22.

Unerreicht ist deine Schönheit,

So wie mein Gefühl für dich;

Freue dich: denn es vermindert

Nimmer diese Schönheit sich.

Mir erscheint es unbegreiflich,

Wie des Denkvermögens Kraft

Sich in irgend einer Weise

Schön'res als dies Schöne schafft.

Weile ich in deiner Nähe,

Wird ein Jahr zum Tage mir,

Und zum Jahr wird die Minute,

Weile ich getrennt von dir.

Was an Lust das Leben bietet

Ernte ich in Fülle ein,

Ist nur Einen Tag des Lebens

Mir vergönnt bei dir zu sein.

Wie, o Seele, soll ich schlafend

Dein so holdes Bild erspäh'n,

Wenn bisher mein Aug' vom Schlafe

Nichts nur als ein Bild geseh'n?

Hab' Erbarmen, denn aus Liebe

Für dein schönes Angesicht

Ward ich kraftberaubtes Wesen

Schmächtig wie des Neumond's Licht.

Klage nicht, Hafis; begehrst du

Mit dem Freund vereint zu sein,

Musst du noch in höh'rem Grade

Tragen der Entfernung Pein.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 3, S. 61-63.
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