CLV.

[202] 1. Der wechter der blies an den tag,

auff hoher zinnen da er lag,

wolauff jüngling denn es ist zeit,

da jhr zwey liebgen bey einander seit,

sie scheiden sich bald,

es taget vor dem grünen wald.


2. Fraw nachtigal singt jhren thon,

als sie fürbas auch pflag zu thun,

darbey spür ich des tages schein,

wolauff es mag nit anders sein,

es taget fast,

ich laß euch hie kein ruh noch rast.


3. Der jüngling lag so hart und schlieff,

der wechter vermeldt jhn also tieff,

er hört des wechters grosse klage,[202]

in liebges armen da er lag,

umfangen schon,

schöns lieb wie sol es uns ergahn.


4. Den tag ich an dem wechter spür,

schöns lieb fürwar das sag ich dir,

darumm ist mir ein harte buß,

das ich mich von dir scheiden mus,

dem hertzen mein,

der tag bringt uns ein schwere pein.


5. Nun hör gesell was ich dir sag,

es ist noch nit der liechte tag,

der mond scheint durch die wolckenstern,

der wechter betrübt uns beyde gern,

das sag ich dir,

die mitternacht ist noch nit hier.


6. Der knab erfrewet sich der wort,

er sprach mein allerhöchste hort,

mit weissen armen er sie umbfieng,

bis jrer beyder wil ergieng,

zu derselben frist,

du mir schöns lieb die liebste bist.


7. Er truckt sie freundlich an sein brust,

sie lebten jres hertzen lust,

mit weissen armen umbfangen schon,

schöns lieb wie sol es uns ergahn,

das frag ich dich,

der tag bringt uns schwere pein.

Quelle:
[Anonym]: Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582. Stuttgart 1845, S. 202-203.
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