Für die, denen es Geschah

[325] Das Leben war an ihr vorübergeglitten, hatte sich einfach nicht aufgehalten bei ihr, war vorbeigestürmt, hinaus, irgendwohin; und sie sass in ihrem Zimmer, im Kinderzimmer, im Jungfrauengemache, im ehelichen Schlafsaale, und hörte gleichsam die zugeschlagenen Thüren, die verhallenden Tritte des vorbeisausenden Lebens – – –.

Siehe mit welcher Gier Qecksilbertropfen in einander über fliessen, Wasserstoff mit Sauerstoff sich vereinigt oder andere chemische Liebespaare unter fürterlicher Hitzeentwicklung und mit Gebrause und Feuerschein sich verbinden! Aber bei ihr fanden nur mechanische Verbindungen statt, die Elternliebe, die Geschwisterliebe, die Freundinnen, die Gouvernanten, die Lehrer auf dem Podium, die Hofmacher, der milde edle Gatte, das süsse Kindchen in blauseidener Wiege!

Aber nirgends chemische Verbindungen unter schrecklichem Gebrause und Feuerschein, Erlösungen von unhaltbaren Spannungen, wie Lyddit-Bomben sich erlösen und befreien, wenn das Schicksal es befiehlt!

Da kam Einer.

Sie stand am Fenster, sah ihn vorübergehen.[325]

Tag und Nacht stand sie gleichsam auf der Lauer. Das Glück – – – war die Minute, da er vorüberkam. Das Leben – – – war die Minute, da er da war. Das Unglück – – – war die Minute, da er wegging.

Er kommt; er geht; er geht; er kommt; ein Leben! Und magisch angezogen von ihren heiligen Sehnsuchts-Kräften, kam er näher, näher, näher. Er konnte nicht anders als näherkommen. Gleichsam beim Fenster, wo sie zum erstenmale auf sein Vorüberkommen wartete, zog sie ihn hinein mit ihrer sehnenden Seele, hinauf über die glatten Wände, an den Gesimsen hinauf, hinauf, hinein in ihr Gemach, in ihre Arme!

Er kam und ging. Er kam wieder und ging. Er ging und kam nicht wieder.

Und die Welt, dieser Dilettant, analysirte diese chemischen Anziehungskräfte und Erlösungen von Spannungen und Wieder-Auflösungen, die da stattgefunden hatten in diesen heiligen Retorten, und hielt es für einfache mechanische Verbindungen, die man so oder so hätte stellen können und nichts wäre gewesen! Und wenn man zu dieser Welt sagte: »Aber, bitte, Wasserstoff und Sauerstoff – –?!?«, so erwiderte dieselbe; »Sind Menschen Elemente?! Nun also!«

Das eine chemische Element aber, welches sich losgelöst hatte, theilte dieser Dilettanten-Welt mit, dass es die Dame nie geliebt habe und nie daran gedacht habe, sie zu heirathen! Eine Sirene, eine Circe ganz einfach![326] Diese Erklärung war er sich und seiner Stellung schuldig!

Jawohl!

Die junge Frau sass verlassen und verstossen auf einem Sessel im vereinsamten Gemache.

Ja, das Leben war gekommen, hatte Halt gemacht, hatte beseeligt und zerstört, entfernte sich nun, gleichsam befriedigt. Sie hörte wieder verhallende Tritte und die zugeschlagenen Thüren.

Sie hatte ihm also Alles geschenkt. Dem Geliebten!

Und er nahm und ging und kam nicht wieder und verhöhnte sie öffentlich, vor der Dilettanten-Welt!

Da erhob sie sich von ihrem Sesselchen, ganz gerade, streckte ihre Arme aus, ihre Hände, ihre Finger, und sagte: »Ich fluche Dir«

Dann kauerte sie auf dem Boden. Plötzlich aber sah sie ihr früheres Leben sich nähern wie ein Gespenst, eigentlich wie einen mechanischen Hampelmann, – – – – die Elternliebe, die Geschwisterliebe, die Freundinnen, die Gouvernanten, die Herren Lehrer, die Hofmacher, den milden edlen Gatten,

Und dann sah sie sich wieder am Fenster stehend, wartend, wartend, wartend, wartend – – –.

Da erhob sie sich aus ihrer Kauerstellung, ganz gerade, streckte ihre Arme aus, ihre Hände, ihre Finger, und sagte: »Ich segne Dich!«

Quelle:
Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 325-327.
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