das quälte mich mehr, als ich sagen kann, und ich beschloß, mich in Neustadt, wo die Anstalt war, einzuquartieren, um immer da zu sein, wenn mir ein Besuch gestattet würde. Versuchen wollte ich zugleich, ob man mich nicht als Pflegerin dort aufnehmen würde. Noch ehe ich den Entschluß ausführen konnte, riefen mich die Ärzte selbst schon nach vierzehn Tagen. Eine Lungenentzündung war eingetreten, das Ende stand zu erwarten.

»Ihr Herr Gemahl wird Sie nicht erkennen«, suchten die Ärzte mich vorzubereiten, als ich ankam. »Es ist vollständige Geistesumnachtung eingetreten.«

Wie sie mich aber zu ihm führten und ich mich über sein Bett beugte, schlug er die Augen auf. Da kam auch gleich wieder das alte liebe Leuchten in den Blick. »Herzenskind, ich brauche dich«, sagte er und griff nach meinen Händen.

Diese plötzliche Klarheit war den Ärzten überraschend, aber auch tief beweglich. Ich bat, mir in diesem Ausnahmefalle zu gestatten, bei meinem geliebten Kranken bleiben zu dürfen.

»Ich werde nicht weinen, nicht klagen«, versprach ich – und sie gaben nach.

Nur durch eine leichte Wand von der Beobachtungsstation getrennt, allein mit meinem kranken Liebling, so verlebte ich diese letzten zwei Tage. Meine Hand in der seinen, konnte ich leise mit ihm sprechen, und jeder Blick, jedes geflüsterte Wort des Sterbenden sagte mir, daß die verheerende[257] Krankheit auch bis in die Todesstunde hinein keine Macht über seinen Glauben und seine Liebe gewinnen konnte.

Abgeschlossen von allem anderen, ganz allein mit ihm, wachte ich an seinem Lager, seine Hand in der meinen. Um uns tobten rechts und links die Irren, von denen uns nur eine leichte Wand trennte. Wie eine Vision zogen dann hin und wieder an meinem Geist die Stunden vorüber, wo ich so Hand in Hand mit meinem gelben Reiter in Gonesse gesessen, während von Paris her ununterbrochen der Kanonendonner grollte und man das Ausschlagen und Zerplatzen der Granaten hörte. Lieder und Worte, die meinem Manne lieb gewesen, flüsterte ich ihm zu, und wieder und wieder mußte ich ihm das Lied sagen, das er mir so oft begleitet und so besonders geliebt. Es war das letzte gewesen, was ich in Sproitz mit seiner Begleitung gesungen hatte. »Himmlische Scharen, wollt ihn bewahren – Himmlische Geister, führt ihn zum Meister.«

»Gott segne dich, mein Lieb«, war sein Abschiedswort, und als die Stimme schon versagte, redete der Blick und der Druck der Hand noch von dem, was der Mund nicht mehr ausdrücken konnte.

Am Morgen des 11. Januar kniete ich an dem Totenbette meines so heiß geliebten Mannes. Auf dem Matthäikirchhof in Berlin betteten wir ihn zum letzten Schlummer. »Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe,« habe ich auf das hohe Kreuz setzen lassen, das für uns beide bestimmt ist.

1

Im Besitz der Familie Wrangel.

Quelle:
Liliencron, Adda Freifrau von: Krieg und Frieden. Erinnerungen aus dem Leben einer Offiziersfrau, Berlin 1912, S. 258.
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