Wolfgang-See

[288] Das Schilf steht Abends so schrecklich stille, wie verdüstert und in sich selbst versunken! Wie erschöpft von unbeschreiblichen Traurigkeiten!

Die beiden Herren im kleinen Boote waren ganz gedrückt. Die junge Dame aber jammerte: »Weg vom bösen Schilfe, oh weg, weg – – –.«

Und Nachts sagte sie aus den Träumen: »Das Schilf, das Schilf, oh weg, weg – – –.«

Die beiden Herren wachten an ihrem Lager, während sie vom Schilfe phantasirte.

Der Jüngere fühlte: »Siehe! Eine wirkliche Märchen-Prinzessin, die vom verzauberten Schilfe träumt – – –!«

Der Aeltere dachte: »Der Märchenprinzessinnen-Trick ganz einfach! Um romantisch zu bluffen! Immerhin gut und geschickt gespielt. Bravo.«

Am nächsten Morgen aber sagte der Jüngere zu dem Aelteren: »Sie, ist es nicht vielleicht doch nur ein Trick, diese poetische Emotion mit dem Schilfe!? Um romantisch zu verblüffen?!«

Der Aeltere erwiderte: »Sehen Sie, mein Lieber, Sie sind um so viel jünger als ich, haben bereits[288] gar keine Poesie und Phantasie mehr! Sie blasphemiren! Eine wirkliche Märchen-Prinzessin ist sie!«

»Oh bitte, erwähnen Sie es ihr gegenüber nie, dass ich auch nur einen Augenblick lang es für einen Trick halten konnte?!?«

Später sagte der Aeltere zu der Dame: »Es war ein Trick, diese Emotion mit dem Schilfe. Aber gut gespielt!«

»Schändlicher! Haben Sie das vielleicht dem Jüngeren gesagt?!?«

»Jawohl. Aber er wollte mich ohrfeigen dafür! Er sagte, Sie seien eine wirkliche Märchen-Prinzessin.«

Da bekam die Dame wirklich ein Märchenprinzessinnen-Antlitz!

»Sehen Sie,« sagte der Aeltere, »das ist kein Trick!«[289]

Quelle:
Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 12–131924, S. 288-290.
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