Aufenthalt in Celle

[112] Der Herr Rittmeister wohnte auf dem Zuchthofe bei dem Herrn Kommissär Cramer. Als er meinen Empfehlungsbrief gelesen hatte, sagte er zu mir, er hätte zwar gewünscht, einen etwas bejahrteren Bedienten zu haben, da ich aber ein gutwilliger Mensch scheine und mit Pferden umzugehen wisse, so wolle er es mit mir versuchen und mich annehmen.

Ich trat meinen Dienst mit Freuden an, erfuhr aber bald mancherlei Unannehmlichkeiten: das eine Pferd ließ sich nicht putzen, das andere nicht beschlagen, das dritte nicht reiten und preßte mir manchen Schweißtropfen aus. Doch Pferde sind bei einem Offizier die Hauptsache, und da mein Herr nicht gewohnt war, viel zu sagen, sondern kleine Fehler zu übersehen, und mich während der Exerzierzeit dispensierte, mit ihm zu reiten, so fing ich bald an, mir in meiner neuen Lage zu gefallen. War ich mit Putzen und meiner andern Arbeit fertig, so ging ich der Frau Kommissärin, welche mehrere Kostgänger hatte, durch Servierung des Tisches und durch andere kleine Dienstleistungen an die Hand, wofür sie mir sowohl freie Kost als auch manches Trinkgeld und die Versicherung gab, alles Mögliche zu meiner Empfehlung bei dem Herrn Rittmeister beizutragen, welcher keinen Tadel an mir hätte, als daß ich ihm zu jung wäre.

Ich stand jetzt in meinem zwanzigsten Jahre und fühlte bei dem Anblick des Dienstmädchens der Frau Kommissärin eine Regung, die mir bisher bei dem Anblick anderer Mädchen fremd geblieben war, und hatte bald die Freude, zu bemerken, daß auch ich meiner Herzerkornen nicht gleichgültig war. Wir rückten einander von Tage zu Tage näher und gestanden uns endlich unsre gegenseitige Liebe, welche mich im kurzen so begeisterte, daß ich es wagte, ihr meine Empfindungen in folgenden gereimten Versen zu schildern:


Er an sie

1782

[113] So lieb, als du mir, Liebchen, bist,

Ist mir kein Mädchen mehr;

Seit mir dein Herz bekannter ist,

Klopft meines grillenleer.


Selbst jenes Blättchen ist mir lieb,

Worauf dein Händchen mir

Die wonnevollen Worte schrieb:

Ich schwöre Liebe dir!


Auch die geringste Kleinigkeit,

Bezieht sie sich auf dich,

Erreget meine Lüsternheit

Und hat schon Wert für mich.


Ein Blümchen, das du mir gepflückt,

Ein Lächeln, das mir gilt,

Ist schon mir was, das mich entzückt

Und mich mit Lust erfüllt.


Allmächtig zieht mich's nach dir hin,

Stets möcht ich um dich sein;

Ach, wenn ich ferne von dir bin,

Gleich stellt sich Sehnsucht ein;


Dann seufz ich: wo verweilt sie nur?

Ich habe nirgends Rast!

Erstorben scheint mir die Natur,

Ich bin mir selbst zur Last.


Bei dir säß ich den ganzen Tag,

Bis in die späte Nacht,

Der hört auf keinen Glockenschlag,

Der froh mit Liebchen wacht.
[114]

Jetzt glaub ich auch an Sympathie

Und überzeuge mich,

Ich fühlte für ein Mädchen nie

Noch Liebe wie für dich.


Mein Herz gehöret gänzlich dir,

Wie glücklich würd ich sein,

Gingst du, Geliebte, einst mit mir

Der Ehe Bündnis ein.


Diese Verse hatten die gewünschte Wirkung; mein Liebchen hing mit Leib und Seele an mir, und ich lebte mit ihr so glücklich, wie Adam anfangs mit seinem Evchen im Paradiese, als vierzehn Tage vor Ostern die Frau Kommissärin mich durch die Nachricht aus meinem Hoffnungsparadiese vertrieb, daß mein Herr, da die Exerzierzeit vorüber war, eine Reise nach Stedten, seinem Gute im Sachsen-Weimarischen, machen würde. Sie gratulierte mir scherzend zu dieser Reise und sagte, die sächsischen Schönen würden mich wohl festhalten und mir den Rückweg nach Celle abschneiden. »Gewiß nicht«, erwiderte ich, »es fehlt ja hier auch nicht an schönen Mädchen, und besonders im Zuchthofe!« – Wirklich hatt ich den ernsten Vorsatz zur Rückkehr, als mein Herr mir befahl, Anstalten zur Abreise zu treffen, welche acht Tage darauf wirklich vor sich ging. Mit tränenden Augen beurlaubte ich mich von meiner Herzgeliebten, der ich meinen Koffer in Verwahrung ließ.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 112-115.
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