Das Zaunköniglein.

[242] Der Vögel muntere Schaar entschloß sich einsmals, ein Oberhaupt zu wählen, und einen aus ihrer Zahl zum König zu machen. Sie versammelten sich demnach in einer einsamen Gegend, um da Rath zu halten; und, damit sie um so ungestörter verhandeln könnten, stellten sie an allen Orten Wachen aus; die Raben mußten die Wege und Straßen besetzen, die Störche auf den Thürmen der Dörfer und Flecken in die Ferne sehen, die Schnepfen in den Wäldern auf guter Hut seyn, und sogar die Spatzen auf einzelnen Bauernhöfen Wacht halten. Bei der Nacht schrie der Hahn die Stunden aus, die Nachteule machte die Runde bei Hecken und Stauden, und der wachtbare Guckuck stand auf der verlornen Schildwacht.

Drei Tage verstrichen, bis die ältern und verständigern Vögel dieses Ratherkenntniß faßten: Derjenige sollte zur königlichen Hoheit erhoben werden, den die freigebige Natur mit dem schönsten Kleid angethan hätte. Da hätte man nun sehen sollen, mit welcher Sorgfalt sich die Vögel beeifert, sich schön heraus zu putzen und ihre Gestalt zu verherrlichen. Sie flogen wechselweise an den Fluß, der an ihrem Wahllager vorbei floß, und wuschen und badeten[242] sich, und fiederten ihre Flügel, und suchten alle Federlein an ihrem Leibe aus, und tauchten wieder ins Wasser, und trockneten sich an der Sonne, und reinigten und putzten sich wiederum, bis sie kein Fehl mehr an sich sahen. So dauerte es drei Tage; und sie traten in den Kreis, und jeder hoffte, daß er zum Könige erwählt werde. Am ersten Tage konnte man glauben, daß der Pfau den Preis davon tragen würde; denn wenn er sein Gefieder ausspreitete, so verlugten sich schier Aller Augen in den strahlenden Augen seines Schweifes. An dem andern Tage trat der indianische Rabe auf, und ließ sein purpurnes Gefieder an der Sonne spielen; und es schien, als wenn er allen obsiegen werde wegen seiner schönen Gestalt.

Niemand hatte mehr Lust, einen Wettstreit einzugehen, als die geschwätzige Aelster, aber ihr Federkleid hatte gar keinen Geschmack von der Welt. Doch was vermag die Arglist nicht und die Eitelkeit? Am dritten Tag ging sie an den Fluß, und nahm die Geiwitze (Kibitz) mit sich. Hier suchte sie mit allem Fleiße die schönen Federlein zusammen, welche die andern Vögel abgelegt; und die Geiwitze mußte ihr als Kammermädchen dienen, und ihr die raresten, in weißem Pech eingetaucht, an ihrem Leib ankleben. Zur Belohnung versprach sie derselben einen sichern[243] Dienst in ihrem Reiche, wenn sie die Krone erhalten sollte wegen ihres Aufputzes. Also geziert und geschmückt kehrte sie ins Lager zurück, und spazierte mit bedachten Schritten einher, daß sie von allen gesehen werden konnte, und fast jeder bewunderte die Pracht ihres Gefieders, und meinte, daß nichts Schöneres gedacht werden könnte. Denn sie war auch mit aller Kunst herausgeputzt; auf ihrem Kopfe trug sie eine Krone, welche aus grünen, rothen, gelben und bläulichen Federn, gleich den kostbarsten Juwelen, gebildet war; die Flügel und der Rücken war bedeckt mit purpurfarbenen Federlein, der vordere Leib aber mit goldfärbigen, mit weißen und röthlichblauen unterlegt, welches wie eitel Silber und Gold schimmerte; an dem Halse bis auf die Brust hing die allerschönste Halszierde, welche aus Pfauenaugen zierlich gebildet und gerundet war; der Schnabel sah aus, wie Elfenbein, weil sie ihn aus ihren eigenen schneeweißen Federlein bedeckt hatte; endlich ihre Füßchen waren mit hellgelben Federlein des Canarienvogels überzogen, und ihr Schweif glich dem des Papagei's. So geschah es denn, daß, als am vierten Tage die Wahl vor sich ging, die Aelster fast einstimmig zur königlichen Würde erhoben wurde. Nur der Papagei machte eine Einrede und widersetzte sich; er sagte, daß weder in Afrika, noch[244] in Asien, noch in Europa ein solcher Vogel je gesehen worden wäre; er zweifle stark, ob nicht ein Betrug dahinter stecke; wenn man die Probe ihm überlassen wolle, so werde er es schon zu machen wissen, daß die Wahrheit an den Tag komme. – Als nun am Morgen des fünften Tages sich alle Vögel einfanden, um ihre Huldigung darzubringen, so stellte der Papagei das ganze Federvolk in einer flachen Ebene in Ordnung, und wies dem neuerwählten König einen kleinen Grashügel zum Platze an, von wo aus er alle Vögel übersehen konnte; und der Papagei selbst, der ein kluger Hofmann war, hielt eine zierliche Rede an die versammelte Vögelschaar, von der Macht des Herrschers und vom Gehorsam der Unterthanen; und er zog seine Rede so aus einander, bis endlich die schwüle Sonnenhitze zu wirken anfing, und, nach geschmolzenem Pech, die Federchen der Aelster, wie Schweißtropfen, herab fielen. Welch ein Spektakel! Die Aelster stund ganz beschämt da; der Betrug lag vor Augen; sie mußte allen Schimpf und Spott ertragen. Drauf wurde Standrecht über sie gehalten, und das Urtheil fiel dahin aus: Es sollte von nun an bis auf alle ewigen Zeiten die Aelster verwiesen seyn, und keine Stadt mehr betreten, und in einem Trauerkleid, schwarz und weiß, auf dem Lande umher fliegen im Elend. Die Mitschuldige,[245] die Geiwitze, erhielt den Bescheid: Sie sey sofort verdammt und verwiesen auf das nasse Ried und auf das öde Moos; Trauerkleidern soll sie auf ewig ihre Schuld beweinen, und Tag und Nacht mit kläglicher Stimme seufzen: Wehe mir! wehe mir!

Nachdem das Urtheil an der Aelster und an ihrer Mitschuldigen vollzogen war, und der Habicht und der Geier sie hinaus gejagt hatten in die Wildniß, so schritten die Vögel zu einer neuen Wahl. Anfangs waren sie der Meinung, man solle demjenigen die Krone aufsetzen, der die andern alle in der Stimmkunst übertreffen werde. Allein es erhoben da mit Einem Male alle Singvögel ihre Stimme, und sangen so laut und grell durch einander, daß man keines Vogels Stimme mehr unterscheiden konnte; die Nachtigall selbst mußte schweigen, und entfloh in einen fernen Busch, um dort ungehört fort zu singen; und zuletzt, nachdem sie sich alle heiser gesungen, ließ nur noch der Gimpel seine Stimme hören, und das Spötterlein, das ihn ausspottete. Wer wollte aber diese zu Königen haben? Da nahm der schlaue Papagei das Wort wieder, und sagte: Es hätten die Singvögel von der langen Herreise den Strauchen oder Schnuppen gekriegt: und überhaupt könne man keinen gewissenhaften Unterschied zwischen den kleinen allerliebsten Zuckerfressern machen.[246]

Also wurde letztlich der einhellige Entschluß gefasset, daß man jenen zum König machen wolle, der mit seinen Flügeln zu höchst gegen die Sonne sich erschwingen könne. Indem sich nun alle Vögel zurichteten, um in die Wette zu fliegen, und ein großes Geflatter und Gedräng wurde im Lager: da mußte sich das kleine und verächtliche Zaunschlüpferlein gar sehr ducken und schmucken, daß es nicht von den größern Vögeln zertreten oder von ihren Flügeln zerschlagen ward. In des Herzens Angst nahm es seine Zuflucht auf den Rücken des Adlers. Jetzt wurde von den Lerchen, wie von Trompetern, das Zeichen gegeben; und sieh! mit Einem Male, daß schier die Sonne verfinstert wurde, rauschten nach Hunderten die Vögel durch die Luft in die Höhe. Aber die wenigsten konnten den Zuschauern aus den Augen kommen, so ermatteten sie schon. Der Adler allein rang mit dem Falken um die Krone. Gähling fing auch der Falk an zu sinken; darauf sich der Adler zu dreien Malen in einem Kreis herum schwang, als wollte er die Sonne begrüßen, und flog dann, wie ein schneller Pfeil, zur Erde nieder. Das Zaunschlüpferlein aber, das auf des Adlers Rücken sich verborgen hatte, nahm erst recht seine Kräfte zusammen, und schwang sich weit über den Adler zu allerhöchst gegen die Sonne, und ließ sich dann ganz[247] sanft aus den Lüften herunter. Das hatte allein der Falk mit seinen scharfen Augen bemerkt. Wie nun im Vogellager ein großer Jubel sich erhob, und alle den Adler als ihren König begrüßten: da stürzte sich, wie ein Blitz, der Falk aus der Höhe herunter, und brachte die unerwartete Botschaft, daß dem kleinsten aus allen die Krone gebühre von Rechts wegen; und er erzählte den seltsamen Hergang der Sache. Die Vögel verwunderten sich drob, und erklärten zuletzt: daß zwar dem Adler die Krone gebühre, als dem, der den gewaltigsten und höchsten Flug habe, daß aber billigerweise das Zaunschlüpferlein, weil er zu höchst geflogen, den Titel führen, und von nun an Zaunköniglein heißen soll. Diese Nachricht hinterbrachte ihm alsogleich der Falk; und wie das kleine Vögelein jetzt näher kam, so flogen ihm die Singvögel alle freudig entgegen, und priesen ihn mit ihren klingenden Stimmlein, und huldigten ihm als ihrem König und Herrn. Hierauf, nach diesem prächtigen Vorgang, machte sich alles Federvolk aus einander; denn es war an der Zeit, daß jeder seine Sommerfrist beziehen mußte.


* * *
[248]

Quelle:
Ludwig Aurbacher: Ein Büchlein für die Jugend. Stuttgart/Tübingen/München 1834, S. 242-249.
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