Religion

[78] »Christliche Demut und Ergebenheit« ist durch Nichts hienieden zu erzwingen; das ist eine zufällige Angelegenheit der von den Eltern und Urgroßeltern mitbekommenen zufällig genialen Nerven-Kräfte! In diesen Dingen gibt es keine »Philosophie«, nicht einmal eine »Anständigkeit«! Ob ich lieber mein Butterbrot einem noch Hungrigeren überlasse als ich es bin, ist »Schicksal meiner Nervenkraft«, das heißt ganz einfach, ob es mich mehr sättigt, daß er es ißt als ich! Über diese Art von »echtestem Christentum« darf man ja eigentlich naturgemäß gar nicht öffentlich sprechen oder schreiben, da sich ja jeder Dritte, jede Erste, empfindlichst getroffen fühlen würden, und vor allem verletzt, beleidigt! »Echtes Christentum« heißt, das Geschäft, das einzige richtige hienieden zu machen, daß, einem Anderen einen Lebens-Dienst zu erweisen, für ihn glückseliger, wertvoller ist als es sich selbst zu erweisen! Ich beneide Niemanden um seinen »scheinbar richtig kalkulierten Egoismus«. Er ist »falsch kalkuliert«.

Die Buchführung über fremde Lebens-Schicksa le: Peter Altenberg, Wien I, Grabenhotel.

Wer in »seelischen Dingen« falsch kalkuliert, an Dem muß es tragisch irgendwie, irgend-einmal ausgehen! Der Heiland ist nicht umsonst für die Menschheit am Kreuze, leise ächzend, gestorben, sondern Er wußte, wofür Er zugrunde ging! Wehe den Menschen, die ihr eigenes Wohlergehen für wichtiger halten als das der Million [79] Enterbter, Ausgeschlossener! Essětai Hémăr, der Tag, das Tagen wird anbrechen, wo wir »Enterbten« die einzige Führung übernehmen!!! Möge es baldigst »Tag werden« in der düsteren Nacht der heutigen angeblichen Menschheit!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 78-80.
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