Die Selbstlosigkeit
(ein hygienisches Märchen)

[150] Er hatte eine sehr träge Verdauung, schwere Störungen der Darmnerven, obzwar er sonst ganz gesund war. Und da er sehr reich war, so zog er denn aus, die Fee der Gesundheit zu befragen – – –. Und die Fee der Gesundheit sagte zu ihm: »Ehe du nicht die Medizin ›Selbstlosigkeit‹ findest, kannst du nicht errettet werden von deinem Leiden!«

Und so begab er sich denn auf die Suche nach der Selbstlosigkeit. In vielen, vielen Fällen glaubte er sie schon gefunden zu haben, aber stets erwies es sich schließlich nur als »krasser Egoismus« und seine Darmtätigkeit konnte nicht gebannt werden. Das machte ihn bereits ganz melancholisch. Und eines Tages lernte er einen bettelarmen Dichter kennen mit einer ganz jugendlichen Darmnervenkraft.

Der Dichter sagte zu ihm: »Siehe, ich denke einfach immer an das Wohl der künftigen Menschheit!«

»Wie, derjenigen, die kommen werden, wenn du selbst gar nicht mehr existieren wirst und die Würmer dich bereits angenagt haben?!?«

»Ja, derjenigen! Das verleiht mir meine Darmnervenkraft!«

Da machte der reiche Mann sogleich ein Testament zugunsten des »Vereins für mißhandelte Kinder« –.

Aber seine Darmnerven versagten ihm dennoch den Dienst wie immer.

Da erschoß sich der reiche Mann aus Verzweiflung und verfluchte die lügenhafte Fee und den lügenhaften Dichter. Aber beide fanden sich dennoch auf[150] seinem Grabe betend ein und der »Verein für mißhandelte Kinder« schickte ein Abordnung von drei erlösten geretteten in Weiß gekleideten Kindern, die für den unbekannten Spender inbrünstig beteten.

Ihr werdet mich nun um die Moral fragen?!?

Gewisse Herzen können erst im Tode, also testamentarisch, Gutes stiften. Zeit ihres Lebens stehen sie im dunklen Banne ihrer selbst!

Ferner: Keine Selbstlosigkeit belohnt sich jedoch, die nicht »freudigen Herzens« geschieht.

Und endlich: Unsere Darmnerven üben in uns eine Art von physiologischer Moral aus, sie belohnen und sie strafen jegliches Vergehen gegen die »göttliche Natur im Menschen«![151]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 150-152.
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