XIII.

[831] Soden, den 25. Mai


Eine Anekdote darf nie zu Fuße gehen, sie muß sich zu Pferde setzen und im Galoppe davoneilen. Aber es gibt Menschen, die brauchen längere Zeit, ein Geschichtchen zu erzählen, als die Zeit Zeit braucht, es geschehen zu lassen. Das sind die Generalpächter der Langeweile, die nicht dulden, daß ein anderer, der nicht von ihrer Gesellschaft ist, auch nur das kleinste Langeweilchen einführe.

– Der Bionom Butte gibt der Menschheit eine Lebensdauer von zwanzigtausend Jahren, welches nicht sonderlich großmütig ist. Hätte es Herrn Butte etwas gekostet,[831] sie zwanzigtausend Millionen Jahre leben zu lassen? Was nützt es uns übrigens, die Lebensdauer der Menschheit zu kennen, da wir darum doch nicht wissen, wie weit sie noch vom Tode hat, weil wir ihre schon verlebten Jahre nicht gezählt haben? Die Frau Menschheit ist gewiß älter, als sie gesteht, ob man zwar, da sie eine echte Schwäbin ist, glauben sollte, sie wäre noch keine vierzig Jahre alt. Herr Gruithuisen in München ist doppelt so freigebig als Herr Butte. Nach ihm würde der Mond in dreißig und etlichen tausend Jahren der Erde einen Besuch machen; es muß also angenommen werden, daß alsdann die Menschheit noch leben wird. Ließe sich denken, daß der Mond ein ausgestorbenes Haus besuchen oder eine so weite Reise machen sollte, bloß um eine Träne am Grabe der Menschheit zu weinen? Nimmermehr. Diese etliche und dreißigtausend künftigen Jahre, mit den schon verlebten zusammengerechnet, machten also vierzigtausend. Wer hat nun recht, Herr Butte oder Herr Gruithuisen? Das ist eine Sache, worüber wir vernünftigen Leute nicht urteilen können; diese Frage gehört vor das Tollhaus.

Bonifaciopolis nannte ein Kirchenrat Petri die Stadt Fuld in einem Liede, das er der abgereisten Landesmutter bei einem »Natur – und Staatsfeste« nachgesungen.


Landesmutter und Kirchenrat,

Bonifacius, Natur und Staat,

Geistlicher, betrunkene Gäst –

Sprich! wie reimt man das am best'?

Bonifacius kam aus England;

Landesmutter ist verbannt;

Kirchenräte treiben Tand;

Dem Staate ist zur linken Hand

Natur getraut in manchem Land;

Woher viel Übel stammen. –

So reimt sich das zusammen.[832]


– Das Leben Carnots von Körte, das ich in diesen Tagen gelesen, hat mir die alte Überzeugung verjüngt, daß bei der gegenwärtigen Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft ein tugendhafter Mann dem Staate durchaus keinen Vorteil bringt. Carnot war ein edler Charakter, im reinsten antiken Stile gebildet; er war uneigennützig, Jeder Regung seines Herzen, jeder eignen Meinung entsagend; er gehorchte immer den Gesetzen, er gehorchte selbst jeder Obrigkeit, sobald diese sich der Macht bemächtigt und vom Volke anerkannt war; er hatte mehr das Vaterland im Auge. Und doch muß man sich gestehen, daß, wenn Carnot seinem Vaterlande gute Dienste geleistet, er dieses nicht durch seine Tugend, sondern trotz ihr getan, und daß jeder Schurke von Talent das gleiche mit gleichem Nutzen für die öffentliche Sache hätte vollbringen können. Es ist eigentlich selbst in unseren Tagen nicht das Wesen der Tugend, das man gering schätzt, sondern nur ihr Schein, weil er, mit allen Einrichtungen im Widerspruche stehend, sich lächerlich darstellt. Auch der reinste Ton klingt widerlich, wenn er sich in eine Harmonie mischt, die ihm fremd ist. Wenn Carnot, da er einst als Kriegsminister mit einer Lieferantengesellschaft einen Kontrakt für den Staat abgeschlossen, wenn dieser das in Frankreich bei solchen Anlässen immer üblich gewesene Geschenk nicht annimmt, einen Beutel mit dreitaußend Louisdors zurückgibt und man die Spitzbuben von Lieferanten ins Fäustchen lachen sieht, – wenn er ein anderes Mal unter der räuberischen Direktorialregierung von einer Summe, die ihm zu einer Amtsreise gegeben worden, nach seiner Rückkehr dasjenige Geld in den Staatsschatz zurückschickt, das ihm übriggeblieben – muß man dann nicht bei aller Bewunderung solcher Tugend etwas spötteln? Ein tugendhafter Bürger, der heute der öffentlichen Sache dienen will, bedarf einer größern Entsagung als[833] im Altertum, denn er muß ein Opfer bringen, das selbst der Tugend zu schwer fällt; er muß seine Ehrlichkeit mit der Maske der Spitzbüberei bedecken. Den erhabensten Charakter eines guten Bürgers und wie ihn die alten Zeiten nicht hatten, hat uns Cooper in seinem Spion aufgestellt. Viele andere haben für das allgemeine Wohl einen schmerzlichen Tod erduldet; aber Coopers Spion allein hat für sein Vaterland ein schmerzvolles Leben geführt!

Wie verzweifelnd die Lage Napoleons nach seiner Rückkehr von Elba gewesen, zeigt sich in nichts mehr, als daß er Carnot zum öffentlichen Dienste verwendete und ihn lieben und achten lernte. Aber solche Zeit der Not kann für alle Fürsten eintreten, und es wäre daher sehr weise, wenn sie in ihrem Schatze, unter ihren Kronjuwelen auch einige Seltenheiten von ehrlichen Menschen aufbewahrten und neben ihren geheimen Räten auch geheime Widerräte besoldeten. Die Höfe haben so viele Sinekur – Stellen – warum errichtet man nicht auch ein Ministerium der tugendhaften Angelegenheiten?

– Das Herz kömmt jeden Morgen warm und mürbe aus dem Backofen des Bettes, und abends ist es kalt, hart und trocken, wie eine alte Semmel. Der Morgen, der Frühling des Tages, schmilzt die Bosheit des vorigen Abends weg. Ach! wenn der Schlaf nicht wäre, es wäre besser ein Krebs sein, als Mensch und unter Menschen leben!

– Eine Kutsche fährt in den Hof; darauf ein Turm von Schachteln gebaut. Das ist ja prächtig, es sind Frauenzimmer! Ich lag mit meiner langen türkischen Pfeife am Fenster des ersten Stockes und klopfte mutwillig mit dem Pfeifenkopfe auf einen Hutsarg. Da war es mir, als flüsterte eine Geisterstimme zu mir hinauf: ich räche den Frevel! Eine kleine weiße Hand reichte eine Viertelstunde lang bewegliches Gut aus dem Wagen. Es war zum Sterben vor Ungeduld. Man klopfte an meiner Türe,[834] ich wendete mich um, und als ich wieder hinaussah, war der Wagen leer, und der Nachzug eines grünen Schleiers schwebte ins Haus hinein. Wie heißt sie? frug ich den Wirt. – Madame Molli. – Wer ist ihr Mann? – Sie ist Witwe. – Witwe! sehr schön; aber eine Madame! Das ist schlimm. Ich besitze funfzig Komödien von Scribe, die ein vollständiges Linnéisches System von allen Witwengattungen in der Natur aufstellen. Aber Scribes Witwen sind alle von Adel: Frau von Coulanges, Gräfin von Rozières, Marquise von Depre. Wer lehrt mich mit einer bürgerlichen Witwe umgehen? Ich versuche es. Bin ich doch jetzt der einzige Mann im Bade. Die Krankheit hat einige interessante melancholische Züge in meinem Gesichte zurückgelassen, und die Weiber trösten gern. Ich werde ihr unter den Bäumen begegnen und trübsinnig mit verschränkten Armen, ohne zu grüßen, an ihr vorübergehen. Ich fülle meine Taschen mit Kreuzern und verteile sie rechts und links an die Dorfarmut. Ja, ich kann in einiger Entfernung von ihr meine Uhr unter dem Rocke hervorziehen, sie küssen und an mein Herz drücken. Das Gold blinkt in der Sonne, und sie wird es wohl für ein Medaillon ansehen. – Eine abwesende Geliebte? Oder ist sie tot? – O, das wirkt! Bei Weibern ist die Liebe so oft eine Tochter als die Mutter der Eifersucht. Und vor allen du, mächtige Göttin, siegreiche Langeweile – du zauberst ihr wohl etwas von meiner Jugend, meiner Schönheit, meiner Liebenswürdigkeit vor. Aber wer mag die andere sein? Ihre Tochter? Nicht möglich. Warum nicht möglich? Ich weiß schon nicht mehr, was ich spreche. Ihre Schwester, ihre Cousine, ihre Freundin – gleichviel. Zwei, umso besser. Ich muß mich heute noch sehen lassen. Ihr Fenster geht nach dem Garten. Ich sitze in der Laube, lese Pfisters Geschichte der Deutschen und streiche eine Träne aus meinen Augen. Das Buch ist hellblau gebunden und kann etwas Romantisches[835] vorstellen. Sie bemerken mich gewiß. Heute sprechen sie von mir, morgen über mich, übermorgen mit mir, in drei Tagen zu mir. Schließ deine Rechnung mit dem Himmel, Witwe; dein Herz ist mein; kein Gott kann dich retten!

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 831-836.
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