Einundsiebzigster Brief

[480] Paris, Sonntag, den 22. Januar 1832


Es widerfährt mir seit einigen Tagen das Sonderbare, daß ich an zwei Briefen für Sie zu gleicher Zeit schreibe. Der eine gegenwärtige liegt auf dem Pulte, vor dem ich stehe, und der andere liegt auf dem Schreibtische, an dem ich sitze. Die Abwechselung ist artig und unterhält mich. Nach einigen Sätzen gehe ich vom Stehbriefe zum Sitzbriefe oder zurück und setze bald den einen, bald den andern fort. Die Sache verhält sich so. Der Tischbrief behandelt einen Gegenstand, der zwar kurzweilig, aber langwierig ist und sich sehr ausdehnt, den ich aber aus Gründen der Kochkunst nicht unterbrechen darf. Darum habe ich ihn vom Pultbriefe getrennt, und Sie werden ihn einige Tage später erhalten als diesen. Es gibt nämlich einen Härings-Salat. Den Häring habe ich aus Berlin bekommen, und den will ich zwiebeln und zurechtmachen. Einen Artikel im »Literarischen Unterhaltungsblatt«, den der Referendar Häring unter dem Schäfernamen Wilibald Alexis gegen mich geschrieben und von dem ich früher schon gehört, habe ich jetzt erhalten und ihn gelesen. Nun weiß ich wahrhaftig selbst nicht, wie mir in den Sinn gekommen, diesem Männchen zu antworten; aber eine innere Stimme riet mir dazu. Dabei machen mir meine ungeschickten Versuche, die Sprache solcher Gegner nachzuahmen, tausend Spaß. Ich bin an gar keine grobe Arbeit gewöhnt, und meine rechte Hand ist mir wund von dem wenigen Schimpfen. Ich bin dabei eigentlich in einer wunderlichen Lage. Warum ich mich mit solchen unbedeutenden Menschen und auf solche Weise einlasse, darf ich nicht deutlich machen; denn sonst würde ich meine beabsichtigte Wirkung verfehlen. Und doch möchte ich aus Eigenliebe durchschaut und erraten sein. Das setzt[480] mich in Verlegenheit. Härings-Salat, Zwiebeln, Zurechtmachen, Schäfer, Männchen, unbedeutender Mensch – Sie werden sehen, daß mein Wörterbuch von Schimpfwörtern viel reicher werden wird als das von Meyer, von Wurm, von Robert und von Alexis.


Montag, den 23. Januar


Gestern, Sonntag, hat Casimir Périer wieder einen Bubenstreich begangen. An dem Tage, wo die Kirche seines Glaubens geschlossen ist, wo die Börse keinen Gottesdienst hält, vergißt er am leichtesten Gott und sein Gebot und folgt seinen bösen Neigungen. An Börsetagen bedenkt er sich doch noch etwas, die Renten, das zarte, leicht verletzliche Geschöpf, durch allzu rauhes Wesen zu schrecken. Ich kenne kein Land in der Welt, ich kenne keine Zeit in der Geschichte, wo ein Volk unter so schmachvoller Herrschaft gestanden als jetzt das französische. Tausendmal, ja zehntausendmal lieber möchte ich einen Thron unter dem Galgen errichtet sehen, von Henkersknechten bedient und von Raben umschmeichelt, als sehen, wie ein König auf dem Drehstuhle thront, und wie sein erster Minister Glück, Ruhm und Ehre eines großen Volks wie ein Buchhalter unter Soll und Haben bringt. Ich habe mich nie so sehr erniedrigt, vor einem Könige Vivat! zu schreien; nicht, da ich als gedankenloses Kind Kaiser Franz im Krönungszuge gesehen, wo alles schrie; nicht als Napoleon an mir vorüberzog, den ich mit dem Glauben eines Jünglings wie einen Gott anstaunte; aber kehrte morgen Karl X. nach Paris zurück mit seinem alten Herzen und seinem neuen Hasse, mit dem ganzen Gefolge aller seiner Laster, aller seiner Torheiten, umgeben von den Trabanten seiner Rache, – ich, jetzt ein alter Mann, kletterte auf einen Baum und würde, wie ein betrunkener armer Teufel, den die Polizei bezahlt, Vivat schreien,[481] bis ich die Stimme verlöre. Was ist's mit der Tyrannei? Sie macht unglücklich, und das ist alles. Wie der Winter drängt sie Blut und Leben zurück; aber das stille Herz ist dann der Kerker, nicht der Sarg der Freiheit. Aber diese giftige Geldwirtschaft hier trocknet wie der Sirokko alle Adern aus, und könnte sie zehn Jahre fortdauern, würde dann kein Tyrann es der Mühe wert halten, solch ein Volk von Mumien zu unterjochen?

Ich wollte von den Simonisten sprechen, über die man gestern wie über eine Diebsbande hergefallen, aber Sie können das in den Zeitungen lesen, und Sie wissen so gut als ich, was dabei zu denken und zu fühlen ist.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 3, Düsseldorf 1964, S. 480-482.
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