55.

Die Sitte ungetreu zu sein

Zeigt klar sich jedem Blick,

Und keine Spur von Freundschaft blieb

Bei Menschen mehr zurück.

Es hält der hochverdiente Mann

– Denn Armuth dränget ihn –

Jetzt jedem niederträcht'gen Wicht

Die Hände bettelnd hin;

Und Keiner, den ein Vorzug schmückt,

Sieht in der jetz'gen Zeit

Sich einen einz'gen Augenblick

Von Kümmerniss befreit;

Allein der Thor lebt immerdar

Im Überfluss und Glück,

Und seine Waare ist gesucht

In diesem Augenblick;

Und wenn ein Dichter Lieder singt,

Klar wie ein Bach nur fliesst,

So dass dadurch stets gröss'res Licht

Sich in das Herz ergiesst,

So reicht doch Sparsamkeit und Geiz

Kein Körnchen Lohn's ihm dar,

Gesetzt er wär' ein Dichter auch

Wie Sünajī es war.

Es raunte in des Sinnes Ohr

Mir gestern der Verstand:

»Geh' hin und leide mit Geduld

In deinem dürft'gen Stand;

Und mache dir ein Capital

Aus der Genügsamkeit,

Und weil du leider dürftig bist,

So trage denn dein Leid!«

Komm, horche diesem Wort, Hafis,

Mit deiner Seele Ohr:

»Erst wenn dein Fuss gestrauchelt hat,

Hebt sich dein Haupt empor.«

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 3, S. 163-165.
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