67.

Dass du ein zweiter Joseph seiest

Behaupteten die Leute dreist:

Bei'm Licht betrachtet aber fand ich,

Dass du bei Weitem schöner sei'st.

Du übertriffst ja durch dein Lächeln,

Das süsser ist als Seines, ihn,

Und glänzest, o Chŏsrēw der Schönen,

Als des Jahrhundertes Schĭrīn!

Vergleichen lässt mit deinem Munde

Die Knospe sich wohl nimmermehr:

Es war ja nie ein Mund der Knospe

So eng und kleingeformt wie er.

Erstaunen fesselt die Cypresse

Bei deinem Wuchs und deinem Gang;

Bewege dich! denn wenn du gehest,

Läufst du ihr vollends ab den Rang.

Durch diesen Mund mich zu beglücken,

Versprachst du hundert Male zwar:

Doch wesshalb, gleich der freien Lilie,

Bist du nur Zunge ganz und gar?

Du sprachst: »Ich werde dich beglücken,

Und auch die Seele rauben dir.«

Doch fürcht' ich, du beglück'st mich nimmer,

Und raubest nur die Seele mir,

Die scharfen Pfeile deines Auges

Durchbohren mir der Seele Schild:

Wer sah wohl jemals einen Kranken

Der mit so straffem Bogen zielt?

Du schleuderst aus der Menschen Auge,

Gleich einer Thräne, jenen Mann,

Den du, und wär's nur auf Momente;

Durch deine Blicke leg'st in Bann.

Es geht Hafis, gleich einem Rohre,

Auf seinem Haupte zu dir hin;

Sprich, willst du gütig nicht ein wenig,

Gleich einem Brief, durchlesen ihn?

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 3, S. 193-195.
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