16. Kapitel

[148] Denkzwang. Aeußerungen und Begleiterscheinungen desselben


Nachdem ich in den vorausgehenden Kapiteln geschildert habe, welchen Veränderungen mein äußeres Leben im Laufe der verflossenen Jahre unterworfen war und welche Erscheinungen der von göttlichen Strahlen gegen mich geführte Vernichtungskampf gezeitigt hatte, will ich nunmehr noch einiges Weitere darüber mittheilen, in welchen – ebenfalls mannigfach veränderten – Formen der ununterbrochen fortdauernde Denkzwang sich gleichzeitig geäußert hat. Der Begriff des Denkzwangs ist bereits in Kap. V dahin bestimmt worden, daß derselbe eine Nöthigung zu unablässigem Denken enthält, wodurch das natürliche Recht des Menschen auf geistige Erholung, auf zeitweiliges Ausruhen von der Denkthätigkeit im Wege des Nichtsdenkens beeinträchtigt, oder, wie der grundsprachliche Ausdruck lautet, der »Untergrund« des Menschen beunruhigt wird. Durch Strahleneinwirkung werden meine Nerven in Schwingungen versetzt, die gewissen menschlichen Worten entsprechen, deren Wahl also nicht auf meinem eigenen Willen, sondern auf einem gegen mich geübten äußeren Einflusse beruht. Dabei herrschte von Anfang an das System des Nichtausredens, d.h., die Schwingungen in die meine Nerven versetzt werden und die dadurch erzeugten Worte enthalten ganz überwiegend nicht in sich abgeschlossene vollendete Gedanken, sondern nur Bruchstücke von solchen, deren Ergänzung zu irgendwelchem vernünftigen Sinne meinen Nerven damit gewissermaßen zur Aufgabe gestellt wird. Es liegt einmal in der Natur der Nerven, daß, wenn auf diese Weise irgendwelche zusammenhangslose Worte, irgendwelche angebrochene Phrasen in dieselben hineingeworfen worden, sie sich unwillkürlich bemühen, dasjenige, was zu einem den menschlichen Geist befriedigenden vollendeten Gedanken noch fehlt, zu suchen.

Das System des Nichtausredens ist im Laufe der Jahre, je mehr es den Seelen an eigenen Gedanken zu mangeln anfing, immer weiter ausgebildet worden. Ganz besonders häufig werden seit Jahren in tausendfältiger Wiederholung nur einzelne Konjunktionen oder Adverbialwendungen, die zur Einleitung von Relativsätzen bestimmt sind, in meine Nerven hineingesprochen, denen dann die Ausfüllung der Relativsätze mit irgendwelchem, dem denkenden Geiste genügendem Inhalt überlassen bleibt. So höre ich seit Jahren an jedem Tage in hundertfältiger Wiederholung die ohne jeden Zusammenhang in meine Nerven[149] hineingesprochenen Worte »warum nur?« »warum, weil,« »warum, weil ich« »es sei denn,« »rücksichtlich seiner« (d.i. in betreff meiner Person ist nunmehr das oder jenes zu sagen oder zu denken), ferner etwa ein ganz sinnlos in meine Nerven geworfenes »O ja,« endlich gewisse Bruchstücke früher vollständig ausgedrückter Redensarten, z.B.

1. »Nun will ich mich,«

2. »Sie sollen nämlich,«

3. »Das will ich mir,«

4. »Nun muß er doch,«

5. »Das war nu nämlich,«

6. »Fehlt uns nun,«

u.s.w. Um dem Leser wenigstens einen Begriff von der ursprünglichen Bedeutung dieser abgebrochenen Redensarten zu geben, will ich zu den unter 1–6 angegebenen Beispielen jedesmal die Fortsetzung, die früher wirklich gesprochen wurde, jetzt aber weggelassen und damit gewissermaßen meinen Nerven zur Ergänzung überlassen wird, hinzufügen. Es hätten eigentlich zu lauten die Redensarten

No. 1. Nun will ich mich darein ergeben, daß ich dumm bin;

No. 2. Sie sollen nämlich dargestellt werden als Gottesleugner, als wollüstigen Ausschweifungen ergeben u.s.w.;

No. 3. Das will ich mir erst überlegen;

No. 4. Nun muß er doch wohl mürbe sein, der Schweinebraten;

No. 5. Das war nu nämlich nach der Seelen Auffassung zuviel;

No. 6. Fehlt uns nun der Hauptgedanke, d.h. – wir, die Strahlen entbehren der Gedanken.

Die wenig geschmackvolle Redensart vom Schweinebraten (ad 4) beruht insbesondere darauf, daß ich selbst einmal vor Jahren in der Nervensprache mich der bildlichen Redewendung von einem »mürben Schweinebraten« bedient hatte. Diese Redewendung ist dann aufgegriffen und zu einem beständig wiederkehrenden Bestandtheil des Sprechmaterials gemacht worden. Den »Schweinebraten« soll ich auf mich selbst beziehen, es soll also damit ausgedrückt werden, daß meine Widerstandskraft gegen die auf Zerstörung meines Verstandes gerichteten Angriffe der Strahlen doch nun endlich erschöpft sein müsse.

Der Grund des Nichtausredens ist derselbe, der auch sonst in dem Verhalten Gottes mir gegenüber in jedem Punkte hervortritt; man beabsichtigt, sich damit der Nothwendigkeit des Aufgehens in meinem Körper in Folge der Anziehungskraft zu entziehen. Solange noch annähernd weltordnungsmäßige Zustände herrschten, d.h. vor dem Anbinden an Strahlen und an Erden, (vergl. Kap. IX) genügte jede Uebereinstimmung der Empfindung in einem einzigen Gesicht (Augenblick), um ein Herabspringen der frei am Himmel hängenden Seelen in meinen Mund zu veranlassen und damit ihrer selbstständigen Existenz ein Ende zu bereiten, ich habe diesen Vorgang, wie bereits in Kap. VII Seite 61 bemerkt, damals in sehr zahlreichen Fällen thatsächlich erlebt. Denselben Erfolg hatten aber auch bloße »verstandesmäßige Erwägungen«,[150] sofern die Seelen denselben in einer grammatikalisch vollständigen Form Ausdruck gaben. Noch jetzt würde der grammatikalisch vollständige Ausdruck eines beliebigen Gedankens ohne Weiteres zu mir hinführen, sodaß die damit eingehenden (allerdings einer Zurückziehung fähig gewordenen) Strahlen vorübergehend die Seelenwollust meines Körpers erhöhen würden. Das Nichtausreden hat anscheinend die Wirkung, daß die Seelen dadurch gewissermaßen mitten auf dem Wege aufgehalten und zur Zurückziehung zugänglich gemacht werden, ehe sie zur Vermehrung der Seelenwollust in meinem Körper beigetragen haben; vollständig und auf die Dauer erreicht wird die Verhinderung der Anziehung allerdings auch dadurch nicht, immerhin scheint wenigstens eine gewisse Verlangsamung stattzufinden.

Man kann sich schwer vorstellen, welche geistigen Anstrengungen mir der Denkzwang namentlich in den erwähnten Verschärfungen jahrelang auferlegt hat und welche geistige Qualen mir dadurch bereitet worden sind. In den ersten Jahren empfanden es meine Nerven in der That als eine unwiderstehliche Nöthigung für jeden der eingeleiteten Relativsätze, für jede der angebrochenen Phrasen eine den menschlichen Geist befriedigende Fortsetzung zu finden,1 so etwa, wie im gewöhnlichen, menschlichen Verkehr auf die Anfrage eines Anderen regelmäßig eine Antwort gegeben zu werden pflegt. Um einigermaßen verständlich zu machen, wie eine solche Nöthigung an und für sich durch die Natur der menschlichen Nerven gegeben ist, will ich mich eines Beispiels bedienen. Man denke sich den Fall, daß Eltern oder Erzieher einer in der Schule mit ihren Kindern veranstalteten Prüfung beiwohnen. Sofern sie der Prüfung mit Aufmerksamkeit folgen, werden sie sich unwillkürlich auf jede gestellte Frage im Geiste selbst die Antwort geben, sei es nur in der Form: »Ich weiß es nicht, ob es wohl die Kinder wissen werden?« Dabei besteht aber natürlich für die Eltern oder Erzieher keinerlei geistiger Zwang, sie brauchen bloß ihre Aufmerksamkeit von dem Gange der Prüfung ab und irgendwelchen Aeußerlichkeiten der Umgebung zuzuwenden, um ihre Nerven vor jeder Anstrengung in der angegebenen Richtung zu bewahren. Darin liegt nun eben der wesentliche Unterschied des gegebenen Beispiels von meinem Falle. Die gestellten Fragen oder die die Nöthigung zum Ausüben der Denkfunktion begründenden Fragpartikel werden in meine Nerven, da sie von Strahlen in entsprechende Schwingungen versetzt werden, dergestalt hineingesprochen, daß sie sich der zum Denken zwingenden Erregung gar nicht enziehen können. Ob die gewählte Ausdrucksweise, daß meine Nerven von Strahlen in entsprechende Schwingungen versetzt werden, das Verhältniß ganz richtig trifft, muß ich freilich dahingestellt sein lassen; der von mir unmittelbar empfundene Vorgang ist der, daß die[151] sprechenden Stimmen (neuerdings also insbesondere die Stimmen der sprechenden Vögel) als innere Stimmen wie lange Fäden sich in meinen Kopf hineinziehen und in demselben vermöge des Leichengifts, das sie abladen, eine schmerzhafte spannende Empfindung erzeugen.

Den Gegensatz zu diesen inneren Stimmen bilden die äußeren Stimmen, die ich namentlich von den Vögeln gesprochen, von außen her aus den Vogelkehlen selbst zu mir kommend, höre. Jedenfalls können sich in beiden Fällen meine Nerven der Schallempfindung der gesprochenen Worte nicht entziehen und damit ist dann die Erregung meiner Nerven, welche, sofern es ich um Fragen oder unvollendete Gedanken handelt, zum Weiterdenken zwingt, von selbst gegeben. Wenigstens in den ersten Jahren war die Nothwendigkeit des Weiterdenkens, der Beantwortung der gestellten Fragen, der stylistischen Ergänzung der angebrochenen Phrasen usw. für meine Nerven völlig unabweisbar; erst im Laufe der Jahre habe ich meine Nerven (meinen »Untergrund«) nach und nach daran zu gewöhnen vermocht, daß sie die gesprochenen Worte und Redensarten wenigstens zum Theil durch einfache Wiederholung zu Formen des Nichtdenkungsgedankens gestalten, also die Erregung, die an sich zum Weiterdenken nöthigen würde, ignoriren. So mache ich es jetzt schon seit langer Zeit mit den Konjunktionen und Adverbialwendungen, die eigentlich die Vervollständigung zu irgendwelchen Relativsätzen erheischen würden. Höre ich z.B. ein »warum, weil ich« oder ein »es sei denn,« so wiederhole ich die betreffenden Worte möglichst lange, ohne mir die Mühe zu geben, eine Ergänzung des Sinns in Verbindung mit den vorher in mir entstandenen Gedanken zu suchen.

In gleicher Weise verfahre ich, wenn man, was täglich zu Hunderten von Malen geschieht, durch die Worte »wenn nur meine« meine Nerven zur Entwickelung irgendwelcher Befürchtungsgedanken nöthigen will, die in Wirklichkeit gar nicht bei mir vorhanden sind, sondern mir nur fälschungsweise untergelegt werden sollen. Welche Forsetzung man dabei »erwartet« ist mir zwar meistentheils – da in der Regel gleichzeitig ein entsprechendes Wunder erfolgt, das ich an meinem Körper verspüre – bekannt; es soll eine Fortsetzung bald »wenn nur meine Wollust nicht gestört würde,« bald »wenn nur meine Stiefel nicht verwundert würden,« bald »wenn nur meine Nase, meine Augen, meine Kniescheibe, meine Schädeldecke usw. nicht verwundert würden,« folgen.

Ich fühle mich aber nicht veranlaßt, diesen doch nur auf Gedankenfälschungen hinauskommenden Blödsinn in Worten vollständig auszugestalten, sondern begnüge mich damit, nachdem ich meine Nerven an die Unterdrückung der betreffenden Erregung gewöhnt habe, die Worte »wenn nur meine« ohne jeden Zusatz möglichst lange zu wiederholen. Im gewöhnlichen Zwiegespräch würde natürlich jeder Mensch auf die von einem Anderen gegen ihn gesprochenen Worte »Wenn nur meine« lediglich die Antwort »Ja, was meinen Sie denn eigentlich« oder ein zur Abwehr der Belästigung dienendes Schimpfwort in Bereitschaft[152] haben. Dieses Auskunftsmittel ist mir aber von den Strahlen durch das dann regelmäßig folgende »Das hammirschon« mit der in Kap. IX bezeichneten Wirkung mindestens sehr erschwert, abgesehen davon, daß es auf die Dauer doch gar nicht auszuhalten sein würde, die Nerven den ganzen Tag über nur zu der Gegenfrage »Was meinen Sie denn eigentlich« oder zur Wahl eines Schimpfwortes in Bewegung zu setzen.2

Die Eingriffe in die Freiheit des menschlichen Denkens oder genauer gesprochen des Nichtsdenkens, welche das Wesen des Denkzwangs ausmachen, sind im Laufe der Jahre noch wesentlich dadurch verschärft worden, daß das Sprechen der Stimmen in immer langsamerem Tempo geschieht. Es hängt dies zusammen mit der vermehrten Seelenwollust meines Körpers und mit der – trotz aller Aufschreiberei – überaus großen Dürftigkeit des Sprechmaterials, das den Strahlen zur Ueberbrückung der ungeheuren Entfernungen zu Gebote steht, die die Weltkörper, an denen sie hängen, von meinem Körper trennen.

Von dem Grade der Verlangsamung kann sich Derjenige, der nicht die besprochenen Erscheinungen, wie ich, persönlich erlebt hat und noch erlebt, kaum eine Vorstellung machen. Ein »aber freilich« gesprochen »a-a-a a-b-e-e-e-r fr-ei-ei-ei-li-i-i-i-ch«, oder ein »Warum sch ...... Sie denn nicht?« gesprochen »W-a-a-a-r-r-u-m sch-ei-ei-ei-ß-e-e-n Sie d-e-e-e-e-n-n n-i-i-i-i-icht?« beansprucht jedesmal vielleicht 30 bis 60 Sekunden, ehe es vollständig herauskommt. Dadurch müßte in jedem Menschen, der nicht, wie ich auch in der Anwendung geeigneter Abwehrmittel[153] immer erfinderischer geworden wäre, eine nervöse Ungeduld erzeugt werden, die den Betreffenden einfach aus der Haut fahren ließe; nur einen über den Maßen schwachen Abglanz von der den Nerven verursachten Beunruhigung vermag vielleicht das Beispiel zu bieten, daß ein Richter oder Lehrer einen geistig schwerfälligen Zeugen oder Schüler immer vor sich stottern hört und trotz aller Bemühungen nicht zu einer deutlichen Aussprache Desjenigen, was der Gefragte eigentlich sagen will oder soll, zu bringen im Stande ist.

Zu den verschiedenen Abwehrmitteln gehört vor allen Dingen das Klavierspielen und das Lesen von Büchern oder Zeitungen – sofern es der Zustand meines Kopfes gestattet – woran auch die am längsten ausgesponnenen Stimmen schließlich zu Grunde gehen; für diejenigen Tageszeiten, wo dies, wie in der Nacht, nicht gut angängig ist, oder eine Abwechslung in der Beschäftigung zum geistigen Bedürfnisse wird, habe ich in dem Memoriren von Gedichten ein meist erfolgreiches Auskunftsmittel gefunden. Ich habe eine große Anzahl von Gedichten, namentlich Schiller'sche Balladen, größere Abschnitte aus Schiller'schen und Goethe'schen Dramen, aber auch Opern-Arien und Scherzgedichte, u.A. aus Max und Moritz, aus dem Struwelpeter und Spekters Fabeln auswendig gelernt, die ich dann im Stillen verbotenus aufsage. Auf den poetischen Werth der Gedichte kommt es dabei natürlich an und für sich nicht an; jede noch so unbedeutende Reimerei, ja selbst jeder Zotenvers ist als geistige Nahrung immer noch Goldes werth gegenüber dem entsetzlichen Blödsinne, der sonst meinen Nerven anzuhören zugemuthet wird.

Auch bei dem Aufsagen von Gedichten habe ich indessen mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen, die den Erfolg zuweilen beeinträchtigen; man wundert dann gedankenzerstreuend an meinen Nerven dergestalt herum, daß ich den Fortgang der von mir auswendig gelernten Gedichte augenblicklich nicht aufzufinden vermag oder es wird, sobald durch das Aufsagen längerer Gedichte die längsten inneren Stimmen wieder einmal zum Schweigen gebracht sind, und damit der auf der Vereinigung aller Strahlen beruhende Zustand hochgradiger Seelenwollust erzielt ist, von dem niedern Gotte das im vorigen Kapitel beschriebene Brüllwunder in Szene gesetzt, sodaß mir die Lust am weiteren leisen Aufsagen von Gedichten vergeht oder selbst die physische Möglichkeit dazu benommen wird. Ich bin deshalb genöthigt, zeitweise mit den Systemen zu wechseln, gerade so wie außerhalb (von Gottes Allmacht) immer neue Systeme eingerichtet werden, um die Anziehung zu verlangsamen und die zum Schlafe oder der vollen Seelenwollust erforderliche Vereinigung aller Strahlen zu hindern. In neuester Zeit habe ich das anhaltende leise Zählen bis zu einer beliebig hohen Zahl sehr probat gefunden, was freilich auf die Dauer natürlich sehr langweilig ist. Treten, wie nicht selten auch jetzt noch der Fall ist, erhebliche körperliche Schmerzen oder anhaltende Brüllzustände ein, so bleibt als letztes Mittel nur das laute Schimpfen übrig, wozu ich ab und zu[154] schreiten muß, was aber, wie ich zuversichtlich hoffe, in Zukunft immer seltener nöthig werden wird.

Alle die vorstehend beschriebenen Erscheinungen haben im Laufe der Jahre manche Wandlungen erfahren und sind auch jetzt noch dem Wechsel unterworfen, je nach dem Grade der jeweilig vorhandenen Seelenwollust und der Größe der Entfernung, in die sich Gott zurückgezogen hat. Im Ganzen bewähren sich aber auch hier von Tag zu Tag mehr und mehr die Voraussagen, die ich bereits vor Jahren hierüber gemacht habe; als Beweis möge folgender Auszug aus meiner kleinen Studie XIII in dem in Anmerkung 61 erwähnten Notizbuche B dienen:

16. Januar 1898.


»Einstweilen d.h. während der Jahre oder Jahrzehnte, die noch bis zur Entmannung vergehen können, ist die Richtung unserer Politik im Allgemeinen klar. Ganz unzweifelhaft ist, daß es uns mit jedem Jahre, mit jedem Tage, mit jeder Woche leichter wird, gewisse Rückschläge vorbehalten, die damit zusammenhängen, daß draußen die erforderliche Einsicht nicht vorhanden ist, und auch wohl niemals kommen wird vermöge der Verfassung der Gottesreiche und des Seelencharakters und daher immer noch schwächliche Versuche gemacht werden, sich der weltordnungsmäßigen Lösung zu entziehen.«


Wegen ihrer charakteristischen Bedeutung muß ich der oben erwähnten Frage »Warum sch ..... Sie denn nicht?« noch einige Bemerkungen widmen, so wenig decent auch das Thema ist, das ich dabei zu berühren genöthigt bin. Wie alles Andere an meinem Körper, wird nämlich auch das Ausleerungsbedürfniß durch Wunder hervorgerufen; es geschieht dies, indem der Koth in den Därmen vorwärts (manchmal auch wieder rückwärts) gedrängt wird und wenn in Folge bereits geschehener Ausleerungen genügendes Material nicht mehr vorhanden ist, wenigstens die noch vorhandenen geringen Reste des Darminhalts auf meine Gesäßöffnung geschmiert werden. Es handelt sich dabei um ein Wunder des oberen Gottes, das an jedem Tage mindestens mehrere Dutzende von Malen wiederholt wird. Damit verbindet sich die für Menschen geradezu unbegreifliche und nur aus der völligen Unbekanntschaft Gottes mit dem lebenden Menschen als Organismus erklärliche Vorstellung, daß das »Sch .....« gewissermaßen das letzte sei, d.h. mit dem Anwundern des Sch ... dranges das Ziel der Zerstörung des Verstandes erreicht und die Möglichkeit eines endgiltigen Rückzugs der Strahlen gegeben sei. Wie mir scheint, muß man, um der Entstehung dieser Vorstellung auf den Grund zu gehen, an das Vorliegen eines Mißverständnisses in Betreff der symbolischen Bedeutung des Ausleerungsaktes denken, daß nämlich derjenige, der zu göttlichen Strahlen in ein dem meinigen entsprechendes Verhältniß gekommen ist, gewissermaßen berechtigt sei, »auf alle Welt zu sch .....«

Zugleich äußert sich dabei aber auch die ganze Perfidie3 der Politik,[155] die mir gegenüber verfolgt wird. Nahezu jedesmal, wenn man mir das Ausleerungsbedürfniß wundert, schickt man – indem man die Nerven des betreffenden Menschen dazu anregt – irgend eine andere Person meiner Umgebung auf den Abtritt, um mich am Ausleeren zu verhindern; es ist dies eine Erscheinung, die ich seit Jahren in so unzähligen (Tausenden von) Malen und so regelmäßig beobachtet habe, daß jeder Gedanke an einen Zufall ausgeschlossen ist. Mir selbst gegenüber wird dann aber auf die Frage »Warum sch ..... Sie denn nicht?« mit der famosen Antwort fortgefahren »Weil ich dumm bin so etwa.« Die Feder sträubt sich fast dagegen, den formidablen Unsinn niederzuschreiben, daß Gott in der That in seiner auf Unkenntniß der Menschennatur beruhenden Verblendung soweit geht, anzunehmen, es könne einen Menschen geben, der – was doch jedes Thier zu thun vermag – vor Dummheit nicht »sch .....« könne. Wenn ich dann im Falle eines Bedürfnisses wirklich ausleere, – wozu ich mich, da ich den Abtritt fast stets besetzt finde, in der Regel eines Eimers bediene – so ist dies jedesmal mit einer überaus kräftigen Entwickelung der Seelenwollust verbunden. Die Befreiung von dem Druck, der durch den in den Därmen vorhandenen Koth verursacht wird, hat nämlich für die Wollustnerven ein intensives Wohlbehagen zur Folge; das Gleiche ist auch beim Pissen der Fall. Aus diesem Grunde sind noch stets und ohne jede Ausnahmen beim Ausleeren und Pissen alle Strahlen vereinigt gewesen; aus eben diesem Grunde sucht man auch stets, wenn ich mich zu diesen natürlichen Funktionen anschicke, den Ausleerungs- und Pißdrang, wenn auch meist vergeblich, wieder zurückzuwundern.

1

Das Vermögen, dies, wie es die Erregung der Nerven erforderte, sofort im ersten Gesicht (Augenblicke) zu thun, bezeichnete man als »die Fähigkeit, im ersten Gesichte zu antworten.«

2

Nur dann, wenn man sich vorstellt, daß ein Mensch einem anderen Menschen gegenüber unter Anwendung der gewöhnlichen, menschlichen Sprache so verfahren wollte, wie es die Strahlen in der Nervensprache mir gegenüber seit Jahren gethan haben und noch thun, bekommt man eine annähernde Vorstellung, welche maßlose Verletzung der ursprünglichsten Menschenrechte in dem Denkzwange liegt und in welcher alle menschlichen Begriffe übersteigenden Weise meine Geduld dadurch in Anspruch genommen worden ist. Man setzte nur den Fall, daß ein Mensch sich vor einen anderen hinstellen und ihn den ganzen Tag mit unzusammenhängenden Redensarten, wie die Strahlen sie mir gegenüber brauchen (»Wenn nur meine,« »Das war nu nämlich,« »Sie sollen nämlich« u.s.w.) belästigen wollte. Was würde wohl der Angeredete schließlich anders thun, als den Anredenden mit einigen angemessenen Schimpfworten zur Thür hinauswerfen? So müßte es also eigentlich auch mir zustehen, mein Hausrecht in meinem Kopfe gegen fremde Eindringlinge zu schützen. Dies ist aber Strahlen gegenüber eben nicht möglich, da ich ihre auf der göttlichen Wundergewalt beruhende Einwirkung auf meine Nerven nicht zu hindern in der Lage bin. Die (laute) menschliche Sprache, die als ultima ratio zur Wahrung des Hausrechts allerdings verbleibt, kann doch nicht immer ausgeübt werden, theils aus Rücksicht auf die Umgebung, theils weil ein fortgesetztes Lautsprechen jede vernünftige Beschäftigung unmöglich machen würde, theils endlich weil sie in der Nacht die Möglichkeit, zum Schlafe zu gelangen, ausschließen würde. Darauf beruht es denn nun auch, daß man mich durch die Frage: »Warum sagen Sie's nicht (laut)«? oder durch beleidigende Redensarten immer zum Lautsprechen reizen will (vergl. Kap. IX). Uebrigens habe ich in neuerer Zeit, nachdem ich mir über den Zusammenhang der Dinge immer klarer geworden bin, in der That keinen Anstand mehr genommen, bei passender Gelegenheit theils in Gesprächen mit meiner Umgebung, theils im Alleinsein von der lauten Sprache einen immer fleißigeren Gebrauch zu machen.

3

Indem ich hier den Ausdruck »Perfidie« gebrauche, werde ich kaum nöthig haben, an die bereits früher wiederholt (Kap. V gegen das Ende, ferner Kap. XI Anmerkung 74, Kap. XIII Seite 131) u.s.w. entwickelten Ideengänge zu erinnern, nach denen Gott mir gegenüber im – freilich selbst geschaffenen – Stande der Nothwehr handelt und sich daher jeder menschlich-sittlichen Rücksicht zu überheben erachtet.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 156.
Lizenz:
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Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
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Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage:
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
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