XV.

[840] Soden, den 30. Mai


Was mich in Paris am meisten ansprach, war die Vermischung der Stände. Ich sah in einem Glase alle Bestandteile der bürgerlichen Gesellschaft vereinigt: das zog sich an, stieß sich ab, gärte, zischte, schäumte, und am Ende mußte jeder von seiner Natur etwas ablassen und von der fremden etwas annehmen. Ich sah das Leben einmal auf dem nassen Wege, ich kannte früher nur das auf dem trockenen. Aber nicht bloß dieser chemische Prozeß machte mir Freude, sondern auch so mancher unauflösliche Deutsche, der daran keine Freude fand. Von den vielen unter uns, die keinen neben sich dulden können und die, wenn sie keinen Herrn vor sich und keinen Diener hinter sich haben, sich für verlorne Menschen halten und wimmern – traf ich mehrere in den Pariser Gesellschaften. In ihrer Angst, die feindlichen Stoffe zu vermeiden und die freundlichen im Wirrwarre aufzufinden, wußten sie gar nicht, wo sie sich hinwenden sollten, und gleich einer vom Wasserstrudel ergriffenen Nußschale drehten sie sich um sich selbst und kamen nicht von der Stelle. Diesen gefiel es gar nicht in Paris, und sie waren recht froh, als sie wieder nach Hause kamen, jeder in seine heimatliche Schublade, worin jeder trocken blieb und alles galt.

Es trat einmal ein deutscher Freund noch spät abends mit lautem Lachen in mein Zimmer und erzählte mir: er habe bei Lafitte zu Mittage gegessen und unter den Fremden wäre auch ein halbes Dutzend Frankfurter Bankiers gewesen, zur Hälfte christlichen, zur Hälfte jüdischen Glaubens. Lafitte dachte seinen Frankfurter[840] Gästen keine größere Artigkeit erzeugen zu können, als wenn er sie alle nebeneinander setzte, und so kam durch eine fürchterliche Erderschütterung ein Frankfurter christlicher Kaufmann neben einem jüdischen zu sitzen. Die Christen verloren alle Haltung, rutschten auf ihren Stühlen unruhig hin und her und bekamen Zuckungen in den Ellenbogen. Zuletzt aber brach die auf Lebenszeit eingesperrte Artigkeit gegen Juden in der Verzweiflung durch und warf alles vor sich nieder. Der eine Jude, ein neckischer Mensch, versuchte mehrere Male seinen christlichen Nachbar zur Besinnung zu bringen und ihn durch das einfache Mittel, daß er ihn um den Schinkenteller bat, gelind daran zu erinnern, wer sie beide eigentlich wären und was sie unterscheide. Aber es half alles nichts, die Christen in ihrem Taumel blieben höflich den ganzen Abend. Ja nach dem Essen nahm jeder seinen jüdischen Landsmann unter den Arm, ging mit ihm im Kaffeesaale auf und ab und erkundigte sich auf das freundschaftlichste nach dem Befinden der Kanzen und Restanten.

Ein anderes Begegnis hatte ich in Paris mit einem deutschen Baron. Zwischen Edelleuten und Bürgerlichen alles gleich gesetzt: Herz, Geist, Bildung, Sitte, ziehe ich den Umgang des Edelmanns dem des Bürgerlichen vor, wie den Sonntag dem Wochentage. Beim Bürgerlichen ist alles Geschäft, selbst das Vergnügen; beim Edelmanne alles Vergnügen, selbst das Geschäft. Ich hasse daher keinen Edelmann, ich hasse nur alle Edelleute, und nicht wegen ihrer Fehler, die wir Bürgerlichen ja auch haben, sondern wegen ihrer schönen Eigenschaften, die sie ihren Vorrechten verdanken.


Jemand lieb' ich, das ist nötig;

Niemand hass' ich; soll ich hassen,

Auch dazu bin ich erbötig,

Hasse gleich in ganzen Massen.[841]


Aber jenen Baron hasse ich nicht bloß massiv, sondern auch insbesondere. Er war ein Prototyp von Hochmut, und dem Hochmute gegenüber bin ich ein Prototyp von Ungeduld. Ich lernte ihn in den Bädern von Ems kennen, und er mich. Bei Tische häufte er einmal Knochen auf einen Teller, rief seinen Bedienten herbei und befahl ihm laut vor zweihundert Menschen, er solle das dem Hunde bringen. Der junge Bauerssohn hatte mehr Ehre als der Edelmann und ward rot vor Scham. Ich ward blaß vor Ärger, häufte auch von meinen Resten einen Teller voll, reichte ihn dem Bedienten und sagte: Ich hoffe, der Hund werde auch bürgerliche Knochen nicht verschmähen. Der Baron schwieg ganz still. »Il n'y a pas de réparation« – hörte ich einmal im Konzerte zu Frankfurt eine alte Gräfin zu einem jungen Gesandtschaftsattaché sagen, als er ihr mit Lachen erzählte, es habe ihn soeben jemand einen Schlingel geheißen, weil er einen Stuhl habe wegziehen wollen, auf den sich »sa bourgeoise« gelehnt.

Zu gleicher Zeit befand sich ein Hofrat in Ems, der die närrische Leidenschaft hatte, nach den Wappensiegeln aller adeligen Familien zu jagen. Er drängte sich an jeden Edelmann und kroch so lange an ihm herum und bettelte, bis ihm der gnädige Herr sein Petschaft rot oder gelb abdruckte. Er nannte jeden Edelmann einen Baron, jeden Baron einen Grafen, zu jedem Grafen sagte er Ew. Erlaucht, und zu jeder Erlaucht Ew. Durchlaucht. So kam er auch in meiner Gegenwart zum Baron, der von alter Familie war, fragte ihn nach den Verzweigungen seines Geschlechts und bat gehorsamst um ein Siegel. Der Baron sagte es ihm mit Vergnügen zu, worüber ihm aber seine Zigarre verlöschte. Der dankbare Großsiegelbewahrer flog nach dem Lichte und brachte einen brennenden Fidibus zurück. Bei dieser Gelegenheit nahm ich mir die Freiheit, mich etwas über adlige Wappen lustig[842] zu machen und fragte unter andern: woher es käme, daß meistens Vieh darauf vorkomme? Man sollte glauben, meinte ich, die Stifter der edlen Familien seien alle Viehhändler, Jäger oder Menageriewärter gewesen. Das wäre wohl leicht möglich – bemerkte ein anderer Plebejer, der noch naseweiser war als ich. Der Baron nahm uns das sehr übel; aber sprach kein Wörtchen. Was wollte er tun? Il n'y a pas de réparation zwischen einem Bürger und einem Edelmanne.

Der Baron war sehr kränklich und für seine Gesundheit noch ängstlicher besorgt, als nötig war. Er scheute die freie Luft, den Wind, die Sonne, die Nähe des Flusses, war jeden Abend um sieben Uhr schon in seinem Zimmer und schloß die Fenster präzise mit Sonnenuntergang. Er war besonders auf seinen Kopf bedacht, den er selbst bei Tische mit einem roten ledernen Jakobinermützchen bedeckt hielt und mit dessen schwarzer Troddel er etwas kokettierte. Nun geschah es, daß der Herzog von Clarence, der damals in Ems war, zu Ehren einer jungen und schönen Prinzessin ein kleines Fest im Freien gab. Alle Edelleute unter den Badegästen waren dazu eingeladen. Meinen Baron hatte man vergessen, er war in Verzweiflung. Als endlich um zwei Uhr mittags noch keine Einladung gekommen, ging er in den Garten zum Badekommissär, der die Einladungsliste für den Herzog verfertigt hatte, und fragte ihn, warum er allein zurückgeblieben sei? Der Kommissär entschuldigte sich, und als gerade ein Lakai des Herzogs die Straße heraufkam, ging er ihm entgegen, zog den Hut vor ihm ab und bat ihn höflichst, gegenwärtigen vergessenen Baron nachträglich zu seiner Hoheit einzuladen. Der Lakai fragte nach seiner Wohnung, der Baron erwiderte, er ginge eben nach Hause, ging wirklich dahin, und der Lakai folgte ihm. Als er unter der Türe seiner Wohnung gekommen, blieb er stehen, drehte sich um und ließ sich einladen. Ich[843] bewunderte die chinesische Geistesgegenwart sowohl des Lakaien als des Barons.

Die Gesellschaft des Herzogs wurde im Garten der vier Türme gehalten, der zwischen der staubigen Landstraße und dem zugluftigen Flusse liegt. Ich unter vielen andern Maulaffen stand vor der Gartenmauer und sah der Herrlichkeit zu. Es war lauter edler Pathos und keine einzige phthisis ignobilis dabei. Ich konnte mir gar nicht erklären, wie eine hochgeborne Brust die Schwindsucht bekommen könne, und der vorübergehende Brunnenarzt, dessen Weisheit ich in Anspruch nahm, sah sich erschrocken um und fragte mich, ob ich des Teufels wäre? Der Herzog hatte den Hut auf, alle übrigen Herren, selbst kleine regierende Fürsten waren unbedeckt, mit dem Hinterkopfe der sengenden Julisonne, mit dem Vorderkopfe der windigen Lahn bloßgestellt. So standen sie zwei Stunden lang regungslos wie die Hermen; sie machten keinen Schritt. Die Prinzessin, eine liebenswürdige und lebhafte Dame, ging umher und wechselte einige Worte mit den Gästen; aber an unseren Baron kam diese Ehre nicht. Ich war vor Erstaunen außer mir, daß ein so kranker und ängstlicher Mensch seine Gesundheit und Ruhe einer fruchtlosen Eitelkeit aufopfern und sich in eine Gesellschaft einbetteln mochte, in der er so wenig bemerkt wurde als ich, der ich außen stand. Aus Schadenfreude drückte ich den Hut recht fest in den Kopf hinein und hielt das Schnupftuch vor dem Munde, um an die Gefahr des Staubes und des Windes zu erinnern. Der Baron stand hinter der Gartenmauer, mir ganz nahe, bemerkte meine diätetischen Maßregeln und sah mich mit neidischen und kummervollen Blicken an. Den andern Tag war er krank, ernsthaft oder in der Einbildung, und blieb im Bette.

Diesen Baron fand ich in Paris in der Abendgesellschaft einer Herzogin. Als ich bei meiner Runde ihn bemerkte,[844] ging ich artig, ja freundschaftlich auf ihn zu, wie man sich in der Fremde immer freut, auch dem gleichgültigsten Bekannten zu begegnen. Er aber, als wäre er in einem deutschen Bade, wo sich die Adligen von den Bürgerlichen absondern, als hätten sie die Krätze – sie oder sie – wendete sich um und wollte mich nicht gesehen haben. Ich kam gerade aus dem Varietés und war voll der schönsten Malicen. Ich machte eine halbe Tour um den Baron, bis ich seinem Gesichte gegenüber kam, reichte ihm die Hand und sagte: man cher Baron, ich bin ungemein erfreut, Sie hier zu finden. Dann moncherte ich ihn den ganzen Abend sehr laut und wich ihm nicht von der Seite. Als die Partien arrangiert wurden, zwang ich ihn, Ecarté mit mir zu spielen. Die Herzogin kam auf einige Minuten an unseren Tisch. Ich stand auf, nahm den Baron bei der Hand und sagte: Ich empfehle diesen Freund und Landsmann Ihrer Güte; er ist nach mir der liebenswürdigste aller Deutschen. »Sie sind sehr bescheiden« – erwiderte die Herzogin. Ich durfte mir aber schmeicheln, daß dieser Fächerschlag dem Baron gegolten und nicht mir. Der Baron war so entzückt und verwirrt, als die Herzogin mit ihm sprach, obzwar deren Adel zwanzig Jahre jünger war als sie selbst, daß er, ohne es zu bemerken, mit dem Arme eine seiner vier Marken wegschob. Dadurch überholte ich ihn im nächsten Spiele, und er verlor die Partie, welches mir große Freude machte.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 840-845.
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