Das Kind der Liebe

Schauspiel von Kotzebue

[379] Schon die Exposition ist prächtig! Wilhelmine, die Tränenweide, steht auf der Landstraße, und zum Behufe der Rührung werden alle mögliche Menschen, Soldaten, Bauern, Bäuerinnen, Jäger, Wirte, Pächter, Juden an ihr vorbeigeführt. Diese armen Leute müssen reisen, um uns zu rühren und selbst gerührt zu werden, oder um nicht gerührt zu werden und uns hierdurch um so mehr zu rühren. Welch erschrecklichen Hunger und Durst hat die arme Frau! Wie rührend ist es, wenn der brave Sohn die Mutter mit Brot und Wein ätzet! Welche Natürlichkeit! Jawohl; doch um die Hälfte des Eintrittpreises könnet ihr im nächstgelegenen Gäßchen noch viel natürlicheren Jammer sehen und auch stillen zugleich. Wie spitalmäßig die kranke Wilhelmine aus einer Ohnmacht[379] in die andere fällt! wie herzbrechend! Ach, jawohl, der große Kotzebue! Warum er nun bei seiner hohen Dichtergabe, der nichts zu hoch war, nicht auch eine Kindbetterinstube dramatisiert hat, vor, während und nach der Geburt, zum Nutzen der Hebammen? Warum er nicht ein Schauspiel geschrieben hat, genannt: Das hitzige Fieber, wo im fünften kritischen Akte der Schweiß ausbricht? So ein dramatisches Klinikum hätte tüchtige Mediziner gebildet ... Die kranke Wilhelmine, was sie schwätzen kann, trotz ihrer Schwäche, es ist zum Erstaunen! Die gesündeste Männerlunge tät' es ihr nicht nach. Fräulein Amalie ist ein Gänschen ohnegleichen. Dem Vater, der sie fragt, ob sie Grillen habe, antwortet sie: »Wenn man die Grillen vertreiben will, so muß man Erbsen mit ein wenig Quecksilber kochen lassen, davon sterben sie!« Dem Pfarrer sagt sie: »Heiraten Sie mich – Sie will ich heiraten.« Aber, würde ein Mädchen im Bauche der Erde erzogen, so weiß es doch, daß sich solche Reden nicht schicken. Und die Tochter eines reichen Edelmanns, welche die Bälle in der Residenz besucht! – – Und der Pfarrer mit seinen langweiligen Predigten, und der Graf von der Mulde! Ist das Natur, daß ein Deutscher von Erziehung, und sei er noch so sehr französischer Affe, und gebrauche er noch so häufig französische Redensarten, sich vornehmen solle, seine Muttersprache wie ein Franzose auszusprechen, und wird er nicht unwillkürlich richtig sprechen müssen? – »Aber es soll ja auch Karikatur sein.« – Wenn auch. Die Karikatur darf quantitativ steigen, aber nicht qualitativ. Shakespeare läßt den Lügner Falstaff prahlen, er habe vierzehn Räuber in die Flucht gejagt; er läßt ihn aber nicht aufschneiden, er sei einer Taube in der Luft nachgeflogen und habe sie beim Flügel erwischt.

Wenn Kotzebue noch ziemlich rüstig erscheint, solange er auf der Ebene des gemeinen Lebens vorschreitet, so[380] wird er doch gleich engbrüstig und verliert den Atem, sobald er nur zwei Schritte zu steigen hat. Schnitzen und drechseln kann er etwas, aber malen nicht im geringsten. Man überdenke nur einmal nachfolgende Stellen aus der sechsten Szene des zweiten Aktes. Der Oberst läßt den Pfarrer rufen: »Oberst: Ohne Umstände, verzeihen Sie, wenn meine Botschaft vielleicht ungelegen kam. Ich will Ihnen mit drei Worten sagen, wovon die Rede ist. – Man hat mir gestern abend eine erbärmliche Übersetzung aus dem Französischen zugeschickt, die vor ohngefähr zwanzig Jahren die Presse verlassen. Ich selbst besitze ein recht niedliches deutsches Original, wovon ich, ohne Ruhm zu melden, der Verfasser bin, und da verlangt man, ich soll meinen Namen ausstreichen und es mit jener schalen Übersetzung zusammenbinden lassen. Nun wollt' ich Sie, Herr Pastor, als Korrektor meines Buchs, einmal fragen, was Sie dazu meinen? Pfarrer: Wirklich, Herr Oberst, die Allegorie versteh' ich nicht. Oberst: Nicht? Hm! hm! das tut mir leid! Ich dachte Wunder, wie klug ich's eingefädelt hätte! Also kurz und gut, Herr Pastor, der junge Graf von der Mulde ist hier und will meine Tochter heiraten.« Nun, um aller Musen willen, wer hätte auch eine solche Allegorie verstehen können! Wenn ein Buchdrucker, Korrektor, ein Buchbinder, ein Originalschriftsteller und ein Übersetzer beisammen im Tollhause wohnen und in der Sprache ihrer Gewerbe faseln, können sie keine verrücktere Allegorie zustande bringen.[381]

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 1, Düsseldorf 1964, S. 379-382,387.
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