Billet an Dorchen.

[212] Wie lebst du Dorchen denn, du kleine Klosternonne,

Hübsch fromm, und keusch, und still, und froh auf eig'ne Hand?

Hat beim Spazierengeh'n dir nicht die Frühlingssonne

Die weiße Haut schon sehr auf Stirn' und Hals verbrannt?

Blüh'n deine Wangen noch wie junge Frühlingsrosen,

In deren rothen Schooß kein Sonnenstrahl noch sah?

Kommt auch kein Stutzerchen, vertraut dir liebzukosen,

Mit gar zu freier Hand dem Busen gar zu nah?[212]

Hast du zur Einsamkeit dich ruhig schon bequemet?

Bekommt die Landluft dir, macht dich das Landbrot fett?

Hat Strick- und Nähzeug noch kein Fingerchen gelähmet,

Und kräuselst du noch jetzt dein seid'nes Haar so nett?

Wird auch der Busen dort so grausam eingeschnüret,

Der Parasol, wie hier, nur bloß im Schrank bewahrt?

Ist alles, was Natur an dir voll Reiz gruppiret,

Und ich entzückt einst sah, noch fleischig, glatt und zart?

Was macht das heil'ge Land, das jenes Thal beschattet,

Um das sich Wohlgeruch, so wie um Ceylon gießt,

Wo mit den Grazien der Liebesgott sich gattet,

Und sicher, wie der Kern in Pfirschen, sich verschließt?[213]

O Dorchen, könnt' ich doch die süße Pfirsich küssen,

Und in ihr Kämmerlein, wenn's tausendmal geküßt,

Sein Pförtchen öffnet, gleich recht warm das Steinchen schließen,

Das beim Gedank an dich nie kalt und dürre ist.

O Dorchen, könnt' ich dich an dieses Herz jetzt drücken,

An deinem Busen meines Glücks mich ganz erfreu'n –

Wird auch kein And'rer je ein Pfirsichreischen pflücken?

O laß doch Blüthe, Laub und Frucht für mich nur sein!


Anonym.[214]

Quelle:
Nuditäten oder Fantasien auf der Venus-Geige. Padua [o. J.], S. 212-215.
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