Sechsundsiebenzigstes Kapitel.

Nur eine Kleinigkeit.

[661] Es war schon Nacht, als Walter mit seinen Erkundigungen in das Hotel des Ministers zurückkehrte. Depeschen wichtigen Inhalts waren diesem kommunicirt worden: Napoleon hatte endlich offiziell dem Berliner Kabinet die Stiftung des Rheinbundes notifizirt mit einer formellen Aufforderung, dieser Konförderation zum Wohl des gesammten Deutschlands beizutreten. Ein bittrerer diplomatischer Hohn ließ sich kaum denken. Eben als Laforest von seiner Meldung zurückgekehrt, hatte er die Serenade der Gensdarmen empfangen!

Walter meinte, daß Laforest zu verständig sei, eine Insulte trunkener Jünglinge anders zu betrachten, als sie war.

»Gewiß,« hatte der Freiherr erwidert, »Napoleon wird um dieser Albernheit willen keine Stunde früher losschlagen, als seine Absicht ist. Aber eben, weil wir und er noch nicht gerüstet sind, weil wir beide die Maske der Freundlichkeit noch nicht abwerfen dürfen, zu welchen Lügen zwingt uns abermals die Unbesonnenheit! Man muß die jungen Leute härter strafen, als nöthig. Hardenberg muß wieder mit süßschwellenden Lippen Betheuerungen unserer freundschaftlichen Gesinnung machen. Das ist der Fluch unserer Gedankenlosigkeit,« setzte er hinzu, »des Allesgehenlassens, daß sich Zustände, Stimmungen entwickeln, die naturgemäß heraus müssen;[661] wir ließen sie zu, wir nährten sie sogar, und wenn es zur Explosion kommt, erschrecken wir, stehen rathlos, und möchten mit Keulen das Kind zurückschlagen, das aus der Mutter Leibe will.«

Der Minister stand wieder am offenen Fenster. Athmete er die frische Herbstluft ein, oder verfolgte sein Auge das sternenbesäete Firmament? Zuweilen schien er auf die Blaseinstrumente zu horchen, deren Töne der Luftzug aus entfernten Tabagieen und Gärten herantrug. Es war immer der Dessauer Marsch.

»Der alte Dessauer sang ja auch wohl die Kirchenlieder nach der Weise! – Es ist Alles hier eine Weise. Das ist's, was den Muth dämpft.« Walter meinte, in Ansichten sei doch eine Musterkarte vorhanden. »Nein, die Uniform ist ins Blut gedrungen. Das ist's! das ist das Uebel. Ein König war einmal ein Wütherich der Sitte, da wurde das Volk puritanisch, ein anderer ein Freidenker, da wurden sie Freigeister. Dann Libertins, zur Abwechselung Träumer, magnetisch verzückt, Geisterseher. Aus Ueberdruß auch wieder tugendhaft, häuslich. Sie wären Encyklopädisten, Freimaurer, bureaukratisch fischblütige Jacobiner geworden, wenn Menken länger gelebt, und Beyme nicht in die Stricke der Andern gefallen wäre! – Und was das Uebelste vom Uebel, sie halten diese Virtuosität des Nachspringens noch für Bravour und Tugend.« – »Und hat nicht diese Virtuosität oder Tugend unsern Staat zu dem gemacht, was er ist?« – »Respekt vor dem Geschlecht, junger Freund! Die großen Männer waren es, die Riesengeister, von jenen Bergen stammend, auf denen auch der Hohenstaufen in die Wolken sah.«

Auch die Stammburg des Ministers schaute von einem Berge in die Wolken. Der Minister musste den lächelnden Zug um seine Augen verstanden haben; es lag wieder etwas wegwerfende Härte in seinem Ton: »Sie können nicht dafür, daß Sie es nicht begreifen. Ihre ganze Erziehung, die Bildung hier ist daran schuld. – Es war ein Experiment, wie es in der Weltgeschichte noch nicht einmal vorgekommen. Daß eine Dynastie, ein Fürstengeschlecht ein Volk machte! Zusammengeleimt widerstrebende Theile mit seinem Blute. Ich sage Ihnen, ich habe den höchsten Respekt vor diesem Blute. Welche Eisentheile, welche Attraktionskraft, Klarheit muß die Schöpferin Natur da einmal in ihrer übermüthigen Laune hineingegossen haben! Aber wenn ein Volk, wenn Stämme, wenn die Natur selbst darüber untergingen, dann erlaube ich mir wenigstens eine Thräne an ihrem Grabe.« –

Nach einer Pause hub er wieder an: »Ich sage Ihnen, ohne Aristokratieen ist kein Leben in der Natur, kein Fortschritt in der Menschheit. Die Weltgeschichte wäre ein mongolisch-chinesischer Brei, ohne Halt, Erhebung, tragische Größe. Wenn man die Kirchtürme abbricht und die Schornsteine höher mauert, die Berge[662] planirt und mit Schubkarren Hügel aufführt, ist das Ersatz? Was wäre der Erdball ohne sein Granitgerippe, das ihn zusammenhält gegen Orkane und Fluthen, Wälle gegen Sonnenbrand und Steppensand! Wo entspringen die Flüsse? In dem ewigen Schnee, der auf ihren Firnen lagert. Die Menschennatur ist nicht anders. Hab' ich eine Stimme wie die Catalani? Sind Sie schön wie Adonis? Können wir's uns geben? Sie würden mich, ich Sie einen Thor nennen, wenn wir danach trachteten. Wohin hat die Gleichmacherei der Jacobiner geführt! Frankreich seufzt unter einem neuen Marschallsadel; so dünn plattirtes Gold es sei, das Volk muß es von seinem Schweiße hergeben, wie es die Säckel der Direktoren füllen, die Guillotinen mit seinem Gelde bauen musste! Ist der alte Adel darum todt? Er lauert nur, und lässt seine Nägel wachsen, ums wieder an sich zu scharren, wenn die Gelegenheit kommt. Das die Wirkung der Impetuosen.«

»Hier liegt aber vor uns die Arbeit eines Jahrhunderts und darüber. Wir sehen nicht mehr die Arbeit, nur das fertige Werk.« – »Ist es fertig?« – Er schüttelte den Kopf. – »Was wäre der schönste Gliederbau werth, dem der Kopf fehlte? – Man fängt an, auf Friedrich zu schmälen. Man hat Unrecht, auch der wackere Arndt irrt. Was er als Sünde des Individuums züchtigt, war nur der Instinkt des Blutes, es war die wunderbare Aufgabe der Dynastie, die Naturen und ihre Summitäten zu ertödten, um aus sich heraus allein das Werk zu erschaffen. Wär's ihnen gelungen, gelingt es ihnen, dann sind sie im Recht, es war eine Mission, eine Aufgabe von Gott, aber –«

Das plötzliche Verstummen des Ministers war nicht von den Zeichen begleitet, welche den Willen, ein Gespräch abzubrechen, andeuten. Er wollte Widerspruch. Walter aber lenkte es von einer Seite ab, von der er wusste, daß sie für den Freiherrn immer empfindlich war. Er lenkte es auf die Fragen hin: ob denn die großen Reorganisationspläne des Staatsmannes grade in dem kritischen Augenblicke an der Zeit seien?

»Jetzt oder nie!« fiel der Freiherr ein. »Preußens Geschichte laß ich als eine seltene Rarität unberührt. Wir empfingen das Werk mit dem Stempel, den seine Schöpfer darauf gedrückt. Diese Schöpfer sind todt. Und wenn sie als Geister aus ihren Grüften um uns schwebten, sie könnten uns doch nicht zuflüstern, was wir thun müssen, denn ihre Kenntniß ist aus ihrer Zeit. Wir müssen aus der schöpfen, die ist. Ein stolzes Orlogschiff schaukelt im stürmischen Meere. Seine Kapitäne und Steuerleute sind gestorben, ihre Papiere verloren, selbst die Traditionen, wohin es steuern müsse, sind es. Was soll man thun? Die Hände in den Schooß legen, es den Winden überlassen, wohin sie treiben? – Ja, dann[663] verdienten sie, Mann und Maus, elendiglich auf dem Wrack umzukommen. – Nein, das Volk wird zusammentreten, berathen, die Tüchtigsten aus sich, die Erfahrensten, die Kühnsten auswählen, sie in die Masten schicken, ihnen das Steuer in die Hand geben, und, mit Gott, sie werden thun, was an ihnen ist, sich und das Fahrzeug zu retten. – Ein solches Schiff ist Preußen, ein solcher Augenblick ist dieser. – Jetzt gilt es das Volk aufrufen, jetzt oder nie. Erwacht, erwägt, was es Euch ist, dies Vaterland, ob es werth, daß Ihr Alles dran setzt, Alles, nicht nur Gut und Blut, auch die Gewöhnung, das eingeschrumpfte Dasein, den Stolz. Sie müssen neu geboren, sie müssen wieder Kinder werden, um der Gnade empfänglich.« – »Und wenn das Volk den Ruf nicht hörte!« – »So haben wir gerufen, und der Schall vibrirt fort durch die Luft – er weckt nach uns, Andre werden uns hören, wenn wir längst untergegangen.«

Der Freiherr ging wieder in Gedanken versunken auf und ab. Er blickte noch einmal zum Fenster hin aus, und das Sternenlicht schien wieder seine Ruhe und Klarheit auf das charakterfeste Gesicht des Mannes gehaucht zu haben, als er zurückkehrend sich Walter gegenüber am Tische niedersetzte. »Wir dürfen uns nicht in Empfindungen verlieren, es drängt. Nehmen Sie wieder die Feder –« Walter schrieb – hingeworfene Sätze, die von den Lippen des Ministers, wie ein immer lebendigerer Quell, sprudelten. »Gedenken Excellenz auch dieses Memorial durch die Hand der Königin an die höchste Stelle zu befördern?« – »Ja, die Königin – wenn sie –!« Die Gedanken flogen, sie drängten und überstürzten sich, konvulsivisch, wie die Bewegungen der Lippen. »Und warum es uns verhehlen, was eine nur zu sichere Ahnung uns sagt! Auch dieser Versuch wird scheitern! Zu einem Titus in Tagen des Friedens war er geboren. Die Zeit forderte einen Sulla. Dieser bürgerliche Gerechtigkeitssinn reicht aus in Zeiten, wo das Rechte aufhört. Daß es da ein Höheres giebt, was der geweihte Priester aus den Wolken greifen muß, wer darf ihn tadeln, daß ihn Gott zu diesem Glauben nicht geweiht. Er hat eine Scheu vor außerordentlichen Schritten – es wird ad acta gelegt werden wie das andere. Sollen wir darum nicht unsere Pflicht thun? – Wir werden Napoleon unterliegen.« – »Seiner Uebermacht?« – »Nein, unserer Unmacht! Unserm Dünkel, der den im Sturm und Donner neu schaffenden Gott nicht sieht. – Schreiben Sie weiter –« »Und mit dieser Vorahnung –« »Vorbewusstsein,« korrigirte der Minister, »will ich ihnen einen Spiegel hinhalten. Desto besser, wenn sie ihn im Zorn zerschlagen, weil sie so hässlich darin aussehen. Wenn die Zuchtruthe des Herrn über sie kommt, lernen die Völker beten. Mit Gebet allein aber, mit dem Insichgehn ist's[664] nicht gethan, sie sollen aus sich herausgehn. An Verstand hat's nicht gefehlt, aber an Muth, ihn auszuprägen. Wir werden nicht ernten, aber säen wollen wir. Der Krieg wird die Saat zerstampfen, aber ein Körnlein geht doch auf.«

Es war lange nach Mitternacht, als Walter die Feder niederlegte. Es war nicht ungewöhnlich, daß der Minister nach gallichten Ergüssen seiner Heftigkeit selbst die Gescholtenen zur Widerrede aufforderte. Zur Ruhe zurückgekehrt, hörte er sie auch ruhig an. Walter glaubte, daß er in mehreren Punkten die Wirklichkeit schwärzer gemalt, als sie sei.

»Das ist nur der Fluch der Parteistellung. Im Eifer fliegen wir über das Maß hinaus, in der Anschuldigung wie in der Vertheidigung. Es lässt sich nicht anders thun, der redlichste Wille wird unterthan dem Zwecke. Götter sind wir nicht, und der Allmächtige wird wissen, warum er uns nicht Engelsseelen gab. – Uebrigens solcher Liederlichkeit ist auch Gift ein Heilmittel. Heim braucht jetzt Arsenik, wenn das kalte Fieber absolut nicht weichen will.«

Walter legte aufstehend die Papiere zusammen. Die Sitzung war geschlossen.

Draußen klirrten Schleppsäbel auf dem Pflaster, junge Offiziere, von einem verspäteten Zechgelage heimkehrend, gingen lachend und singend vorüber.

»Es sind Theilnehmer an der Bravade von heut darunter,« sagte Walter, der sich dem Fenster genähert hatte. »Sie sind des Erfolges sicher.«

Der Minister legte seine Hand auf Walters Schulte: »Und welchen andern, mein Freund, hätte diese Bravade gehabt, wenn ein Jahr früher! Damals hätte es zünden müssen. Damals, als das Pulver gestreut lag. Laforest hätte seine Pässe fordern müssen, es ging nicht anders. Hardenberg hätte sie ihm auf der Stelle zugesandt – der Sturm war los, die Schleusen gebrochen, und die Sonne von Austerlitz wäre anders untergegangen! Warum trieb der Champagner ihr Blut nicht durch die Adern! – Warum da nicht? Warum zu spät? Das sind die Fragen, die unsere Philosophie aus ihren Angeln heben.«

Der Ministerialsekretär war schon aus der Thür, als er ihn wieder zurückrief. »Ich wollte Sie nur um einen kleinen Dienst bitten, klein für Sie, groß für mich. Es liegt mir viel, sehr viel daran, daß Bovillard Zutritt bei Hofe erhält. Grade jetzt, wenn das Memorial eingeht. – Er wird eigensinnig bleiben. – Thun Sie mir da den Gefallen und gehn zu dem schönen Mädchen, ich meine seine Braut. Stellen Sie ihr die Sache ernstlich vor, daß ihr eigen Glück davon abhäugt, seine definitive Placirung. Wenn sie um Audienz bei der Königin bittet, wenn sie das Sentiment,[665] ihre eigne Herzenslage schildert, wird es ihr nicht schwer werden, auch Luisens Herz zu rühren. Die Lafontaineschen Romane spuken da noch immer. Ein Familienjammer ist außerordentlich wirksam. Sie kann ja auch einfließen lassen, daß nur auf diese Weise die Abneigung des alten Bovillard zu bewältigen ist.«

Walter schwieg: »Liegt denn Euer Excellenz so – überaus viel an –« »An Kleinigkeiten,« fiel ihm der Freiherr ins Wort. »Die Kieselsteine, die in ein Räderwerk, der Staub, der in eine Taschenuhr fällt, soll der Müller und der Uhrmacher sie liegen lassen, weil er der Vortrefflichkeit seiner Maschinen vertraut? Ja, Lieber, der Staatsmann, der auf die Kleinigkeiten nicht zu achten brauchte, wäre größer, als je Einer in der Welt es war. Sie sind da, um unsern Scharfsinn wach zu halten, und der sie nicht ergreift, wo sie ihm günstig sind, versündigt sich vor dem, der sie ihm in die Hände spielte. Also morgen schon, wo möglich.« – »Excellenz, wie komme ich dazu?« – »Sie waren ja ihr Lehrer. Einige Schmeichelworte, einige Autorität. Einem so beredten Lehrer schlägt eine Schülerin nichts ab.« – »Excellenz, diese Aufgabe –« »Kostet Sie Ueberwindung. Desto ehrenwerther. Haben Sie vielleicht selbst einmal – zu tief in die schönen Augen geblickt? – Um so schöner noch Ihre Aufgabe. Wir sind Alle zur Entsagung geboren.«

Quelle:
Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländische Romane, Berlin: Otto Janke, 4[1881], Band 7, S. 661-666.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!

Buchempfehlung

Anonym

Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upanishaden. Indische Philosophie Band 5

Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upanishaden. Indische Philosophie Band 5

Die ältesten Texte der indischen Literatur aus dem zweiten bis siebten vorchristlichen Jahrhundert erregten großes Aufsehen als sie 1879 von Paul Deussen ins Deutsche übersetzt erschienen.

158 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon