Denkzettelchen

in Phyllis Schatzkästlein.

[209] Ohn' dir die weiche Hand, die weiße Brust zu küssen,

Hab' ich dich, Phyllis, jüngst verlassen müssen!

Für mich, o Mädchen, welch ein tiefer Schmerz;

Auf deinen Lippen wohnt allein mein Leben,

Wenn unter Küssen sich die Marmorhügel heben,

Dann wallt vor Freude auch mein Herz –

Bald werd' ich lange dich gar nicht mehr sehen,

Dann wird vielleicht die Winterluft,

Die dich zu Contretanz und Schlittenfahrten ruft,

Die kleine Flamme ganz verwehen,

Die Flamme, die zu meinem Glück[209]

In manchem schönen Augenblick

Dein Herz noch wärmt – dann wird der Sommer meines Lebens

Nur eine lange Klage sein,

Dann blüht für mich der Lenz vergebens,

Dann wird um mich ein ew'ger Winter sein! –

Sieh, Phyllis, jene überschneiten Hügel,

Sie luden uns, so lang' als Zephyrs Flügel

Ihr grün Gebüsch durchwehte, zum Spaziergang ein.

Doch jetzt umbrausen sie des Nordwinds Flügel,

Die Büsche trauren blätterleer,

Kein Sterblicher besucht sie mehr;

Da steh'n sie jetzt verwaist die nachbarlichen Hügel –

So werd' ich auch die Marmorhügel,

Wo jetzt Empfindung wohnt und Rosenknospen blüh'n,

Von weitem sehn, vor ihrer Kälte flieh'n. –

O welch ein Gram für mich, wenn diese Busenhöhen[210]

Kein Lenz der Liebe mehr für mich umblüht,

Wenn sie ein And'rer küßt, ganz ihren Reiz zu sehen,

Den weißen Flor von ihren Schultern zieht!

O Mädchen, laß doch nie von mir entfernt den Winter

Dein Herz mit Eis für mich umzieh'n,

Wenn du mich wiedersiehst, dann wall' dein Blut geschwinder,

Und Liebe laß auf deinen Wangen glüh'n.


Anonym.[211]

Quelle:
Nuditäten oder Fantasien auf der Venus-Geige. Padua [o. J.], S. 209-212.
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