Stunden der schlaflosen Nacht

[136] Nun richtig, Du hast Dein »heiliges Schlafmittel« zur Benützung, Paraldehyd 20 Gramm, Du könntest Dir sogleich, blitzschnell, Schlaf, Vergessen, für 11 Stunden verschaffen. Aber, eben weil Du es kannst, willst Du es erfahren wie es ist, wenn Du schlaflos bleibst! Die Fenster sind weit offen und die Nachtluft ist angenehm, staubfrei ...

So Mancher jedoch glaubt, man müsse bei »Goldman und Salatsch« ausstaffiert werden, bei »Wundderer« seine »Dessous« beziehen und bei »Helene von Zimmerauer« oder »Franz Löwy« seine Photographien; Alles Dieses erscheint in schlaflosen Nachtstunden unnötig. Das Leben erscheint Dir, da Du das »Paraldehyd« nicht rechtzeitig nimmst, als eine lächerliche Aufgeblasenheit, und das Wort »Exzellenz« macht Dich nicht mehr erschauern. Du erhältst den Mut, richtig, logisch, folgerichtig zu denken, Du verachtest Deine Geliebte oder bist wenigstens nicht mehr eifersüchtig, Du hältst einen guten Wolle-Mantel für ebenso wärmend wie einen Pelz, und bewunderst keine Dame, die einen ganzen Paradiesvogel auf ihrem Hute befestigt hat. Paradiesvögel sind kostbar schön lebend in Tiergärten. Wenn Du aber »schlaflos« bist, erscheinen Dir als »Gespenster« alle lächerlichen Eitelkeiten, Borniertheiten, Vorurteile dieser schamlos frechen Welt! Wenn Du schläfst, überschläfst Du es. Aber wenn Du, statt zu schlafen, wachst, dann erwachst Du! Nimm also lieber doch rechtzeitig Paraldehyd, 20 Gramm, 8 Uhr abends, auf daß Du um 6 Uhr morgens für die Blödsinne dieses Daseins ausgeschlafen und gewappnet bist!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 136-137.
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