II

[20] Wir hatten den frommen Vater Angelicus in der Altstadt verlassen, wo er in den dichten Haufen, welche die Quais der Donau sich hinabwälzten, unsren Augen entschwunden war. Wir finden ihn bald darauf jenseits des Flusses, in der Leopoldstadt wieder, wie er mit langen Schritten, die, obgleich keinesweges den Schein von Eile verrathend, ihren Besitzer doch sehr schnell weiter beförderten, auf den Gasthof zum »goldenen Lamm« zusteuerte. Hier angekommen, fragte er den Portier, ob kein Brief für ihn abgegeben sei.

»Nein, ehrwürdiger Herr« – erwiederte dieser, respektvoll die goldbetreßte Kappe ziehend. –[20]

»Hat auch Niemand in meiner Abwesenheit nach mir gefragt?« Der Pater schien mit der Antwort auf diese Frage, die ebenfalls verneinend ausfiel, unzufrieden und wollte sich eben nach seinem Zimmer begeben, als des Portiers Zuruf ihn zur Rückkehr bewegte. »Eines habe ich vergessen, ehrwürdiger Herr; aber es ist auch kaum der Rede werth. Es war allerdings Jemand hier, der nach Ihnen fragte; aber da es ein zerlumpter junger Bursche war, der wahrscheinlich nur betteln –

»Gerade den erwartete ich« – unterbrach der Pater den verblüfften Thürsteher. – »Ich bin,« sagte er, sei nen Fehler bemerkend mit salbungsvollem Ton hinzu, »für die Hungrigen und Entblößten immer zu Hause. Ihr habt Unrecht gethan, ihn hart fort zu weisen.«

»O, habe ich gesagt, daß ich ihn hart fort gewiesen? Nein, ehrwürdiger Herr, das sei ferne von mir. Ich glaube übrigens, daß er nicht weit sein wird, denn solch Lumpengesindel lungert überall umher.«[21]

Der Pater warf einen strafenden Blick auf den menschenfreundlichen Thürsteher, der diesen zum Schweigen brachte und befahl, ihm den armen Knaben sofort zuzuführen, sobald er sich zeigen werde.

Brummend und kopfschüttelnd kehrte der Portier wieder in seine Klause zurück und war eben im Begriff, sich dem vorhin unterbrochenen Schlummer von Neuem hinzugeben, als ihn ein Klopfen am Fenster seiner Bude abermals störte.

»Ach, da bist Du ja wieder, Du kleiner schwarzer Taugenichts« – fuhr er auf – »hast wohl schon gewittert, daß Se. Ehrwürden zurückgekehrt ist, he?«

Der Angeredete war ein Knabe von etwa 15 Jahren. Sein wunderlich finsteres Aussehen und der frühreife Ernst in seinen dunkeln braunen Zügen mußte einen – man wußte nicht ob anziehenden oder abstoßenden – Eindruck auf Jeden, der ihn zum ersten Male sah, machen. Sein langes rabenschwarzes Haar fiel in vollen und glänzenden Locken auf den braunen Hals und[22] Schultern herab, die von einem zerrissenen Hemdkragen nur schlecht verhüllt wurden. Seine übrige Kleidung war sonst fragmentarisch: ein Paar faltige, weiße, weite Beinkleider von grober Leinwand und eine abgetragene blaue Sammetjacke mit kurzen Schößen und blanken Messingknöpfen. In je schlechterem Zustande sich diese Stücke befanden, um so mehr stach davon eine rothseidene Schärpe ab, welche der Knabe sich um den Leib gewunden und deren mit goldenen Franzen besetzte Enden kokett über die linke Hüfte herabhingen. Ein italienischer Strohhut, den er in diesem Augenblicke in der Hand hielt und ein Paar Schnürstiefeln, die noch in passablem Zustand waren, vollendeten die Toilette des Knaben.

»Pater Angelicus ist zu Hause?« – fragte er mit dem Accent eines Südländers, ohne die Höflichkeiten des Portiers eines Wortes zu würdigen. – »Welche Nummer?«

»Nummer 21, vorn heraus, eine Treppe« – brummte der Portier.[23]

Mit einigen raschen Sprüngen eilte er die Treppe hinauf und öffnete, ohne anzuklopfen, mit geräuschloser Hand die Thür und verschloß sie in derselben Weise. Darauf ging er langsamen Schrittes auf den Pater zu, welcher, an einem eleganten Büreau sitzend und mit Schreiben beschäftigt, entweder das Eintreten des Knaben gar nicht gehört hatte, oder, mit seiner Weise schon bekannt, sich darüber nicht verwunderte.

»Buen tio« – sagte der Knabe, indem er sich mit einem Knie auf den Teppich an der Seite des Paters niederließ und einen Kuß auf dessen Hand drückte. Pater Angelicus wandte seinen Kopf und sah mit einem Blick leidenschaftlicher Zuneigung auf das schwarzlockige Haupt in seinem Schooße herab.

»Bist Du endlich gekommen, Salvador! – – Was macht Inés, Deine Mutter? Hat sie mir nicht geschrieben?« –

Salvador richtete sich empor und griff in seine Schärpe. Aus den Falten der rechten Seite zog er einen zierlichen Brief.[24]

»Allá, Sennor« – sagte er, dem Pater den Brief überreichend. Dieser beschaute mit der größten Sorgfalt das Siegel, dessen Wappen aus zwei Rosen bestand, darüber eine Grafenkrone, darunter die Worte: El no tiene fortuna ni go tampoco1. Er lächelte bitter, als er diese Worte las und erbrach darauf den Brief. –

»Gut« – sagte er mit zufriedener Miene – »Wann wird die Sennora hier eintreffen, Salvador?« –

»Noch heute Abend« – erwiederte der Knabe in seiner Muttersprache, obwohl er deutsch verstand und sprach, so bediente er sich desselben doch nur im Nothfalle.

»Und sie ist wohl, mein Sohn, nicht wahr?« – fragte der Pater, jetzt ebenfalls spanisch redend, mit einer an Zärtlichkeit grenzenden[25] Milde. – »Este corazon orgulloso no se puede rompes2,« erwiederte Salvador mit zitternder Stimme, indem sich seine Augen senkten. »O tio« – fuhr er fort, indem plötzlich seine schlanke Gestalt sich aufrichtete und sein Nacken die schwarzen Locken zurückwarf – »Ich bin stolz auf meine Mutter. Wann aber wird der Tag kommen, wo die stolze Inés sagen kann: Ich bin stolz auf meinen Sohn« – Seine Augen sprühten ein vulkanisches Feuer und seine Hand fuhr krampfhaft nach seinem Herzen. – Der Pater folgte dieser Bewegung mit aufmerksamem Auge. –

»Ruhig, Salvador, mein Sohn. Es wird die Zeit kommen. Siehst Du dort den Vollmond sich aus den dunkeln Fluthen der Donau erheben? Wohlan, höre, was ich Dir sage. Bevor er zum 5. Male um diese Zeit an dieser nämlichen Stelle steht, wird Dein Dolch das Herzblut dessen[26] getrunken haben, der das Herz Deiner Mutter gebrochen hat.«

»Este corazon orgulloso no se puede rompes« – murmelte der Knabe, indem er langsam die Hand von der Schärpe sinken ließ. –

»Du hast ihn nie gesehen, Salvador?« –

»Nie.«

»Du wirst ihn heute sehen, Salvador.«

Der Knabe taumelte einen Schritt rückwärts. Sein Gesicht überzog eine Leichenblässe. Seine Brust hob sich in krampfhaften Zuckungen. Abermals fuhr er mit der Hand nach der linken Seite. Dann lächelte er verächtlich, kreuzte die Arme über einander und sprach mit verhaltener Stimme, als wollte er seine innere Bewegung verbergen:

»Ich höre tio« –

»Du bist ein braver Junge, Salvador – und Deiner Mutter würdig. – Was ich Dir zu sagen habe, ist kurz. Heute Abend halb 9 Uhr wirst Du mich in die Stadt begleiten. Du wirst mich in ein Haus hineingehen sehen und mich dort erwarten. Du wirst mich mit einem Manne,[27] der mir zur rechten Seite gehen wird, wieder herauskommen sehen. Auf der Donaubrücke werde ich ihn verlassen. Sieh ihn Dir genau an, Salvador. Dieser Mann ist's, den Du suchest.«

Die intelligenten Augen des Knaben waren mit ängstlicher Sorgfalt auf die Lippen des Paters geheftet gewesen, als wolle er jede Silbe tief in sein Inneres einsaugen.

»Und was soll ich mit dem Manne thun, Sennor?« –

»Du wirst suchen, in seinen Dienst zu treten, Salvador.« Einen halb ängstlichen, halb verachtenden Blick des Knaben übersehend, fuhr er fort:

»Hier hast Du Geld, Du wirst Dich davon kleiden, wie es hier Sitte ist. Du begreifst, mein Sohn, daß Dein jetziger Aufzug Dich nur auffällig macht und Verdacht erregt. Gedenke Deiner Mutter und des Gelübdes, welches Du mir abgelegt. – Und nun lebe wohl, um 1/2 9 Uhr findest Du mich hier.« Salvador war während der Rede des Paters in einem tiefen innerlichen[28] Kampfe begriffen. Die letzten Worte aber schienen seinen Entschluß befestigt zu haben; denn er küßte mit heftiger, leidenschaftlicher Innigkeit die Hand des frommen Vaters und war bald darauf ebenso geräuschlos, als er gekommen, aus der Thür verschwunden. Pater Angelikus aber schien in tiefes Nachdenken versunken. Ein Seufzer endlich, der unwillkürlich, wie ein schwermuthsvoller Gruß an ehemaliges Glück, seiner Brust entstieg, brachte ihn wieder zum Bewußtsein der Gegenwart zurück. Er nahm den Brief, küßte ihn mit einer Inbrunst, die man von diesem verknöcherten kalten Manne, in dem alle Leidenschaften längst abgestorben schienen, nicht erwartet hätte, und legte ihn dann sorgfältig in eine verschließbare Brieftasche, die er sofort zu sich steckte. – Darauf setzte er sich – es war indeß dunkel geworden – in die Ecke des Sophas und überließ sich von neuem seinen Träumereien. –[29]

1

Deutsch etwa: »Er hat kein Glück mehr, aber ich auch nicht.«

2

»Dies stolze Herz ist nicht zu brechen.«

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 1, Mannheim 1849, S. 20-30.
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